Helvetische Mythen. Wie der private Sozialstaat verklärt wird

von Peter Streckeisen
aus telegraph 120 | 121

Oft wird die Schweiz als Land betrachtet, in dem Milch und Honig (oder zumindest Schokolade) grosszügig fliessen. Die im internationalen Vergleich hohen Löhne scheinen diese Sicht der Dinge zu stützen – allerdings sind auch die Lebenskosten sehr hoch, so dass die schweizerischen Einkommen kaufkraftbereinigt unter dem Niveau anderer westeuropäischer Staaten liegen. Nicht selten wird auch der schweizerische Sozialstaat als Vorbild gepriesen. Oft wissen die Lobpreisenden jedoch nicht allzu genau Bescheid, wie besagter Sozialstaat funktioniert – oder sie verschweigen bewusst den einen oder anderen Aspekt, der nicht ins gewünschte Bild passt. Zwei Beispiele für diese „Vorbildfunktion der Schweiz“ betreffen die Alters- und Krankenversicherung. So hat die Regierung von Kanzler Gerhard Schröder (1998-2005) versucht, mit der so genannten Riester-Rente neben der öffentlichen Altersvorsorge, bei der die Leistungen gekürzt werden, private Vorsorgeformen zu propagieren. Auch in Frankreich wurden mit dem Plan d’Epargne Salariale Volontaire (freiwilliges Sparen durch Lohnabzüge) und der so genannten Loi Fillon von 2003 Elemente eingeführt, die eine Annäherung an das schweizerische Modell suchen, in dem es neben der öffentlichen Altersvorsorge (AHV), die als erste Säule bezeichnet wird, eine zweite (Alterssparen im Pensionskassensystem) und dritte Säule (individuelles Alterssparen mit Steuervergünstigungen) gibt. In der Krankenversicherung hat die zweite Merkel-Regierung angekündigt, die Einführung einer Kopfprämienfinanzierung wie in der Schweiz zu prüfen. Und die Pläne von US-Präsident Obamas Health Care Reform orientieren sich nicht unwesentlich am helvetischen Modell, wie Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman in der New York Times festgehalten hat.1
Ich werde durch die kritische Besprechung des Buchs von Julia Moser über den Schweizerischen Wohlfahrtsstaat2 versuchen herauszustellen, welche Besonderheiten die sozialstaatliche Entwicklung in der Schweiz tatsächlich auszeichnen. Dabei werden einige der üblichen helvetischen Mythen ins Wanken geraten. So lässt sich denn auch besser verstehen, weshalb der schweizerische Sozialstaat im Ausland viel beliebter zu sein scheint als zu Hause: In der Schweiz haben seit den krisenhaften Einbrüchen an den Finanzmärkten seit Beginn des neuen Jahrtausends die Zweifel an einer über Finanzanlagen organisierten Altersvorsorge (zweite und dritte Säule) zugenommen, und der Unmut über eine Krankenversicherung, die bei steigenden Prämien immer mehr Kosten auf die Versicherten abwälzt, ist deutlich spürbar. Doch bevor ich zur Besprechung des erwähnten Buchs komme, möchte ich eine Anekdote von meinem letzten Aufenthalt in Berlin schildern.

Überraschung in Berlin
Im Oktober 2008 nahm ich am dritten deutschsprachigen Grundeinkommenskongress an der Humboldt-Universität zu Berlin teil. Im Foyer hatten die OrganisatorInnen verschiedene Stellwände zur Diskussion über das bedingungslose Grundeinkommen eingerichtet. Da gab es Informationen über Länder, die bereits entsprechende Ansätze eingeführt hätten. Und siehe da – der Schweiz war auch eine Stellwand gewidmet! Doch wie ist es möglich, dass im Land von Calvin und Zwingli, in dem das (kapitalistische) Arbeitsethos so hoch gehalten wird wie kaum anderswo auf der Welt, ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt wird, d.h. eine Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Einkommen?
Bei genauerem Hinsehen löste sich das Rätsel rasch auf. Die Rede war in Wirklichkeit von der Altersvorsorge in der Schweiz. „JedeR WohnbürgerIn hat gegenüber der Altersversicherung unabhängig von gezahlten Beiträgen Anspruch auf eine Mindestrente. Mit 1›400 Franken liegt sie unter dem Sozialhilfeniveau. Recht einfach zu bekommen ist eine Aufstockungsleistung. Man müsste diese Leistung bedingungslos stellen und hätte ein Grundeinkommen für Alte. Eine schrittweise Senkung des Eintrittsalters würde die Leistung verallgemeinern“ – so der Text der Stellwand. Dazu muss Folgendes präzisiert werden. Die schweizerische Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) bezahlt nur Renten an Personen, die Beiträge geleistet haben. Die „minimale Vollrente“ beträgt nicht 1›400, sondern 1›105 Franken. Vollrenten werden nur an Personen ausbezahlt, die während der gesamten Dauer des erwerbsfähigen Alters Beiträge einbezahlt haben (auch nicht erwerbstätige Personen sind versichert und zahlen Beiträge). Die „maximale Vollrente“ beträgt 2›210 Franken, das liegt etwa an der offiziellen Armutsgrenze in der Schweiz. Die Höhe der AHV-Renten ist abhängig vom Erwerbseinkommen, auch wenn durch die Begrenzung des Verhältnisses der minimalen zur maximalen Vollrente auf 1:2 eine solidarische Umverteilung stattfindet – denn die einbezahlten Beiträge gehen natürlich weit stärker auseinander. Bei der genannten Aufstockungsleistung handelt es sich um die Ergänzungsleistungen zur AHV (EL), ein sozialhilfeähnliches Regime, in dem jeder Leistungsanspruch nach individueller Bedürftigkeit geprüft wird. Es gibt in der Schweiz keine Diskussion darüber, die EL bedingungslos zu stellen. Genau so wenig ist eine Senkung des AHV-Rentenalters in Sicht – Wirtschaftsverbände und Regierungsparteien wollen es vielmehr erhöhen (für Frauen wurde es gerade von 62 auf 64 erhöht). Mit der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in der Schweiz hat das alles kaum etwas zu tun.

Gegen den Strom?
Vor dem Hintergrund der weit verbreiteten Unkenntnis über die Realitäten des schweizerischen Sozialstaats ist es grundsätzlich erfreulich, dass ein wichtiger deutscher Verlag (Campus) mit der Studie von Julia Moser eine umfassende Abhandlung zum Thema veröffentlicht hat. Leider verfliegt die Freude beim Lesen, denn es stellt sich heraus, dass die Autorin selbst helvetische Mythen verbreitet, statt solche zu hinterfragen. Ihr Buch trägt die These vor, die Entwicklung des schweizerischen Sozialstaats zwischen 1975 und 2005 sei durch einen Ausbau sozialer Leistungen und Rechte geprägt, und die Schweiz sei im internationalen Vergleich „gegen den Strom“ des neoliberalen Sozialabbaus geschwommen. Ein erster Zweifel ist nur schon angebracht, weil die einschlägigen internationalen Institutionen der Sozialstaatsmodernisierer (OECD, EU-Kommission, Weltbank, etc.) die Schweiz immer wieder für ihre „sozialpolitischen Reformen“ gelobt haben.3 Sie haben die Schweiz als ein Land betrachtet, das nicht nur „mit dem Strom“ schwimmt, sondern bereits ein bisschen weiter ist als andere Länder.
Aber schauen wir genauer hin. Julia Moser stützt ihre These des sozialstaatlichen Ausbaus vor allem auf vier wichtige sozialpolitische Massnahmen in der Schweiz: die Einführung der obligatorischen Arbeitslosenversicherung (1982), der obligatorischen beruflichen Vorsorge für Alter und Invalidität (1985), der obligatorischen Krankenversicherung (1994) und der Mutterschaftsversicherung (2003). Diese und zahlreiche weitere politische Vorlagen zwischen 1975 und 2005 beschreibt sie unter dem Blickwinkel, ob es sich um „expansive“ oder „restriktive“ Massnahmen gehandelt habe. Das mag auf den ersten Blick als plausible Herangehensweise erscheinen, doch zeigt eine genauere Betrachtung, dass damit die wesentlichen politischen Weichenstellungen und Veränderungen im schweizerischen System der sozialen Sicherung nicht wahrgenommen werden (können).

Altersvorsorge: Sieg für die Versicherungslobby
Am deutlichsten scheitert Julia Moser beim Versuch, die Entstehungs- und Entwicklungsdynamik der schweizerischen Altersvorsorge zu charakterisieren. In diesem Feld haben die entscheidenden politischen Auseinandersetzungen eben vor 1975 stattgefunden, wie der Historiker Matthieu Leimgruber nachgezeichnet hat.4 Die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) wurde 1948 als „Herzstück“ eines bescheidenen Sozialstaats eingeführt, mit bei weiten nicht existenzsichernden Renten. Von Anfang an hatte die Regierung in Kooperation mit der privaten Pensionskassen- und Versicherungslobby darauf geschaut, nur eine öffentliche Grundversicherung mit begrenzten Leistungen einzurichten, um den privaten Vorsorgemarkt nicht einzuschränken, sondern zu fördern.5 In der Nachkriegszeit, bei starkem Wirtschaftswachstum und steigendem durchschnittlichem Lebensstandard, entwickelte sich aber eine politische Dynamik zu Gunsten eines deutlichen Ausbaus der AHV. Bis in die 1960er Jahre wurde das AHV-Gesetz achtmal revidiert, stets mit Leistungserhöhungen. Die Partei der Arbeit und die Sozialdemokratische Partei lancierten Volksinitiativen mit dem Ziel, existenzsichernde Altersrenten zu sichern (die so genannte Volkspension). Gegen diese Bedrohung für den privaten Vorsorgemarkt – in der Rhetorik des Kalten Kriegs wurde sie durch Unternehmerkreise mit einer kommunistischen Gefahr gleichgesetzt – entwickelte die Pensionskassenlobby das heute existierende Modell des Drei-Säulen-Systems.6 Die Regierung machte sich dieses Modell zu eigen, und nach einigem Zögern wurde es auch von der Sozialdemokratischen Partei unterstützt. In einer Volksabstimmung im Dezember 1972 setzte sich das Drei-Säulen-Modell gegen die Volkspension durch. Damit waren die Weichen für eine obligatorische zweite Säule (Pensionskassensystem) in der Altersvorsorge gestellt, auch wenn das entsprechende Gesetz über die Berufliche Vorsorge erst 1985 verabschiedet wurde, weil sich die Pensionskassen mit aller Kraft gegen politische Regulierungen wehrten. Wenn Julia Moser dieses Gesetz als Beispiel für einen Ausbau des Sozialstaats präsentiert, unterschlägt sie diese Vorgeschichte und vergisst, dass es aus der Sicht der Regierung und der Privatversicherer dazu diente, den Ausbau der öffentlichen Altersvorsorge auf ein existenzsicherndes Niveau zu verhindern und die Entwicklungsperspektiven des privaten Vorsorgegeschäfts zu sichern. Entgegen den damals gemachten Versprechungen erlaubt das aktuelle System der schweizerischen Altersvorsorge es einer Mehrheit der Personen im Ruhestand nicht, den früheren Lebensstandard zu erhalten.7

Krankenversicherung: obligatorisch und unsolidarisch
Auch in der Krankenversicherung wurde 1994 keineswegs eine neue Sozialversicherung eingerichtet, vielmehr wandelten sich die bestehenden, meist privaten Krankenkassen zu Trägern einer für die ganze Bevölkerung nunmehr obligatorischen Versicherung. Wie Julia Moser festhält, waren bereits vor dieser Massnahme beinahe 99 Prozent der Bevölkerung versichert. Mit dem Gesetz über die obligatorische Krankenversicherung wurden einige Verbesserungen eingeführt: So dürfen die Kassen keine unterschiedlichen Prämien nach Geschlecht und Alter mehr festlegen, und der Staat übernimmt einen Teil der Prämien von einkommensschwachen Haushalten (so genannte Prämienverbilligung). Aber die unsolidarische Finanzierung über einkommensunabhängige Kopfprämien wurde beibehalten, und die Versicherten müssen weiterhin bzw. sogar zunehmend einen Grossteil der Behandlungs- und Medikamentenkosten selbst bezahlen. In der Schweiz werden heute etwa 30 Prozent aller Kosten im Gesundheitsbereich von den privaten Haushalten aufgrund von hohen Freibeträgen und Selbstbehalten direkt aus der eigenen Tasche bezahlt. Wenn wir die Kopfprämienfinanzierung hinzurechnen, werden annähernd zwei Drittel der Gesundheitsausgaben ohne umverteilende Solidarmechanismen durch die Haushalte bestritten. Trotz Einführung einer obligatorischen Versicherung ist der Anteil des Staates an der Finanzierung der Kosten im Gesundheitswesen zwischen 1971 und 2000 von knapp 40 auf ca. 25 Prozent gesunken, was weitgehend zu Lasten der Versicherten ging.8 Das schaut nicht gerade nach einem Ausbau des Sozialstaats aus. Der Unmut in der Bevölkerung ist gross, weil jedes Jahr die Krankenkassenprämien steigen und viele Haushaltsbudgets dadurch stark belastet werden; und wenn jemand krank wird, muss sie/er dennoch zuerst einmal beträchtliche Kosten selbst übernehmen (Freibeträge, Selbstbehalte), bis endlich die Krankenversicherung einspringt.

Mutterschaftsversicherung: nur nicht übertreiben
Altersvorsorge und Krankenversicherung sind für die Analyse der Funktionsweise des Systems der sozialen Sicherung in der Schweiz sehr wichtig, weil annähernd drei Viertel aller Sozialausgaben auf diese Bereiche entfallen. Im Gegensatz dazu fällt die 2003 eingeführte Mutterschaftsversicherung kaum ins Gewicht. Diese Einrichtung zahlte 2008 Leistungen von gut 600 Millionen Franken aus, was etwa einem halben Prozent der gesamten Sozialleistungen entspricht. Zweifellos stellte die Einführung dieser Versicherung einen sozialpolitischen Fortschritt dar, auch wenn die Leistungen mit 80 Prozent Erwerbseinkommensersatz während 14 Wochen tiefer liegen als bei allen früher diskutierten und im politischen Prozess gescheiterten Vorlagen. Auch bei anderen familienpolitischen Vorlagen hat ausgehend von einem sehr bescheidenen Niveau ein gewisser Ausbau stattgefunden (Familienzulagen, Kinderkrippen usw.), aber das fällt mit Blick auf den gesamten Sozialstaat kaum ins Gewicht. Sehr spät hat die Schweiz eine Reihe von politischen und (sozial)rechtlichen Diskriminierungen der Frauen abgeschafft: 1971 erhielten die Frauen das Wahl- und Stimmrecht auf eidgenössischer Ebene (in einigen Kantonen erst später, als letzter Kanton „beugte“ sich Appenzell-Ausserrhoden 1995), 1987 wurde das konservative Eherecht revidiert (bis dahin durften verheiratete Frauen keine Verträge abschliessen ohne Zustimmung ihres Ehemanns) usw. In der AHV wurden einige Benachteiligungen von Frauen abgeschafft (zuvor waren verheiratete Frauen zum Beispiel nur über ihre Ehemänner versichert) und Gutschriften für die Kinderbetreuung eingeführt, aber im Gegenzug das Rentenalter für Frauen von 62 auf 64 Jahre angehoben. Insgesamt lässt sich in der Familien- und Geschlechterpolitik eine gewisse Modernisierung beobachten, doch findet keine Abkehr vom liberalen Grundsatz statt, die Familie falle in den privaten Verantwortungsbereich der BürgerInnen, und die Politik hat sich in der Schweiz wohl noch weniger stark als in Deutschland von der Ausrichtung auf den „männlichen Familienernährer“ abgewandt.9

Erwerbslosigkeit: ohne Gegenleistung gibt es nichts
Auch die Einführung der obligatorischen Arbeitslosenversicherung ist als sozialpolitischer Fortschritt zu werten. Die Grundlage dafür wurde bereits 1976 mit einem Verfassungsartikel gelegt, auch wenn es dann weitere sechs Jahre dauerte, bis das Parlament ein entsprechendes Gesetz verabschiedete. In den 1980er Jahren wurde nicht viel an der Arbeitslosenversicherung verändert, die Erwerbslosigkeit lag im internationalen Vergleich sehr tief.10 Doch als zu Beginn der 1990er Jahre die Erwerbslosigkeit anstieg und dauerhaft auf einem für die Schweiz hohen Niveau verharrte, zählte das Land im internationalen Vergleich zu den ersten, die ein aktivierungspolitisches Regime – besser und deutlicher Workfare genannt11 – einführten.12 Die Grundlagen dafür wurden mit der Revision der Arbeitslosenversicherung im Jahr 1995 gelegt, einige Jahre bevor Kanzler Gerhard Schröder in Deutschland seinen VW-Freund Peter Hartz beauftragte, den Arbeitsmarkt zu „reformieren“. Wenn Julia Moser die Einführung und staatliche Finanzierung aktivierungspolitischer Massnahmen (in Deutschland bekannt in Formen wie Ich-AG, Minijobs, Beschäftigungsprogrammen usw.) als Indiz für einen Ausbau des Sozialstaats betrachtet, begibt sie sich auf ein heikles Terrain. Solche Massnahmen wurden ja als Teil eines Regimewechsels in der Arbeitslosenversicherung eingeführt, die von den Erwerbslosen nun Gegenleistungen verlangt, wenn sie Arbeitslosengeld erhalten wollen. Es reicht also nicht mehr aus, Versicherungsbeiträge geleistet zu haben, um Leistungen zu erhalten, was einen deutlichen Abbau erworbener sozialer Rechte bedeutet. Im Gegenzug mit der Einführung aktivierender Massnahmen wurden natürlich die Leistungen gekürzt – ein Prozess, der noch nicht zu einem Ende gekommen ist und auch die anderen Einrichtungen der sozialen Sicherheit, die mit Erwerbslosigkeit konfrontiert sind (Sozialhilfe, Invalidenversicherung) erfasst hat.13

Der Weg zum privaten Sozialstaat
Als Fazit dieser kritischen Besprechung des Buchs von Julia Moser bleibt festzuhalten, dass sich der schweizerische Sozialstaat tatsächlich verändert hat – aber nicht wirklich in dem durch die Autorin beschriebenen Sinne. Falls es jemals so etwas wie eine Expansionsdynamik gegeben hat, dann war es in den 1950/60er Jahren (Ausbau der AHV; Einführung der Invalidenversicherung (1960) und der Ergänzungsleistungen zu AHV/IV (1965)). Diese Dynamik wurde mit der Weichenstellung zu Gunsten des Drei-Säulen-Systems in der Altersvorsorge (anstelle einer Volkspension) in den 1970er Jahren gestoppt. Dabei handelte es sich zugleich um eine strukturelle, qualitative Weichenstellung zu Gunsten der Konsolidierung und staatlichen Förderungen privater Vorsorgeeinrichtungen, die zu den Trägern obligatorischer Versicherungen gemacht wurden – zuerst die Pensionskassen, später die Krankenkassen. Diese besondere Form eines „privaten Sozialstaats“ macht heute im internationalen Vergleich wohl das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der Schweiz aus. In den angelsächsischen Ländern mit liberaler Sozialstaatstradition haben die privaten Einrichtungen auch ein grosses Gewicht, aber ihre Versicherungsangebote bewegen sich nur im freiwilligen Bereich (genau dies könnte sich in den USA mit Obamas Health Care Reform allerdings ändern). Die Einführung der obligatorischen Arbeitslosenversicherung ab 1976, ausgelöst durch den wirtschaftlichen Kriseneinbruch der damaligen Zeit, steht zwischen der Expansionsphase der Nachkriegszeit und dem Triumph des Neoliberalismus, der in der Schweiz 1991 und 1995 durch die beiden so genannten Weissbücher der Wirtschaftselite angekündigt wurde.14 Ab Mitte der 1990er Jahre setzte sich entsprechend in der Arbeitsmarktpolitik das Workfare-Paradigma durch, und in den zentralen sozialpolitischen Bereichen begann die Regierung, Leistungskürzungen vorzunehmen. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen: Zurzeit sind Gesetzesänderungen in der Altersvorsorge, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Invalidenversicherung und Unfallversicherung in Beratung, und überall sind Leistungskürzungen vorgesehen.15

Finanzierung und Sozialausgaben 1950-2007
Die hier vertretene Sichtweise lässt sich auch mit Zahlen zu den schweizerischen Sozialausgaben untermauern. So führt Julia Moser (S. 13) eine Darstellung der OECD ins Feld, auf der zu sehen ist, dass die schweizerischen Sozialausgaben von gut 15 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu Beginn der 1980er Jahre ungefähr ab 1990 stark angestiegen sind und ab 2002-2003 die 25-Prozent-Marke überschritten haben. Ab den 1990er Jahren haben die Sozialausgaben der Schweiz sich vom Durchschnittsniveau der angelsächsischen Länder, auf dem sie sich bis dahin bewegten, abgehoben und in die Richtung des kontinentaleuropäischen Niveaus bewegt, das 2003 etwa bei 30 Prozent lag. Die Zahlen der OECD umfassen allerdings nicht nur die öffentlichen Sozialausgaben, sondern auch die Ausgaben privater Einrichtungen in Bereichen mit obligatorischen Versicherungen (mandatory private social expenditure) – ein Aspekt, dem die Autorin leider keine Beachtung schenkte. Wenn wir nun im Auge behalten, dass im Jahr 2007 von den 142,5 Milliarden Franken Sozialausgaben in der Schweiz annähernd 60 Milliarden durch Pensions- und Krankenkassen geleistet wurden, wird klar, dass dieser „Aufstieg“ der Schweiz im internationalen Vergleich eigentlich ausschliesslich der oben beschriebenen Konsolidierung des privaten Sozialstaats in zwei Schlüsselbereichen der Sozialpolitik geschuldet ist. Ohne die obligatorisch gemachten Privatversicherungen würde sich die Schweiz auch heute noch auf dem Niveau der angelsächsischen Länder (ca. 20 Prozent des BIP) oder leicht darunter bewegen.
Ein komplementäres Bild ergibt der Blick auf verschiedene Finanzierungsweisen von Sozialausgaben. Die Gesamtrechnung der Sozialen Sicherheit des Bundesamts für Statistik stellt das relative Verhältnis von vier verschiedenen Finanzierungssystemen dar: das Umlageverfahren, bei dem die laufenden Ausgaben über die laufenden Einnahmen finanziert werden; das Kapitaldeckungsverfahren, bei dem die Ausgaben durch in der Vergangenheit individuell angespartes Kapital finanziert werden; die Finanzierung über Steuereinnahmen des Staates; und übrige Finanzierungsarten, die nicht so sehr ins Gewicht fallen. Das Umlageverfahren ist für die öffentlichen Sozialversicherungen charakteristisch und enthält in der Regel Umverteilungsmechanismen zu Gunsten der einkommensschwachen Gruppen. Im Gegensatz dazu tendiert das für die private Vorsorge typische Kapitaldeckungsverfahren dazu, soziale Ungleichheiten zu erhalten oder sogar zu verstärken. Es lassen sich seit dem Zweiten Weltkrieg ganz eindeutig zwei Hauptphasen unterscheiden. Zwischen 1950 und 1975 nimmt der Anteil der nach dem Umlageverfahren finanzierten Sozialausgaben von 31 auf 62.7 Prozent zu, wogegen die Anteile des Kapitaldeckungsverfahrens (von 28.1 auf 13.1 Prozent) und der Finanzierung über Steuern (von 29.6 auf 15.8 Prozent) stark sinken. Dies ist vor allem auf den Ausbau der AHV und die Einführung der IV zurückzuführen, während private Einrichtungen und die Sozialhilfe im gesamten sozialen Sicherungssystem relativ an Bedeutung verloren haben. Doch seit 1975 ist der Anteil des Umlageverfahrens leicht rückläufig (2007 noch 55.4 Prozent), während sich der Anteil des Kapitaldeckungsverfahrens praktisch verdoppelt hat (2007 waren es 26.9 Prozent); die über Steuern finanzierten Sozialausgaben erreichten 2007 einen Anteil von 13.4 Prozent. Dazu muss angefügt werden, dass die Krankenversicherung beim Umlageverfahren mitgezählt wird, im Gegensatz zu den öffentlichen Sozialversicherungen im eigentlichen Sinne des Wortes aber kaum Solidarmechanismen enthält. Wenn wir dies berücksichtigen, stellt sich heraus, dass der Anteil der Sozialausgaben, die über ein Umlageverfahren mit Solidarmechanismen finanziert werden, zwischen 1975 und 2007 von 52.4 auf 41.3 Prozent gesunken ist.

Neoliberalismus schweizerischer Art
Der Neoliberalismus, das hat bereits Michel Foucault16 erkannt, zielt(e) eben nicht einfach auf einen Rückbau des Staates ab. Vielmehr versucht er, eine neue Regierungsform zu etablieren, die in historisch neuer Weise darauf setzt, dass sich die Menschen auf eine Weise selbst regieren, die im Sinne des neoliberalen Staates und der mit ihm verbündeten Fraktionen der herrschenden Klassen ist.
Die Förderung privater Vorsorgeeinrichtungen passt genau so gut in dieses Programm wie die so genannte Aktivierung von Erwerbslosen und SozialhilfeempfängerInnen. Die Schweiz ist vor diesem Hintergrund seit 1975 weder gesellschafts- noch wirtschafts- oder sozialpolitisch „gegen den Strom“ geschwommen, sondern hat eine besondere Form der sozialstaatlichen Reg(ul)ierung entwickelt, die wie in kaum einem anderen Land auf Einrichtungen beruht, die ich mit dem Begriff des privaten Sozialstaats umschrieben habe. So gesehen überrascht es nicht, dass Regierungen in anderen Ländern gewisse Aspekte des schweizerischen Modells importieren möchten. Aber es wäre die Aufgabe von gesellschaftskritischen oder auch einfach „nur“ aufrichtigen JournalistInnen und WissenschaftlerInnen darauf hinzuweisen, dass damit in einem Land wie Deutschland nicht einfach Milch und Honig (oder Schokolade) fliessen würden, sondern beträchtliche Bevölkerungsteile bisher verbriefte soziale Rechte zumindest teilweise verlieren könnten.

1 Paul Krugman, The Swiss Menace, New York Times, 17. 8. 2009
2 ulia Moser, Der schweizerische Wohlfahrtsstaat. Zum Ausbau des sozialen Sicherungssystems 1975-2005, Frankfurt/Main, 2008
3 An dieser Stelle seien nur zwei Beispiele solch internationalen Lobes erwähnt: OECD, Arbeitsmarktpolitik in der Schweiz, 1996 (übersetzt und herausgegeben durch das BIGA, Beiträge zur Arbeitsmarktpolitik Nr. 7); Monika Queisser und Dimitri Vittas, The Swiss Multi-Pillar Pension System: Triumph of Common Sense? Washington, The World Bank, 2002
4 Matthieu Leimgruber, Solidarity without the State? Business and the shaping of the Swiss Welfare State 1890-2000, Cambridge University Press
5 Sinnbildlich für diese Kooperation steht Bundesrat Walter Stampfli, der zuständige Sozialminister, der früher selbst in Führungsgremien von Pensionskassenvereinigungen tätig gewesen war.
6 Federführend bei der Konzeption des Drei-Säulen-Modells wirkte Peter Binswanger, der eine entsprechende Arbeitsgruppe der Versicherungslobby leitete. Binswanger war in den 1940er Jahren in der Bundesverwaltung für Bundesrat Stampfli wesentlich an der Ausarbeitung des AHV-Gesetzes beteiligt gewesen und wechselte dann zur privaten Versicherungsgesellschaft Winterthur, einem der wichtigsten Anbieter für berufliche Vorsorgepläne – ein weiteres Beispiel der engen Verflechtung von Staat und Versicherungsgesellschaften, die bis heute anhält.
7 Tobias Bauer et al., Endlich existenzsichernde Renten. Erste Säule stärken – 3000 Franken Rente für alle, Bern, Schweizerischer Gewerkschaftsbund, 2006
8 Vgl. die hervorragende Darstellung in Cahiers La Brèche, Le Marché contre la Santé, Januar 2007, S. 11ff.
9 Regina Wecker, Gender und Care in der Schweiz. Traditionen und Veränderungen, und Birgit Pfau-Effinger, Gender und Care im Vergleich Deutschland-Schweiz, in: Erwin Carigiet et al. (Hg.), Wohlstand durch Gerechtigkeit. Deutschland und die Schweiz im sozialpolitischen Vergleich, Rotpunktverlag Zürich, S. 227-238 und S. 239-251
10 Dafür gibt es zwei strukturelle Gründe. Zum einen konnte die Regierung im Zuge der Wirtschaftskrise der 1970er Jahre Hunderttausende ausländische Arbeitskräfte in ihre Heimat zurücksenden, indem die entsprechenden Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen nicht (mehr) verlängert wurden. Zum anderen lag die Frauenerwerbsquote bis gegen Ende der 1980er Jahre in der Schweiz sehr tief (um die 40 Prozent). In den 1990er Jahren verlor die schweizerische Regierung durch die Aushandlung der bilateralen Verträge mit der EU einen Teil ihrer Handlungsfähigkeit im Umgang mit ausländischen Arbeitskräften (Personenfreizügigkeit), und die Frauenerwerbsquote stieg stark an, heute liegt sie etwa bei 60 Prozent. Wie Julia Moser (S. 157) festhält, ging die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit vor allem in der Form von Teilzeitarbeit vor sich, so ist die Teilzeitarbeitsquote der Frauen zwischen 1970 und 2005 von 28.1 auf 56.7 Prozent gestiegen. Dennoch hat die steigende Frauenerwerbsquote im Verbund mit den eingeschränkten Möglichkeiten, sich ausländischer Arbeitskräfte zu entledigen, zum Anstieg der Erwerbslosigkeit seit Beginn der 1990er Jahre beigetragen.
11 Kurt Wyss, Workfare. Sozialstaatliche Repression im Dienste des globalisierten Kapitalismus. Edition 8, Zürich, 2007
12 Chantal Magnin, Beratung und Kontrolle. Widersprüche in der staatlichen Bearbeitung von Arbeitslosigkeit, Seismo Verlag, Zürich, 2005
13 Peter Streckeisen, Montée du chômage et durcissement de la politique du marché du travail (Suisse), in: Chronique Internationale de l’IHRES, Institut de Recherches Economiques et Sociales, Paris, no. 120, sept. 2009, pp. 40-48
14 Beide Weissbücher wurden von „renommierten“ Wirtschaftsprofessoren zusammen mit bekannten Führungspersönlichkeiten von Grossunternehmen veröffentlicht: Fritz Leutwiler, S. Schmidheiny et al., Schweizerische Wirtschaftspolitik im internationalen Wettbewerb. Ein ordnungspolitisches Programm, Orell Füssli, Zürich, 1991; David de Pury, Heinz Hauser, Beat Schmid (Hg.), Mut zum Aufbruch. Eine wirtschaftspolitische Agenda für die Schweiz, Orell Füssli, Zürich, 1995
15 Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, einen Überblick all dieser Vorlagen aufzuführen. Für den Bereich des Gesundheitswesens siehe zum Beispiel Peter Streckeisen, Gesundheitsreformen machen krank, in: Debatte, Nummer 11, 2009, S. 6-9
16 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität. Vorlesungen am Collège de France 1978-79. Band 2: Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag

Peter Streckeisen, geboren 1975 in Chur (Schweiz). Promovierte an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel im Mai 2007. Publikationen: Die zwei Gesichter der Qualifikation. Eine Fallstudie zum Wandel von Industriearbeit. Universitätsverlag Konstanz, 2008; Service Public: Perspektiven jenseits der Privatisierung. Rotpunktverlag, Zürich, 2005 (Hrsg. von Attac Schweiz, Reihe Attac Texte)

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