FÜNFJAHRPLAN / CHRONOKLASMUS PRENZLAUERBERGIENSIS / NAHVERKEHR

von Bert Papenfuß
aus telegraph 120 | 121

FÜNFJAHRPLAN
zur Bewältigung der Lehre und der Sache
mit dem Ziel der Auflösung des Heeres
und dem Aufbau der Volksweltraumflotte

1. Angelernte

Sans solei der Einäugige
am Born der Lubrikation.
Auf Schlupf folgt Schwall,
das Ende allen Wassers1.

Die Wölfin der Gischt,
als sie Grund gefaßt,
trug den Dengler des Rohrs
ins Dorthinaus des Moors.2

Erst eingebildet, dann ausgebildet,
lernen wir weiter und ernten Fagin.
Aber da sind noch Haken
im feuchten Laken drin.

2. Lustration

„Das ungestreifte Rohr sich abzustreifen!“3
Das volle Rohr! Die totale Lubrikation!
Hintenrum, Lysistrata,
stagniert die Tschistka4.

Lehre und Sache ficken einander,
werden aneinander gerecht:
Jaucht, gauckt und saugt,
geußt, seufzt und sauft.

Nicht mehr5 – heißt auch nicht weniger,
die Lehre ist die Sache nicht, zuinnerst
verheerend; womit der Schwanz
selbst in den Schwanz sich bisse.

3. Brisingamen

Niedergeschlagene Heerscharen,
von verzweifelten Frauen getrennt,
spreizen ihre Flügel
unter dem Herbstlaub6,

ritzen den Blutaar, nehmen sich wahr
und Rache an sich selbst für nichts.
Steuern die erste Gondel
in den Hauptgürtel rein.

Was ineinander fällt, bricht auf in die Welt,
in den Raum, die Zeit und die letzte Biege.
Mit Votzenschaum jeschmiert un’ Fickpisse
jespült – „wat’n Jefühl mitten in’ Jewühl“.

1 Aqualusio
2 Frei nach Beowulf, Vers 1506 f.: bær þa seo brimwylf þa heo to botme com / hringa þengel to hofe sinum. Felix Genzmer übersetzte: „Zur Halle hin trug die Haffwölfin / den Brecher der Ringe, als er den Boden erreicht.“ Karl Simrock: „Die Seewölfin brachte, als sie den Boden fand, / Zu ihrer Halle hin den Helden im Kriegsgewand,“. Martin Lehnert: „Es trug dann die Wölfin des Meeres, als sie auf den Wassergrund gelangt war, / Den Herrn der Ringe zu ihrer Behausung hin,“. Hugo Gering, bearbeitet von Benjamin Slade: „Da schleppte die Wölfin des Wassers zur Höhle, / Als er Boden gefaßt, den Brecher der Ringe;“.
3 Aus: Lysistrata. Ein Lustspiel des Aristophanes. Aus dem Griechischen verdeutscht von D. August Christian Borheck [verl.] bei Heinrich Rommerskirchen, Köln, 1806, S. 50. – „Eine zweite Frau (kommt und will fort.) / Ich arme! ach! ich arme! ach! mein Rohr! / Das ich unabgestreift zu Hause ließ! // Lysistrata (hält sie an.) / Schon eine zweite will heraus / Das ungestreifte Rohr sich abzustreifen! / Nur wieder hier hinein!“
4 Lustration ist ein Modewort für die Überprüfung von Schranzen, Bonzen und Bütteln auf etwaige Zusammenarbeit mit sog. „kommunistischen“ Sicherheits- und Geheimdiensten. Mittlerweile sind die Betreffenden und Betroffenen über ihre Lebensmitte hinaus; man kann schließlich nicht rund um die Uhr gaucken, birthlern und poppen. Der Begriff Lustration geht auf lat. lustrum zurück und bedeutet in erster Linie (laut: Lateinisch-Deutsches Taschenwörterbuch zu den klassischen und ausgewählten spät- und mittellateinischen Autoren auf Grund des Schulwörterbuches von F. A. Heinichen. VEB Verlag Enzyklopädie, Leipzig, 1974): Morast, Wildlager, Bordell; in zweiter: Sühnopfer, Sühneperiode, Jahrfünft [weil die von den altrömischen Censoren durchgeführte Steuereinschätzung und Musterung der Bürger (Census) alle fünf Jahre durchgeführt wurde, anschließend wurden Opfertiere um das zwangsversammelte Volk herum geführt und dem Kriegsgott Mars geopfert]. Das Verb lustro heißt einerseits beleuchten, erhellen; andererseits reinigen, sühnen, weihen; lustror hinwiederum: huren. Was spricht Bände, stürzt auch Wände.
5 Die Lustration dient schließlich vordergründig einer ominösen Debolschewisierung, die ich im Einklang mit der Mutter der Ordnung begrüßen würde – und zwar mit links –, wenn sie denn nicht mit der Menschewisierung des Abschaums einherginge, der schon immer Krieg wollte, um Vormacht zu behaupten.
6 Frei nach Changing of the Guards von Bob Dylan (auf: Street-Legal, 1978): Desperate men, desperate women divided, / Spreading their wings ’neath the falling leaves.

Chronoklasmus prenzlauerbergiensis

Die Zukunft wirft ihre Schatten voraus1 und wetzt die Scharten aus.
Die Gegenwart ist genauso platt wie die Vergangenheit. – Am Rande
des Todes herrscht Unsterblichkeit. Hinter Freude verbirgt sich Trauer
und grimme Suche nach Ausweg. Wo aber gibt es Entspannung? Schwer

ist es, die Natur zu hassen; mit einem Zeitbeben kann man nicht von Mann
zu Mann kämpfen.2 Durch die Bullaugen starrt die erzürnte Kultur, wir starren
betroffen zurück.3 Das also bedeutet es, Künstler, Auge der Menschheit zu sein.4
Nein, ich bin nicht von meinesgleichen. Mein Geschlecht ist nicht von dieser Welt.

Je größer der Freundeskreis ist, umso wahrscheinlicher ist der Verlust.5
Wenn die Gegenwart erlischt, gewinnen wir die Ewigkeit.6 Zeit ist das Maß
der Geschwindigkeit der Veränderung7, die Elle der Verwunschenheit des Bebens.
Jede Zeit ist Vergangenheit. Eine Prise Leichtsinn ist nützlicher als jegliche Vernunft.8

Alles ist erträglich, wenn der Schmerz zurückkehrt.9 Ein Zeitriß
ist nichts als ein Energieausbruch10, und umgekehrt sowieso.

1 Folgendes nach Auszügen aus der bescheuerten Erzählung Die Wüste des Lebens des sowjetischen wissenschaftlichen Phantasten Bilenkin. In: Dmitri Bilenkin. Die unsichtbare Waffe. Phantastische Erzählungen. Aus dem Russischen von Helga Gutsche. Verlag Volk und Welt, Berlin, 1987. Siehe S. 41 dieser Ausgabe.
2 Ebd., S. 45
3 Ebd., S 46 f.
4 Ebd., S 48
5 Ebd., S. 65
6 Ebd., S. 76
7 Ebd., S. 85
8 Ebd., S. 67
9 Ebd., S. 61
10 Ebd., S. 148

Nahverkehr

Wer eilig tut, macht sich wichtig, weil er in dem von ihm geschmierten Getriebe der letzte Arsch ist. Erniedrigte und Beleidigte, Unterdrückte und Ausgebeutete, zu Hartz IV und ALG II Verdammte fahren Rad, weil sie die Fahrpreise der Volksschleudern nicht zahlen können. Das ist schlimm genug; wenigstens sie könnten auf die Idee kommen, dafür zu sorgen, daß die Fahrt frei ist. Von den Schnöseln, die denken, das Strampeln durch die Abgase und das aufgeheizte Miasma ihrer Verhaßtheit sei gesund, kann man nicht erwarten, daß sie auf einen Gedanken kommen. Wenigstens riskieren sie ihr Leben. Geschenkt, der Nahverkehrstod hat das Kalkül der Klassengesellschaft, und ist somit Mord – gegenseitiger Mord im Interesse der herrschenden Schnorrer. Solange sogenannte mündige Wähler an Autos glauben, stagniert das Blech auf den Straßen. Sorgt dafür, daß der Schrott von der Straße kommt, und fahrt dort Rad. Nur ein geklautes Fahrrad ist ein gutes Fahrrad. Diebstahl verpflichtet! Allein die Haltung der Pedalentreter ist ein Anblick des Grauens: Nach oben buckeln, nach unten treten und zwischendrin das Kacken verkneifen. Probiert’s mal mit dem aufrechten Gang!

Aber man kommt ja nirgendwo lang: Dreikäsehohe Zusamm’rottungen internationaler Konsumentenhorden blockieren die Trottoirs, schreien die Meilen entlang nach Amüsemang und machen sich zum Gespött. Und wenn die gerade im Internetcafé oder im Puff sind, stehen die greisen Mütter mit ihren protzigen Kinderwagen im Weg – tratschend über Sonderangebote in den Biokosmetikläden. Ein Gehweg ist kein Stehweg. Kommt in die Gänge! Fettärschige Staatsbürgerinnen mit ihren Frauenverstehern im Schlepptau huldigen dem Volkssport, indem sie ihre Brut mit der gnadenlosen Rücksichtslosigkeit des erfüllten Vermehrungsauftrages durch die Kaufhallen karjolen. Früher wurden die Blagen vor der Kaufhalle angeleint, und komischerweise nicht geklaut – wohl weil alle selbst genug davon hatten. Aber damals wurden Gören auch nicht als Wertanlage und Prestigeobjekt begriffen, sondern als Nachwuchs, mit dem man nicht rumaast.

Es gibt kein blühendes Leben in einer falschen Gesellschaft. Freiraum muß man sich erkämpfen. Köter, Öler, Wachteln und Bullen haben auf meinen Wegen nichts zu suchen, weil sie hier nichts verloren haben. Warum nicht? Darum! Abschaum bedarf keiner Begründung. Schickt eure Gören auf die Kriegsschauplätze, am besten auf Fahrrädern, und mit ihren Kötern. Streicht mit dem Tapferkeitsorden der Todeswilligen auch gleich die Abwrackprämie ein. Jeder überfahrene oder erfrorene Penner ist ermordet worden. Jeder gefallene Soldat ist ein toter Mörder. Freundlich sei das Feuer. Sucht euch die Fakten aus Statistiken zusamm’, dies hier ist jedenfalls der Zusammenhang: „Krieg ist ein Mittel, den Willen des Feindes zu brechen. Liebe ist ein Mittel des Krieges. Ein Liebes-Krieg bricht den Willen des Feindes durch Verlangen. In einem Liebes-Krieg ist der Feind dann besiegt, wenn sein Verlangen, vom Gegner geliebt zu werden, größer ist als seine Angst vor den Konsequenzen einer Niederlage.“1

Ins Feld, Kameradinnen, ins Feld!

1 Aus: Norman Spinrad. Das entropische Multifick Endzeitpanorama. In: Joachim Körber (Hg. u. Übers.). NEUE WELTEN. Eine Anthologie moderner spekulativer Literatur. Sphinx-Verlag, Basel, 1983, S. 169.

Bert Papenfuß wurde 1956 in Reuterstadt Stavenhagen geboren. Seit 1980 Schriftsteller in Berlin. Ab 1994 Mitherausgeber der kulturpolitischen Zeitschrift Sklaven, ab 1998 Sklaven Aufstand, seit 1999 Gegner. Zahlreiche Buchveröffentlichungen seit 1985.

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