von Helmut Höge
aus telegraph 120 | 121
Nachdem die Treuhand ihre Privatisierungsarbeit begonnen hatte, waren die frischgewählten Betriebsräte in der Ex-DDR vor allem damit beschäftigt, die immer wieder neu von oben verfügten Entlassungsquoten sozial verträglich abzufedern, d.h. neu zu selektieren. Dabei konnten sie es höchstens schaffen, daß dieser oder jener Mitarbeiter nicht – dafür aber ein anderer entlassen wurde, der dann in der Regel in einer Beschäftigungsgesellschaft landete.
Der Widerstand der Betriebsräte gegen diese von der Treuhand verfügten und von ihr sogenannten Großflugtage begann im Berliner Glühlampenwerk Narva, wo man – nachdem von 5.000 Leuten 4.000 entlassen worden waren, befürchtete, bald überhaupt nicht mehr produzieren zu können.
Der Widerstand begann jedoch zunächst woanders. Bereits im September 1989 trafen sich fünf DDR-Oppositionelle in Ostberlin und diskutierten über die Frage: »Was wird aus den Betrieben und Gewerkschaften?« Schon bald überschlugen sich die Ereignisse. Die Bürgerbewegten gewannen an Boden, die Wirtschaftsprobleme gerieten dabei immer mehr an den Rand. Eine Gruppe um Renate Hürtgen und ihre Tochter Stefanie – , inzwischen auf zwölf Leute angewachsen, gründete eilig eine »Initiative für unabhängige Gewerkschaften«. In Vorbereitung der Kundgebung am 4. November auf dem Alexanderplatz verfaßten sie einen Redetext, in dem sie – “basisorientiert – dazu aufriefen, unabhängige Gruppen in den Betrieben zu bilden. Damit wandten sie sich über das Maxim-Gorki-Theater an den Arbeitsausschuß zur Vorbereitung des 4. November, der jedoch seine Rednerliste schon voll hatte und überdies nicht am Thema interessiert war. Ein paar Tage später schlichen sie sich selbstbewußt genug, um nicht aufgehalten zu werden in das Theater-Cafe, in dem die Redner saßen, darunter auch Heiner Müller und Stefan Heym. Einem von beiden wollten sie den Aufruf geben. Sie entschieden sich für den bereits deutlich weniger als Stefan Heym von den Ereignissen enthusiasmierten Heiner Müller, der den Text dann auch gleich las und sich sofort bereiterklärte, ihn an Stelle seiner eigenen Rede am 4. November vorzutragen. Eine Passage, die sich kritisch mit der Gewerkschaft beschäftigte (Was hat der FDGB in 40 Jahren für uns entschieden?) kürzte er. Wichtiger für Müller war der im Aufruf thematisierte grundsätzlichere Zusammenhang zwischen Arbeitern und Intellektuellen, der nicht zuletzt aufgrund von Privilegien für die letzteren völlig zerstört worden sei, den es jedoch unbedingt (wieder)herzustellen gelte. Die Rede fiel aus dem Rahmen der allgemeinen Aufbruchsstimmung auf dem Alexanderplatz. Es gab Buhrufe und nur vereinzelt Beifall, als er sagte, die nächsten Jahre werden kein Zuckerschlecken sein, und man brauche jetzt dringend selbstgeschaffene Interessensvertretungen. In einem ND-Artikel wurde Heiner Müllers Rede anschließend als einzige abfällig beurteilt. Er bekam hernach etliche böse Briefe. In einem Artikel in der Tribüne verteidigte er sich später: Die nicht von ihm stammende Rede sei wichtig und richtig gewesen, der FDGB brauche eine wirkliche Konkurrenz. Seine Rede hatte als einzige den Wirtschaftsbereich thematisiert. Wenn er den Aufruf der Initiative für eine unabhängige Gewerkschaft nicht vorgetragen hätte, hätte er irgendetwas aus seinem “Fatzer genommen.
Im Berliner Glühlampenwerk Narva ging es dann dergestalt weiter, daß der parteilose Einrichter in der Abteilung Allgebrauchslampe, Michael Müller, Stefan Heym einlud, vor der Belegschaft eine Rede zu halten. Auch er legte ihnen dann die Notwendigkeit einer innerbetrieblichen Interessensvertretung dar, die eine Reorganisation und damit Rettung des Betriebes mitzutragen hätte. Bei der anschließenden Wahl eines Betriebsrates wurde Michael Müller zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt. Und das blieb er auch, bis zum Schluß, d.h. zuletzt war er Liquidator der letzten Reste der Narva-Umqualifizierungsgesellschaft “Priamos”. (Jetzt ist er Hausmeister des zu computerisierten Büros umgebauten und in Oberbaum-City umbenannten Narva-Objekts.)
Als erstes mußte der neugewählte zwölfköpfige Betriebsrat jedoch gegen die komplette Stillegung des Werkes angehen – zusammen mit der Betriebsleitung. In der Treuhand hatte die von Siemensmanagern dominierte Betriebsbewertungsgruppe Narva auf ihre Abwicklungsliste gesetzt. Nach Protesten stufte der Treuhandchef Detlef Rohwedder den Berliner Renommierbetrieb wieder als sanierungsfähig ein. Nach seinem Tod wurde in der Treuhand jedoch erneut eine reine Immobilienlösung für Narva gesucht und gefunden: in Form dreier übelst beleumdeter Westberliner Investoren, die sich jedoch derart in Lügen und Tricks verwickelten, daß der Betriebsrat nahezu die gesamte Berliner Presse gegen sie mobilisieren konnte. Zusätzlich gab ich im Auftrag des Betriebsrates die zuvor eingestellte Narva-Betriebszeitung Lichtquelle wieder heraus, um die Belegschaft über den Stand der Auseinandersetzungen zu informieren. Der Verkauf an die drei Immobilienspekulanten wurde schließlich von der Treuhand wieder rückgängig gemacht. Unterdes war aus dem Narva-Betriebsrat und einigen mit ihm solidarischen Betriebsräten aus anderen Großbetrieben eine Berliner Betriebsräteinitiative entstanden, die sich bald mit einer ähnlichen Gruppe in Rostock zur ostdeutschen Betriebsräteinitiative verband. Für letztere stellte ich in unregelmäßigen Abständen das Info “Ostwind” zusammen, das einige Male der taz beigelegt wurde. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit der Treuhand versammelte unser Arbeitsausschuß allwöchentlich 40 Betriebsräte aus allen möglichen DDR-Großbetrieben und diskutierte Widerstandsformen gegen die flächendeckende Abwicklung der ostdeutschen Industrie. Wiewohl die meisten Westgewerkschaften diese “basisorientierte Initiative” bekämpften, tagte sie doch stets in Räumen des DGB. Publizistisch begleitet wurde sie primär vom Neuen Deutschland. Und den weitaus klügsten Artikel über die Hintergründe des Arbeitskampfes der Bischofferöder Kali-Bergarbeiter veröffentlichte dann Gregor Gysi im N.D.
Um der PDS dieses Feld nicht allein zu überlassen, gründete auch Walter Momper noch schnell eine Betriebsräteinitiative, die im SPD-Haus tagte. Sie war jedoch nur eine Verdopplung der ersten Initiative – und auf Berlin beschränkt. Hier holte sich dann u.a. Rolf Hochhuth Informationen für sein Wendestück Wessis in Weimar, während meine Darstellung der Kämpfe des Berliner Glühlampenwerks gegen Treuhandanstalt, Siemens und das Elektrokartell IEA in Pully bei Lausanne u.a. von Günter Grass in seinen Wenderoman Ein weites Feld eingearbeitet wurde.
Nach 1993 rekrutierte die PDS etliche Betriebsräte und Aktivisten aus der Initiative als Bundestags-Abgeordnete: Gerhard Jütemann vom Kaliwerk Bischofferode, Hanns-Peter Hartmann vom Batteriewerk BAE/Belfa in Oberschöneweide (als Nachrücker für Stefan Heym), ferner Pastor Willibald Jacob von der Gossner-Mission und den Westberliner Vorsitzenden der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, Manfred Müller.
Das Logo und die Losung auf zwei Transparenten der Betriebsräteinitiative malte uns der Chefdekorateur der DDR-Staatsoper. Der Kontakt zu ihm kam über Konstanze Lindemann zustande: Die Berliner Vorsitzende der IG Medien versuchte später Anfang 1994 auch die Reste der Initiative im Rahmen ihrer Gewerkschaft noch eine Zeitlang zusammenzuhalten. Zuvor beteiligte sie sich aktiv am Arbeitskampf der Bischofferöder, weswegen diese umgekehrt der Betriebsräteinitiative Ende 1993 14.000 DM aus ihrem Solidaritätsfonds zukommen ließen. Und später noch einmal 400 DM, um den Bürgermeister von Guernica nach Berlin zu einer IG Medien-Ausstellung über den spanischen Bürgerkrieg einladen zu können. Im Hintergrund half auch immer wieder die »Stiftung Menschenwürde und Arbeitsplatz«, die der ehemalige BMW-Betriebsrat Bernd Vollmer mit einer Erbschaft ins Leben gerufen hatte. Dazu gehört noch der FU-Politologe Bodo Zeuner. Zuerst finanzierte ihre Stiftung einen Betriebsrätekongreß und zuletzt ein Buch über DDR-Industriepfarrer”, das Willibald Jacob initiiert hatte.
Motor der ostdeutschen Betriebsräteinitiative war der maoistische Münchner Historiker Martin Clemens, der mit einer ganz wunderbaren japanischen Gynäkologin verheiratet ist, die unsere Ausschußsitzungen stets mit kleinen handgeschnitzten Gemüse- und Obst-Stücken sowie Reisbällchen versorgte, beim Belfa-Hungerstreik leistete sie medizinischen Beistand. Mit Überschreiten des Höhepunkts der Betriebsräte-Mobilisierung gegen die Treuhand-Politik gerieten Martin Clemens Aktivitäten jedoch zunehmend zur Revolutionsmechanik, d.h. sie wurden derart unpersönlich, daß die Betriebsräte ihn sowie ein paar andere intellektuelle Sympathisanten schließlich ausschlossen. Zusammen mit der o.e. Initiative für unabhängige Gewerkschaften, die sich inzwischen mit einigen Grünen zu einer Initiative kritischer GewerkschafterInnen umformiert hatte, gründeten diese daraufhin eine zweite Betriebsräteinitiative im Weddinger DGB-Jugendhaus, wo sie dann ihrerseits Jakob Moneta und mich, die wir von der ersten Initiative dorthingeschickt worden waren, ausschlossen. Jakob Moneta meinte mich auf dem Flur anschließend trösten zu müssen: Nimm es nicht so schwer, ich bin schon aus meinem Kibbuz, aus der IG Metall und aus der SPD ausgeschlossen worden!“ Mittlerweile ist der alte trotzkistische Diamantenschleifer auch aus dem PDS-Vorstand wieder ausgetreten. Die Betriebsräteinitiative führte etliche Demonstrationen (u. a. eine nach Bonn) durch, sowie drei große Konferenzen (sie wurden von Martin Clemens alle fein säuberlich, mit Pressespiegel usw., dokumentiert). Auf der 2. Konferenz 1992, die im ehemaligen WF-Kulturhaus in Oberschöneweide stattfand, das inzwischen ein kurdisches Kulturzentrum geworden war, sprach Jakob Moneta über das bisher Erreichte, wobei er von einer Gewerkschaftstags-Rede des IGMetall-Vorsitzenden Steinkühler ausging, in der dieser die ostdeutsche Betriebsräteinitiative kritisiert hatte: Nachdem Steinkühler uns erst einmal eine ganze Reihe von Komplimenten gemacht hatte, meinte er, daß er es durchaus versteht, wie unsere Lage ist, daß er versteht, daß man sich wehrt und sich zusammenschließt, aber er meinte, das könne man doch alles auch unter dem Dach der Gewerkschaft tun. Unter dem Dach der IG Metall. Da liegt meiner Ansicht nach der Hauptfehler, zu glauben, daß man in einer einzelnen Gewerkschaft das leisten kann, was wir eben im Ansatz geleistet haben. Daß wir praktisch Schluß gemacht haben damit, daß jeder Betrieb und jede Branche für sich allein stirbt, und daß wir stattdessen versuchen, gemeinsam dagegen anzukämpfen. Nun möchte ich aber doch noch einmal zurückkommen auf die Frage, was ist dabei bisher herausgekommen? Darauf haben wir keine klare Antwort gegeben. Ich meine, das Entscheidende dabei war das gewachsene Selbstbewußtsein der Menschen, die selber für ihre Sache einstehen. Das ist nicht nur Theorie. Ich will aus dem Bericht, den der Spiegel gebracht hat, von unserer Bonn-Fahrt und dem Besuch bei der CDU, folgendes vortragen: Dort gab es ja den Herrn Grünewald, den Staatssekretär in Waigels Finanzministerium, der begann die Treuhand zu verteidigen. Er sagte: Wo gehobelt wird, da fallen Späne, und behauptete schließlich, daß kein einziger Betrieb in der ehemaligen DDR plattgemacht worden sei, solange Aussicht auf Sanierung bestanden hat. Und da brach ein Tumult los. Es war eine CDU-Betriebsrätin, die ins Saalmikrophon rief. Ich bin nicht bereit, mir weiter diese Unverschämtheiten anzuhören! Daraufhin erhielt sie donnernden Applaus. Ein anderer, der sich ebenfalls als CDU-Betriebsrat vorstellte, sagte: Herr Staatssekretär, ich möchte Sie herzlich bitten, uns nicht weiter zu provozieren!’ Und ein dritter sagte: ‘Die Revolution vom Herbst 89 ist unblutig verlaufen, das kann jetzt noch anders werden.
Das Selbstbewußtsein der bis Ende 89 zumeist unpolitische Arbeiter bzw. Ingenieure gewesenen Betriebsräte in der Initiative speiste sich vor allem aus ihrer gewählten Funktion als verantwortungsbewußte Sprecher ihrer Belegschaft, aber auch als die eigentlich und einzig legitimierten Geschäftsführer ihrer Betriebe. Sprachmächtigkeit gewannen sie bei ihren vielen öffentlichen Auftritten, sowie aus dem Erfahrungsaustausch auf den wöchentlich stattfindenden
Initiativ-Diskussionen, denen Schilderungen über den Stand der Dinge in den Betrieben (meist die Privatisierung und die Sozialauswahl beim Arbeitsplatzabbau betreffend) vorausgingen. Oft wurden dazu Gewerkschafter und Arbeitsrechtler eingeladen, die z. B.. über ein regionales Wirtschaftskonzept (in und um Finsterwalde etwa) oder über die “Durchgriffshaftung bei Konzernen” referierten, aber auch konkrete Informationen beschafften: z. B. über den für Treuhand und IG Metall zugleich tätig gewordenen schwäbischen Anwalt Jörg Stein, der fast alle in Ostdeutschland an den Treuhand-Großflugtagen Entlassenen in seinen Beschäftigungsgesellschaften zwischenparkte: allein in Sachsen über 20.000.
Später übernahm Jörg Stein auch noch den größten Teil der Bremer Vulkan-Belegschaft in eine extra dafür erworbene Parkraumbewirtschaftungs-Firma “MyPegasus”. Sein Job-Beschaffungsprogramm funktionierte nach Art eines Piloten-Spiels.
Der für viele Betriebsräte neue Einstieg in wirtschaftliche Details und Probleme unter dem Gesichtspunkt ihrer Mitbeeinflussung gewann jedoch – bedingt durch die notwendige ständige Abwehr von Treuhand-Initiativen in ihren Betrieben – keine Systematik. Das verhinderten nicht zuletzt auch die permanent auf Kampf-Aktionen drängenden intellektuellen Sympathisanten, für die ein Betrieb bzw. eine Belegschaft erst dann interessant wurde, wenn sie sich so gut wie im Ausstand befand. Martin Clemens entfaltete in solchen Fällen stets eine derart beeindruckend-umsichtige Aktivität, daß ihn z.B. die Belegschaft des Batteriewerks Belfa mehrmals darum bat, Durchhaltereden in der Kantine zu halten, als sie einen Hungerstreik gegen ihre endgültige Treuhand-Abwicklung organisierte. Auch wir anderen aus der Betriebsräteinitiative unterstützten Belfa: beim Transparente-Malen und -Aufhängen und bei ihrer Pressearbeit etwa, aber nur Martin Clemens zündende Worte (Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren! etwa) verwischten den Gegensatz von wir (die Unterstützer) und ihr (die im Betrieb Beschäftigten, die im Falle einer Niederlage ihre Entlassung riskierten). Die Initiative machte danach einfach weiter und unterstützte z.B. die nächste Belegschaft in ihrem Kampf. Das war dann in Bischofferode, wo die Kali-Kumpel ebenfalls einen Hungerstreik begonnen hatten, nachdem der Kali-Kartellexperte der Bremer Universität Peter Arnold ein Flugblatt über die bevorstehende Schließung ihrer Grube und die Markt-Gründe dafür am Werkstor verteilt hatte. Dort waren dann große Teile der Betriebsräteinitiative so engagiert, daß es schon fast einen regelrechten PKW-Shuttle von Berlin aus gab. Einige beteiligten sich sogar am Hungerstreik: Pfarrer Harald Meslin von der Gossner-Mission und Klaus Wolfram vom Basisdruck-Verlag beispielsweise.
Der in der Zwischenzeit entlassene Belfa-Betriebsratsvorsitzende Hanns-Peter Hartmann hielt auf dem Bischofferöder Aktionstag eine Rede, in der er einige Lehren aus “seinem” Hungerstreik zog, der nach einer Spaltung seiner Belegschaft nur noch halb gewonnen werden konnte.
Durch Martin Clemens’ Engagement im Kaliwerk und sein Einwirken auf den Betriebsrat kam es zu einem Konflikt dort. Der später zurückgetretene Betriebsratsvorsitzende Heiner Brodhun hängte am 27. August 1993 eine Erklärung an das Schwarze Brett, in der er seine zuvor öffentlich geäußerte Distanzierung von Hobbyterroristen noch einmal präzisierte: Gemeint waren damit Leute, die unseren Arbeitskampf für ihre parteipolitischen Zweck mißbrauchen wollen: Rechtsextreme haben versucht, Bischofferode zu ihrem Tummelplatz zu machen, Marxisten-Leninisten haben ihren privaten Krieg gegen die PDS geführt, und als mir ein Vertreter der ostdeutschen Betriebsratsinitiative in einer Sitzung Verrat an den Kollegen vorgeworfen hatte, da ist mir der Geduldsfaden gerissen.
In einem ZDF-Interview hatte Heiner Brodhun dazu bereits ausgeführt: “… Eindeutig wurde hier versucht, innerhalb des Betriebsrates einen Keil reinzutreiben.
ZDF: Kann es sein, daß diese Leute aus irgendeinem Kartell kommen?
Brodhun: Das bezweifle ich.
ZDF: In welchem Niemandsland sind diese Leute denn vorzufinden?
Brodhun: Niemandsland insoweit, wie ich auch gesagt habe, die woanders eine Revolution verloren haben und hier versuchen, diese fortzuführen.
ZDF: Wo haben sie denn eine Revolution verloren?
Brodhun: Oder ihre Revolution nicht gewonnen haben, zum Beispiel in anderen Betrieben, wo sie aufgetreten sind und nicht zum Ziel gekommen sind. Denn, bevor man solche Äußerungen macht, erkundigt man sich. Und
das habe ich auch getan.
(Anmerkung von Martin Celmens: Mit den anderen Betrieben meint Heiner Brodhun wohl Belfa.)
Durch Vermittlung von Konstanze Lindemann und dem damaligen Betriebsratsvorsitzenden der Deutschen Seereederei, Eberhard Wagner, gelang es dann, den Bischofferöder Betriebsrat wieder mit der Berliner Initiative zu versöhnen, nachdem auch der Sprecherrat (der Hungerstreikenden), von dem der Verratsvorwurf zuerst gekommen war, den Betriebsratsvorsitzenden dazu gedrängt hatte, seine halbe Kapitulationserklärung gegenüber der Geschäftsleitung zurückzunehmen.
Heiner Brodhun verfaßte dann sogar zusammen mit Martin Clemens einen gemeinsamen Text: Nach einem offenen und freundschaftlichen Gespräch teilen wir mit, daß die Vorwürfe (Hobbyterrorist u.dgl.) vom Tisch sind. Die Sache ist vorbei. jetzt gilt es nach vorne zu schauen, damit der Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze in Bischofferode und anderswo gewonnen wird.
Damit aber genau das nicht passierte, bekamen z. B. gleich im Anschluß an die Bischofferöder Arbeitskämpfe etliche West-68er, die Anstellungen in ostdeutschen Universitäten gefunden hatten, üppige Drittmittel aus Westdeutschland für ihre Transformationsforschung, in der sie ohne Hemmungen sogar konkrete Handlungsanleitungen für die Politik in Form von Aufruhrpräventions-Konzepten bei Betriebsschließungen lieferten. Dies berichtete uns der Leipziger Philosoph Peer Pasternak, der wiederum seine Doktorarbeit über diese “Transformationsforscher” schrieb, auf einer Veranstaltung des Berliner ABM-Netzwerks Wissenschaft.
Auch weite Teile der Westpresse, bis hin zur taz, hatten nur Verachtung für die dumpf-proletarischen Giftdünger-Produzenten im Eichsfeld übrig. Gleichzeitig pilgerten jedoch immer mehr Bergarbeiter von Rhein und Ruhr, arbeitslos oder krankgeschrieben, mit Solidaritätsspenden nach Bischofferode. Ein Teil davon wurde wie bereits erwähnt später an die Berliner Betriebsräteinitiative weitergeleitet zur Unterstützung ihrer Ostwind-Redaktion. Und bis heute fühlen viele von uns sich mit den Aktivisten aus Bischofferode freundschaftlich verbunden, und verbringen z.B. ihren Urlaub im Eichsfeld, der sich dort locker mit Recherchen und Gesprächen über den Stand der Dinge verknüpfen läßt. Auch zu anderen Betrieben bzw. Betriebsräten, von denen jetzt viele Geschäftsführer sogenannter Beschäftigungsgesellschaften geworden sind, ist der Faden nie ganz gerissen: erwähnt seien Orwo, Otis, das Werk für Fernsehelektronik, das Frankfurter Halbleiterwerk, die DSR, Gerhard Lux vom AEG-Werk Marienfelde und Ulrike Ahl vom Narva-Sozialkombinat »Brücke«. In Bischofferode ist vor allem die Pastorin Christine Haas noch aktiv: Mit einigen Eichsfelder Bürgerinitiativen zusammen versucht sie, die Umwidmung stillgelegter Kalischächte in gefährliche Sondermüll-Deponien zu verhindern. Brodhuns Nachfolger Gerd Jütemann ist zwar inzwischen PDS-Abgeordneter in Bonn geworden, er hält sich aber nach wie vor über den Bischofferöder Tauben- und den Angelverein etwa auf dem laufenden, z.B. was die einst von der Landesregierung
versprochenen Ersatz-Arbeitsplätze betrifft. Mit seinem Nachfolger Walter Ertmer zusammen erwarb er überdies vor einiger Zeit die Poliklinik des Kaliwerks, die zum neuen Domizil der jetzt bereits fast betriebsratslosen und mehrheitlich schon arbeitslosen Kalikumpel umgebaut wird.
Martin Clemens bisweilen allzu kompromißloses kaltes Überengagement korrespondierte merkwürdigerweise mit der allzu distanzierten Analytik eines FU-Soziologen: Martin Jander, die Ende September 1993 ebenfalls zu seinem Ausschluß aus der Betriebsräteinitiative als teilnehmender Beobachter führte: In der westdeutschen Gewerkschafts-Oppositionszeitung links hatte er einen längeren Artikel über die bisherige Arbeit der Initiative veröffentlicht, in dem es u. a. hieß: Erkennbar hohe Spenden für die Initiative stammen von der PDS und anderen Parteien. Außerdem wird mit abnehmender Bedeutung der Initiative die mediale Präsentation fast ausschließlich vom Neuen Deutschland gewährleistet. Sie werde dadurch immer mehr in eine Teilgruppe der Komitees für Gerechtigkeit verwandelt. Dem versuche einzig der Bündnis 90/Grüne-Sprecher Eberhard Wagner gegenzusteuern, der ihren Arbeitsausschuß stärken und das Instrument Initiative wieder zu einer Initiative von Betriebsräten machen will. Wie eine eigene Zeitung dann finanziert werden soll, wer in ihr schreibt, wer das Sekretariat führt etc., das alles hat die Dritte Betriebsrätekonferenz offengelassen. Diese Fragen werden damit wohl nicht-öffentlich zwischen PDS und Bündnis 90/Grüne entschieden.
In der Arbeiterbewegung kreist man anscheinend unausweichlich wenn abstrakte Gesellschaftsanalyse politisch-konkret “zugespitzt” werden soll oder umgekehrt um Verschwörung und Verrat
Meiner etwas genaueren Erinnerung nach hatte die Initiative eigentlich nie Geld. Mehrere Ostwind-Ausgaben, die jeweils für ca. 3.000 DM bei der taz
gedruckt und ihr an einem Tag beigelegt wurden, finanzierten wir über einige Treuhand-Großbetriebe indem die betreffenden Betriebsräte kurzerhand Anzeigen über lhre Marketing-Abteilungen besorgten. Das für mich merkwürdigste Geld-Problem entstand einmal bei der Anmietung einer Kongreßhalle (für 4.000 DM): Als es darum ging, wer aus der Initiative am nächsten Tag den Mietvertrag dafür unterschreiben sollte, breitete sich peinliches Schweigen unter den etwa zwanzig anwesenden Betriebsräten aus. Ohne dem näher auf den Grund zu gehen, erklärte ich mich rasch zu der albernen Unterschrift bereit mit der Bemerkung: Ihr werdet mich ja wohl nicht hängenlassen! Wovon ich überzeugt war und bin.
Der FU-Soziologe Martin Jander schreibt weiter: Der aktionistische Anti-Treuhand-Protest der Initiative transportiere undemokratische und antihumanitäre Parolen: So hing z.B. auf dem Kongreß ein riesiges Transparent an der Wand: ‘Wer von der Treuhand nicht reden will, der soll von Rostock schweigen!’ Keiner der Anwesenden protestierte gegen diese glatte Rechtfertigung des Pogroms in Rostock. Verzweifelte Avantgarden ohne Massen und hilflose Betriebsräte scheuen sich offenbar nicht, mit Pogromen zu drohen.
Das Transparent wurde von mir für eine Demonstration der Betriebsräteinitiative gegen die Treuhand-Politik bereits im Dezember 1992 angefertigt, und keiner aus der Initiative sah etwas Verwerfliches in diesem abgewandelten Horkheimer-Zitat, das original in etwa lautete:
»Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der soll vom Faschismus schweigen“.
Helmut Höge ist Autor, Hausmeister und Journalist, er lebt in Berlin.
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