VOM ANSCHLUSS DER DDR ZUM DEUTSCHEN EURO, ODER: HARTZ IV WAR DIE VOLLENDUNG DER DEUTSCHEN EINHEIT

von Sebastian Gerhardt
aus telegraph #120/121

Wie aktuell die Fragen deutscher Einheit oder Teilung bis heute sind, das zeigte jüngst ein Arbeitsgerichtsprozeß in Stuttgart. Eine Frau klagte gegen eine dortige Fensterbaufirma auf 3 Monatsgehälter Entschädigung, weil auf ihren Unterlagen, die sie nach einer erfolglosen Bewerbung auf eine Stellung als Buchhalterin zurück erhielt, ein Minus mit einer Erläuterung versehen war: Ossi. Sie klagte nach dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz, das eine Ungleichbehandlung nicht prinzipiell, wohl aber aus z.B. ethnischen Gründen verbietet. Die Ossis – ein eigenes Völkchen? Das Gericht sah es anders und wies die Klage ab. Trotzdem muß es sich wohl um einen angeborenen Mangel handeln, denn die Frau hatte die DDR bereits 1988 in Richtung Westen verlassen, besonderer Sympathien für das dahingegangene System kann man sie also nicht verdächtigen. In Schwaben soll sie sich gut integriert haben. Sie war nicht arbeitslos und hatte sich nur vorsorglich beworben, da an ihrer derzeitigen Arbeitsstelle Gerüchte über Entlassungen umgehen. Sie versteht sich sogar, wie die Presse vermeldet, auf das Kochen von Maultaschen. Gereicht hat das nicht. Einmal Ossi, immer Ossi. Eine juristisch unzulässige Diskriminierung ist das nicht. Ein scheinbar ganz anderes Thema ist der aktuelle Konfl ikt um die griechischen Staatsfinanzen, der nicht nur in Athen, sondern auch anderswo manche Widersprüche zu Tage fördert. Angesichts des demonstrativen Unwillens der Bundesregierung, feste Zusagen für Rettungsaktionen zu machen, zeigen andere europäische Partner eine ebenso demonstrative Überraschung. Allen voran Frankreich – obwohl die Regierung Sarkozy anderes von ihren deutschen Kollegen wohl kaum erwarten konnte. Denn all ihre Vorschläge in Richtung einer anderen Politik der Europäischen Zentralbank, einer besseren Förderung des Mittelmeerraumes oder einer Stärkung der Binnennachfrage sind in den letzten Jahren an den anderen Prioritäten der Bundesregierung gescheitert. Nachdem linke und linksliberale Kritiker über Jahre die Gefahr eines Auseinanderbrechens der Euro-Zone an die Wand gemalt haben, weil der Konkurrenzdruck der deutschen Unternehmen die anderen „Partner“ überfordere, antwortet die Kanzlerin nun mit einer kaum verhohlenen Drohung: Geht doch, werdet ja sehen, wo ihr bleibt. Dabei beläuft sich der deutsche Beitrag im EU-Paket zur Sicherung des griechischen Nationalkredits auf gerade mal 8,4 von insgesamt 30 Milliarden Euro. Die jüngst vorgestellten Steuersenkungspläne der FDP sehen dagegen eine Entlastung der deutschen Leistungsträger um 16 Milliarden Euro vor. Und zwar nicht als einmaligen Kredit, sondern ab 2012 alle Jahre wieder als Geschenk. Bundesdeutsche Regierung und Kapital setzen darauf, daß sich in der gleichberechtigten Teilnahme an der Konkurrenz der Stärkere durchsetzt – und haben keinen Zweifel, wer der Stärkere ist. Zwei ganz verschiedene Themen? Nein. Tatsächlich gehören der Anschluß der DDR und die deutsche Hegemonie in der Eurozone eng zusammen. Keine geringere als die alte und neue Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dies in ihrer Regierungserklärung vom 12. September 2007, kurz nach Beginn der Finanzkrise, auf den Punkt gebracht: „Alle Industrieländer waren in den 90er-Jahren einem massiv erhöhten Wettbewerbsdruck durch die Globalisierung ausgesetzt. Doch Deutschland war zugleich in einer historisch einmaligen Situation. Der Prozeß der deutschen Einheit gehörte und gehört ohne Zweifel zu den glücklichsten Entwicklungen unserer Geschichte. Allerdings band er auch Ressourcen, Kraft und Aufmerksamkeit, wie sie kein anderes Land zu bewältigen hatte. In seinem Kern erzählt der Aufschwung, den wir jetzt erleben, eine großartige Erfolgsgeschichte: die Geschichte, wie Deutschland gleichzeitig Aufbauleistungen für die neuen Bundesländer und die Globalisierung bewältigen konnte.“ Allerdings machte ihr doppeltes Lob auch deutlich, welche Befürchtungen zwischendurch gehegt worden sind. Anfang der neunziger Jahre war es alles andere als ausgemacht, daß die Bundesrepublik zugleich die DDR integrieren und ihren Platz auf den Weltmärkten würde verteidigen können. Erst ein Rückblick zeigt, an der Überwindung welcher Hindernisse das deutsche Kapital zu seiner heutigen Stärke gewachsen ist.

Ein weltpolitischer Sieg
Dabei ist ein historischer Gegner ohne großen Widerstand abgetreten. Die Politbürokraten in der DDR, die immerhin – mit ihrem großen Bruder – die bisher größte Enteignung privater Eigentümer in der deutschen Geschichte zu verantworten hatten, kapitulierten bereits vor der Öffnung der Mauer. In einem Gespräch mit Rudolf Seiters, dem Chef des Bundeskanzleramtes, und dem Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble trug der DDR-Unterhändler und Leiter des Bereiches Kommerzielle Koordinierung Alexander Schalck-Golodkowski am 6. November 1989 Vorstellungen über die weitere wirtschaftliche Zusammenarbeit vor. Es ging wesentlich um neue Kredite in Höhe von insgesamt 10 bis 15 Mrd. DM. Schalck stützte sich dabei auf eine „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen“, die Planungschef Gerhard Schürer, Außenhandelsminister Gerhard Beil, Finanzminister Ernst Höfner, Statistikchef Arno Donda und er selbst zum 30.10.89 für das Politbüro erarbeitet hatten. Darin stellten die Planer fest, daß die sogenannte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ weder die Zustimmung der Bevölkerung noch den benötigten Leistungszuwachs der DDR-Volkswirtschaft gebracht hatte. Statt dessen war die DDR nachhaltig im Westen verschuldet. Die Planer sahen die Zahlungsunfähigkeit des Landes in wenigen Jahren voraus. Und dann? Zusammenbruch des Außenhandels, Fehlen lebenswichtiger Importe. Schalck-Golodkowski häufte bereits eine kleine Goldreserve für den nationalen Notstand an. Die Analyse hielt die soziale und ökonomische Lage nur noch unter Nutzung milliardenschwerer Kredithilfen aus dem Westen für beherrschbar. Die Antwort des Bundeskanzlers erfolgte am 8. November im Bundestag: „Wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren. Aber wir sind zu umfassender Hilfe bereit, wenn eine grundlegende Reform der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt wird.“ – Oder: Geld ist da, aber nur zu unseren Bedingungen. Für den Westen entfiel die Notwendigkeit zur Stützung der DDR-Politbürokratie in dem Moment, da man den ganzen Laden übernehmen konnte. Die DDR war nicht deshalb am Ende, weil man Schulden von etwa 20 Milliarden DM aufgehäuft hatte. Sondern deshalb, weil man diese Schulden beim weltpolitischen Gegner aufgenommen hatte, dem der Ostblock nur unter Hintanstellung des individuellen Konsums seiner Bürger Paroli bieten konnte. Keinem Land des Ostblocks war es gelungen, bei Fortsetzung der alten Arbeitsteilung in kommandierte Arbeit und Arbeit des Kommandierens, ein neues Entwicklungsmodell der Ökonomie durchzusetzen. Und in den Jahren 1989/90 entschied sich, daß es in allen diesen Ländern keinen emanzipatorischen Aufbruch geben würde. Nicht die Streikbewegungen von Workuta bis zum Kusbass und die Sowjets der Arbeitskollektive gestalteten das Ende der Gorbatschowschen Perestroika, sondern die Politbürokratie machte sich auf den Weg der Privatisierung. Die letzten Vertreter des Selbstverwaltungs-Programms der Solidarnosc waren so demoralisiert, daß sie im polnischen Parlament (wie auch die Vertreter der alten marxistisch-leninistischen Staatspartei PZPR) dem Balcerowicz-Plan einer marktwirtschaftlichen Schocktherapie zustimmten. Die Blaupause zum Anschluß der DDR lieferte das Bundesministerium der Finanzen. Die Bonner Beamten waren sich sicher: Nur von einer gesamtdeutschen Regierung könnten die wirtschaftliche Krise und die unausweichlichen sozialen Konflikte im Übergang zur Marktwirtschaft beherrscht werden. Investitionen zum Umbau der Wirtschaft setzten Rechtssicherheit und Gewinnchancen voraus. Insbesondere die Abwanderung von Arbeitskräften aufgrund des erheblichen Lohngefälles zwischen Ost und West sahen die Experten als ein unlösbares Problem einer eigenständigen DDR. Auf einer Klausurtagung des Bundesfinanzministeriums am 30. Januar 1990 standen die Eckpunkte des Konzeptes fest: Statt eines mittelfristigen, schrittweisen Prozesses, die baldige und schlagartige Einführung der D-Mark in der DDR, gleichzeitige Herstellung der rechtlichen Voraussetzungen marktwirtschaftlicher Beziehungen (freie Preisbildung und Abbau von Subventionen, Gewerbefreiheit usw.), die Aufgabe der (wirtschafts) politischen Eigenständigkeit der DDR und ein Staatsvertrag über die Wirtschaftsund Währungsunion als „ein erster Schritt zur Herstellung der staatlichen Einheit nach Artikel 23 des Grundgesetzes“. So sollte verhindert werden, daß die DDR die DM bekommen, aber vielleicht ein wenig Planwirtschaft behalten könne. Westdeutsche Anschlußplaner hatten bereits in den 50er Jahren die Einführung der bundesdeutschen Geld- und Marktverfassung durch eine handlungsfähige gesamtdeutsche Regierung als Kernstück der „Wiedervereinigung“ konzipiert. Allerdings waren diese Planungen nicht fortgeschrieben worden und mußten in zwei Punkten wesentlich modifiziert werden. Erstens galt es, die Herstellung einer neuen Wirtschaftsverfassung für eine Übergangszeit mit der Fortexistenz der DDR zu vereinbaren, bis die außenpolitischen Fragen des Anschlusses sämtlich gelöst waren. Für dieses Problem bot der Staatsvertrag alle nötigen Mittel. Zweitens jedoch waren die Planer der 50er Jahre von einer weitgehenden Reprivatisierung der DDR-Wirtschaft ausgegangen. Dafür gab es aber 1990 keine Nachfrage, weder Siemens noch die BASF wollten die alten Betriebsstätten zurück. Abgesehen von kleineren Ausnahmen galt in Bezug auf das Eigentum an Produktionsmitteln der Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ nicht. In dieser Frage dauerten die Diskussionen etwas länger und waren erst mit der Festlegung von Aufgaben und Struktur der Treuhandanstalt im Spätsommer 1990 abgeschlossen. Am 6. Februar proklamierte Helmut Kohl offiziell das „Angebot der DM“ und machte die Währungsunion zum ganzen Wahlprogramm der „Allianz für Deutschland“, die er am Tag zuvor aus der Taufe gehoben hatte. Am 8. Februar legte das Finanzministerium ein ausbalanciertes Gerüst für vertragliche Regelungen mit der DDR vor. Weder die Modrow- Regierung noch die Reste der Opposition hatten dem etwas entgegen zu setzen. Die freien Wahlen vom März 1990 konnten nur noch zwischen verschiedenen Varianten der Selbstaufgabe der DDR entscheiden, eine Selbstaufgabe, die aus der lange gewachsenen Enttäuschung über die Möglichkeiten des „real existierenden Sozialismus“ entstanden war. Gegner von Kapitalismus und „Wiedervereinigung“ hatten nicht viele Verbündete, weder im Osten noch im Westen. Pünktlich vor den ersten bürgerlichen Wahlen in der DDR am 12. März 1990 traten der damalige DGB Vorsitzende Ernst Breit und der Vorsitzende der Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände, Klaus Murmann, gemeinsam vor die Presse und verkündeten die Notwendigkeit einer marktwirtschaftlichen Umgestaltung der DDR. Die Institutionen der Arbeitsbeziehungen sollten in der DDR nach westdeutschem Vorbild eingerichtet werden. Zugleich einigte man sich mit großer Selbstverständlichkeit auf die Notwendigkeit besonderer Tarifgebiete in Ostdeutschland, in denen „das Lohnniveau zunächst noch deutlich unter dem bundesdeutschen Standard liegen“ werde. Die sozialpartnerschaftliche Einführung der „Sozialen Marktwirtschaft“ sollte dabei – zumindest nach Auffassung der Gewerkschaften – eine Niedriglohnkonkurrenz im eigenen Land „gleich hinter Wolfsburg“ (Franz Steinkühler) verhindern. Was aber wurde den DDR-Bürgern mit der DM „gegeben“? Die vermeintlich mit der Umstellung geschaffene Kaufkraft der DDR-Bevölkerung bestand im wesentlichen im Anspruch auf Lohnzahlung an Betriebe und in Sparanlagen, die auf dem Umweg über die Sparkassen und die Staatsbank der DDR in eben diese Betriebe investiert worden waren. Auch nach der Umstellung auf DM standen hier ostdeutschen Forderungen ostdeutsche Verbindlichkeiten gegenüber. Die laufenden Zahlungen (Löhne, Renten, Mieten) wurden – gegen die Bedenken der Bundesbank – nach dem Kurs 1:1 umgestellt, um der Vorstellungen vieler DDR-Bürger von innerdeutscher Gleichberechtigung zu genügen. Das Bundesfinanzministerium glaubte, daß die entsprechenden Einkommen von etwa 40 Prozent des Westniveaus der Produktivität der DDR-Wirtschaft in etwa entsprachen. Dagegen wurde nur ein Teil der Sparguthaben 1:1 umgestellt. Denn man wußte sehr wohl, daß die Vermögenswerte des DDR-Kreditwesens – vor allem Kredite an die sozialistischen Betriebe, die sogenannten „Altkredite“ – von höchst zweifelhafter Qualität waren. Außerhalb der Wohnungswirtschaft galten sie als weitgehend uneinbringbar. (Deshalb haben Deutsche und Dresdner Bank auch keine Altkredite übernommen, sondern in ihren später aufgekauften Joint-ventures nur die „Geschäftbesorgung“ erledigt. Die Altkredite bleiben vielmehr hübsch in den Büchern der Deutschen Kreditbank AG, einer Ausgründung aus der DDR-Staatsbank. Dort wurden Abschreibungen in Milliardenhöhe fällig, bevor sie 1995 an die BayernLB verkauft wurde.) Um die Schuldenlast der Betriebe zumindest zu verringern, wurden die Verbindlichkeiten der Betriebe und Einrichtungen mit einem Umtausch 2:1 auf die Hälfte verringert. Die Forderungen der Banken verminderten sich damit stärker als ihre Verpflichtungen, die entstehende Differenz von etwa 25 Mrd. DM übernahm der Staat: Nur an dieser Stelle war die Währungsunion ein Geschenk. Und die Auslandsverschuldung? Die spielte kaum eine Rolle: Was für die Nominalsozialisten tödlich war, belief sich für die Bundesregierung nur auf ein Kostenpunkt unter mehreren, noch nicht einmal den größten. Angesichts der völligen Öffnung gegenüber dem Weltmarkt, der Auflösung der bisherigen Kooperationszusammenhänge und der geringen Finanzvermögen, benötigten die DDR-Betriebe praktisch sofort nach dem 1. Juli 1990 neue Kredite zur Begleichung der laufenden Kosten. In der Treuhand begannen Wirtschaftsprüfer und Unternehmensberater im Auftrag des Bundesfinanzministeriums, der sogenannte Leitungsausschuß, stillzulegende Unternehmen auszusortieren. So wurden z.B. die Autarkieproduktionen der DDR durch den ökonomischen Anschluß sinnlos, ihre Einstellung war beschlossen. Die Effektivität der Nahrungsgüter- und Baustoffindustrie war unzureichend, ihre Rationalisierung unerläßlich. Daneben gab es jedoch interessantere Betriebe, so im Maschinenbau, in der Energieproduktion und auch der chemischen Industrie (Petrolchemisches Kombinat Schwedt), die sehr wohl voll weiter produzierten, zum Teil aufgrund von Exportaufträgen für Osteuropa. An dieser Stelle standen die deutschen Großbanken bereit: Sie stellten bei entsprechenden Bürgschaften der Treuhandanstalt oder nach eingehender eigener Prüfung die neuen Kredite zu Marktkonditionen bereit. Desinteresse an den einen und Interesse an anderen Produktionen waren zwei Seiten einer Medaille, der Umstellung auf die Zielgröße Profi t. Die Arbeitslosigkeit im Anschlußgebiet stieg bis Ende 1990 auf fast 600 000, bei zusätzlich 1,7 Millionen Kurzarbeitern. Bei Protesten gegen Betriebsschließungen, Entlassungen und das West-Ost- Lohngefälle standen die Beschäftigten der Treuhand-Betriebe vor dem Dilemma, daß sie ihre eigene Entscheidung für den kapitalistischen Westen nicht kritisieren, geschweige denn zurücknehmen konnten. Die Sache war gelaufen, jeder mußte sehen, wo er blieb.

Nutzen und Nachteil der Einheit
Die Sieger hatten andere Probleme. Denn soviele Geschäfte auch im Osten gemacht wurden – die Zurichtung des Ostens für Geschäfte war kein lohnendes Geschäft. Das private Kapital hielt sich vorsichtig zurück. Man wollte für den Bau von Autobahnen bezahlt werden, nicht dafür bezahlen. Trotz einiger Erhöhungen von Steuern und Sozialabgaben war eine massive Ausweitung der bundesdeutschen Staatsverschuldung nötig – so massiv, daß selbst die erheblichen Gewinne der bundesdeutschen Privateigentümer nicht mehr zur Finanzierung ausreichten. Mit den hohen Lieferungen in das Anschlußgebiet und erhöhten Importen angesichts des Vereinigungsbooms im Westen ging der Überschuß in der bundesdeutschen Handelsbilanz deutlich zurück. Die Leistungsbilanz, in die neben dem Warenaußenhandel auch die internationalen Geschäfte des Dienstleistungssektors sowie Einkommensübertragungen eingehen, fiel schon 1991 negativ aus. Der in langen Jahren mit deutschen Kapitalexporten aufgebaute Einfluß mußte fast komplett zur Finanzierung des Anschlusses mobilisiert werden. Daraus ergab sich eine völlig neue Herausforderung für die bundesdeutsche Führungsrolle in Westeuropa. Gestützt auf die Erfolge der deutschen Industrie hatte die Deutsche Mark schon seit den fünfziger Jahren als der Anker des westeuropäischen Außenhandels gegolten, ab 1971 war sie der Ausgangspunkt aller Versuche, im Rahmen der EG die Schwankungen der Wechselkurse einzuschränken. Den Kern des Projektes bildete die Kooperation zwischen der Bundesrepublik und Frankreich, die seit 1979 im Europäischen Währungssystem geregelt war. Das Kräfteverhältnis war klar: Anders als der französische Franc spielte die DM eine internationale Rolle als zweitwichtigste Reservewährung. De facto war der Franc, wie die anderen Währungen des EWS, an die DM gekoppelt. Deshalb lief mit der neoliberalen Wende in der Bundesrepublik im Herbst 1982 auch die Zeit einer keynesianischen Wirtschaftspolitik der Linkskoalition in Frankreich ab. Das französische Defizit in der Leistungsbilanz war ohne Konsens mit dem erfolgreichen deutschen Kapital nicht zu finanzieren. Von der Bildung einer gemeinsamen Zentralbank erhoffte sich die französische Regierung die Wiederherstellung zumindest eines gewissen Einflusses auf die Geldpolitik, von der man selbst abhing. Seit 1987 startete sie neue Initiativen in dieser Richtung, parallel zur Vorbereitung des einheitlichen Binnenmarktes der EG für Waren, Arbeitskräfte und Kapital zum 1. Januar 1993. Im Sommer 1989 lagen erste Pläne auf dem Tisch, die schließlich in den Vertrag von Maastricht münden sollten. Der Anschluß der DDR beschleunigte die Entwicklung, denn kurzfristig war die Bundesregierung nun auf ihre Partner besonders angewiesen. Mittel- und langfristig aber war eine Stärkung der deutschen Wirtschaft durch die Erschließung der osteuropäischen Märkte, schließlich auch eine Erweiterung des deutschen Produktionspotentials durch die kapitalistische Integration der DDR zu erwarten. Deshalb drängte die französische Regierung auf eine rasche Einigung über eine gemeinsame Währung, während die bundesdeutschen Verhandler aus dem Finanzministerium und der Bundesbank keine Abstriche an ihren Forderungen zuließen. Aus Sicht der deutschen Wirtschaft sprach wenig gegen eine Aufgabe der DM – wenn sie nur im Tausch dafür den Euro in die Hand bekommen würde. Für diese Ausweitung des Einflusses in Westeuropa besaß die Bundesregierung auch eine eingespielte Truppe, die schon eine Währungsunion geplant und geleitet hatte. Ihr Kopf war Hans Tietmeyer, der bereits 1970, noch als Ministerialrat, an den Planungen für eine europäische Währungsunion teilnahm. 1982 begründete er für FDP Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff das Ende der sozialliberalen Koalition. 1990 vertrat er die Bundesrepublik in den Verhandlungen über den montetären Anschluß der DDR. Von 1993 bis 1999 sorgte er als Bundesbankpräsident für die konsequente Umsetzung des neoliberalen Projekts von Maastricht und ist heute Kuratoriumsvorsitzender des rechtsliberalen Think Tanks des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und stellvertretender Vorsitzender des Verwaltungsrates der Baseler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Im Finanzministerium war Tietmeyers Nachfolger, der Staatssekretär Horst Köhler, der spätere IWF-Chef und heutige Bundespräsident, für die deutsche wie die europäische Währungsunion zuständig. Im Kanzleramt besetzte damals Jürgen Stark die Schnittstelle als Leiter der Abteilung „Geld, Währung, Finanzmärkte“. Wie Köhler und Tietmeyer, diente Stark noch einige Zeit unter dem Kanzler Helmut Kohl als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Heute ist er das deutsche Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank (EZB). Thilo Sarrazin schließlich, 1989/90 Referatsleiter „Nationale Währungsfragen“ im Finanzministerium, dann bis Frühjahr 1991 für die Treuhand zuständig, hat es über den Posten des Berliner Finanzsenators inzwischen bis in den Vorstand der Bundesbank geschafft. Nur einer aus dieser Mannschaft, der langjährige Leiter der Abteilung „Geld und Kredit“ im Finanzministerium, Gert Haller, ist heute nicht mehr in der deutschen Politik prominent aktiv.

Das „Modell Tietmeyer“
Diese Herren wußten, daß sich der wirtschaftliche Erfolg einer Währung daran entscheidet, zu welchen Preisen produzierte Güter und Dienstleistungen auf dem Markt umgesetzt werden und wieviel davon als Gewinn nach Abzug der Kosten übrigbleibt. Privateigentümer sind sehr eigen: Wenn sie Zweifel an der Qualität eines Geldes haben, dann verlangen sie davon deutlich mehr für die gleiche Ware. An dieser Freiheit des Privateigentums hat jede noch so unabhängige Zentralbank ihre Schranke. Die berühmte Unabhängigkeit der EZB besteht denn auch nur darin, solche Gewerbefreiheit vor politischen Zumutungen zu schützen. Von Anfang an wurde daher eine Finanzierung staatlicher Defizite durch das Europäische System der Zentralbanken komplett ausgeschlossen, ebenso wie eine Haftung der Mitgliedsländer der Währungsunion für die Staatsschulden eines Teilnehmerlandes. Neben Beschränkungen für die Schwankungen der Wechselkurse im EWS und einer Orientierung der Preissteigerung und der langfristigen Zinsen an den drei monetär stabilsten Ländern sollten die Staatsfinanzen der Teilnehmerländer als Voraussetzung des Eintritts in die Währungsunion bestimmte Grenzen nicht überschreiten: die Neuverschuldung sollte unter 3% des BIP; der Schuldenstand unter 60 % des BIP liegen. Als diese Bedingungen in Maastricht unterschrieben wurden, schienen sie ohne große Probleme erreichbar zu sein. Keine acht Monate später jedoch brachte mitten in der Wirtschaftskrise von 1992 ausgerechnet die DM das Europäische Währungssystem (EWS) ins Wanken. Die Bundesbank hatte angesichts des Vereinigungsbooms und steigender Preise die Leitzinsen deutlich erhöht: Sie stiegen von sechs Prozent im Jahr 1990 im Lauf des Jahres 1991 auf acht Prozent, so hoch wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Am 17. Juli 1992 legte die Bundesbank noch einmal nach: auf 8 ¾ Prozent. Zur Finanzierung der Defizite im Außenhandel und in den öffentlichen Haushalten floß Leihkapital nach Deutschland, das dort attraktive Anlagemöglichkeiten fand. Damit gerieten die westeuropäischen Partner unter Druck, die bisher auf Kapitalimporte hatten setzen können. Die besitzenden Klassen verschärften daraufhin den Klassenkampf von oben: In Italien wurde die „scala mobile“ abgeschafft, in Frankreich eröffnete die Regierung von Premier Edouard Balladur in der Krise 1992/93 mit der Verlängerung der Lebensarbeitszeit der Beschäftigten des privaten Sektors einen nachhaltigen Angriff auf die Rechte der abhängig Beschäftigten. Doch es reichte nicht. Am 17. September 1992 mußten Großbritannien und Italien praktisch aus dem EWS ausscheiden. Selbst Frankreich konnte im Sommer 1993 nur in einer Notoperation im Währungsverbund mit der DM gehalten werden. Die stabilen Wechselkurse, mit denen auf dem europäischen Binnenmarkt der Währungsspekulation ein Schnippchen geschlagen werden sollte, hatten dem Druck der Spekulanten nicht standgehalten. Die Perspektive einer einheitlichen Währung, die den dauerhaften Zusammenhalt des europäischen Binnenmarktes garantieren könnte, war in Frage gestellt. Doch nur Großbritannien mit seinem chronischen Defizit der Leistungsbilanz und der Sonderstellung der Londoner City war dauerhaft für die Maastrichtpläne verloren. Als Antwort auf die Krise der EU formulierten im Spätsommer 1994 Wolfgang Schäuble, damals Fraktionschef der CDU/CSU im Bundestag, und Karl Lamers, der außenpolitische Sprecher der Fraktion, das Konzept vom Kerneuropa: Eine Koalition der Willigen und Konkurrenzfähigen, die gemeinsam einen handlungsfähigen europäischen Imperialismus anstrebt und die Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrages zu ihrem Feldzeichen erheben konnte – Deutschland, Frankreich, die Beneluxstaaten. Schäuble/Lamers erkannten klar, daß „die Währungsunion der harte Kern der Politischen Union“ ist und stellten heraus: „Eine Währungsunion im vorgesehenen Zeitrahmen wird es – in Übereinstimmung mit der im Maastrichter Vertrag enthaltenen Alternative – voraussichtlich zunächst nur in einem kleineren Kreis geben – und im kleineren Kreis wird es sie nur geben, wenn der feste Kern der Fünf dies systematisch und mit starker Entschlossenheit vorbereitet.“ Kanzler Helmut Kohl gab die Richtung vor: eine Nationalökonomie sei kein „kollektiver Freizeitpark“. Bis Ende 1994 – in weniger als drei Jahren – wurde der größte Teil der DDR-Volkswirtschaft privatisiert. Während das Kapital sich sein Investitionsrisiko im wilden Osten mit Subventionen und Steuererleichterungen bezahlen ließ, mußten die Sozialkassen für den Unterhalt einer industriellen Reservearmee aufkommen, mit der die Gewerkschaften dauerhaft in die Defensive gedrängt wurden. Das „Billiglohnland gleich hinter Wolfsburg“ war längst Realität. Die Unternehmensverbände der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie hatten am 18. Februar 1993 den geltenden Stufenplan, der bis April 1994 eine Angleichung auf 100 Prozent des Westniveaus vorsah, „außerordentlich gekündigt“. Den folgenden Streik in der sächsischen Metall- und Elektroindustrie brach die IG Metall jedoch nach zwei Wochen ab, da eine Einigung erreicht worden sei: Die Entgeltangleichung wurde um mehr als zwei Jahre auf Mitte 1996 gestreckt. Die IG Metall akzeptierte überdies eine Härteklausel, die Abweichungen vom Tarifvertrag zuließ. Selbst in der produktivsten Branche war damit der Status des Ostens als eines Niedriglohngebietes festgeschrieben. Zeitgleich führte VW im Westen mit Einverständnis der IG Metall die Vier-Tage-Woche ein – eine Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich, in einem der am besten gewerkschaftlich organisierten Betriebe des Landes. 1996/97, als der Osten unter Kontrolle war, stellte die Bundesregierung die massive Investitionsförderung ein. Das deutsche Kapital warf sich – erfolgreich – wieder auf die Eroberung der Weltmärkte. Im Osten blieb es bei einer ökonomisch vom Rest der Republik abhängigen Provinz, die Jahr für Jahr etwa 30 Prozent ihres Verbauchs nicht aus eigener Produktion decken kann. Und im Westen? Dort zeigte die massive Verschärfung der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt rasch Wirkung: Die Realeinkommen stagnierten, die Lohnquote ging weiter zurück. Dem deutschen Konkurrenzdruck wie den eigenen Interessen folgend sorgten auch die anderen Euro-Anwärter für eine Verschiebung der sozialen Kräfteverhältnisse. In Frankreich konnte der große Streik des öffentlichen Dienstes im Herbst 1995 die neoliberalen Vorhaben nur zeitweilig stoppen. In Italien beteiligte sich die ehemalige kommunistische Partei an der kapitalistischen Rationalisierung des Landes. Gerade die wirtschaftlich schwächeren Länder sahen keine Alternative, hatten sie doch nur im Vorgriff auf den Euro Chancen auf eine günstige Verschuldung an den Kapitalmärkten. Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt erhob die EU 1997 auf deutschen Druck die Maastrichtkriterien von einer einmaligen Aufnahmeprüfung zum dauerhaften Grundgesetz der gemeinsamen Währung. Das „Modell Tietmeyer“, das Pierre Bourdieu nicht umsonst nach dem Bundesbankpräsidenten benannt hatte, war etabliert. Zum 1. Januar 1999 übernahm die EZB die Ausstattung von 11 Ländern mit Kreditgeld. Zu diesem Tag wurden die Wechselkurse der 11 Währungen untereinander endgültig fi xiert und der Euro trat als Buchgeld ins ökonomische Leben, auch wenn er sich im Alltagsgebrauch noch bis 31.12.2001 durch nationale Scheine und Münzen vertreten lassen mußte. Auf den internationalen Währungsmärkten wurde der Euro rasch als Nachfolger der DM akzeptiert. Zwar mußte die Eurozone bis Ende 2001 eine marktwirtschaftliche Probezeit durchmachen, doch dann schlug sich der Erfolg auf den Weltmärkten in steigenden Devisenkursen und einem Plus der Leistungsbilanz nieder, wesentlich getragen von den stark zunehmenden deutschen Außenhandelsüberschüssen. Die Bundesrepublik konnte bis Ende 2004 den vereinigungsbedingten Rückschlag ihrer internationalen Vermögensposition ausgleichen. Wohl lag das deutsche Haushaltsdefizit von 2002 bis 2005 über den vorgeschriebenen drei Prozent und gab damit zu einem „Defizitverfahren“ Anlaß. Da sich aber dieses Defi zit wesentlich aus Steuerkürzungen zugunsten der Unternehmen ergab, bestand zu Zweifeln an der deutschen Treue zum Euro kein Anlaß. Kritiker, die ein Scheitern und einen Zerfall der Währungsunion prognostiziert hatten, wurden widerlegt. Die Eurozone wuchs, statt zu schrumpfen und immer neue Länder bemühen sich um den Anschluß an die EU. Das gestiegene Selbstbewußtsein der kerneuropäischen Eliten zeigte sich 2003 in ihrer Weigerung, den USA in den Irak zu folgen, wobei sie sogar mit dem Erzfeind Rußland gemeinsame Sache machten.(Alles andere als Bühnenzauber, jW, 18.03.2003) Die USA konnten dagegen nur einen dünnen Chor ost- und südeuropäischer Verbündeter aufbieten, von denen auch die letzten inzwischen ihren Frieden mit dem Euro und der darin verkörperten deutsch-französischen, vor allem aber deutschen Hegemonie gemacht haben.

Opfer für den Weltmarkterfolg: Hartz IV
Um die neuen Möglichkeiten allerdings wirklich ausreizen zu können, brauchten die deutschen Eliten noch zwei Veränderungen am rheinischen Kapitalismus. Zum einen ging es darum, die Wirkung der ostdeutschen industriellen Reservearmee auch im Westen voll ausspielen zu können. Zum zweiten darum, die Kosten dieser ostdeutschen Reservearmee zu deckeln. Beiden Vorhaben gab die Koalition von SPD und Grünen höchste Priorität, nachdem ihre naiven Hoffnungen auf einen Investionsboom durch die Senkung der Unternehmenssteuern und eine Ausweitung der Beschäftigung durch das „Bündnis für Arbeit“ in der Krise ab 2001 scheiterten. Zwar wurden nicht alle Vorhaben der im März 2003 verkündeten „Agenda 2010“ umgesetzt. Aufgrund der Proteste der Gewerkschaften unterblieb vor allem die gesetzliche Einschränkung des gewerkschaftlichen Tarifrechts. Doch der wirtschaftliche und politische Druck auf die Gewerkschaften zeigte rasch Wirkung: Bereits Anfang 2002 war das „rot-rote“ Berlin aus dem Flächentarifvertrag ausgestiegen, spalten erfolgreich die öffentlich Beschäftigten in der Hauptstadt und setzte eine massive Lohnkürzung durch. Und nach dem Abbruch des IG Metall-Streiks für die 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie im Sommer 2003 kamen Arbeitszeitverlängerungen in Ost und West auf die Tagesordnung. Das Kapital war entschlossen, die Chance der Krise nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Entscheidend für den Angriff auf die Lebensbedingungen der abhängig Beschäftigten sollte aber die Veränderung der „Zumutbarkeitsregelungen“ für Arbeitslose und die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe werden. Denn damit wurde die Praxis der Erhaltung eines gewissen Lebensstandards für Arbeitslose ersatzlos beendet. Nach spätestens einem Jahr sollten sich die Arbeitslosen auf dem Sozialhilfesatz wiederfinden. Vor allem in Ostdeutschland, daß bis dahin aufgrund der hohen Erwerbsbeteiligung geringere Sozialhilfequoten als der Westen aufwies, kündigte dies einen massiven Einschnitt an: Nicht nur finanziell, sondern auch moralisch. Es war jetzt völlig egal, wie lange man früher mal gearbeitet hatte. Damit wurde die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt massiv verschärft und die Voraussetzung für die ebenso massive Ausweitung des deutschen Niedriglohnsektors geschaffen. Die disziplinierenden Wirkungen auch für die Kernbelegschaften zeigten sich in der fortgesetzten Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften: Nun sank nicht nur die Lohnquote, sondern auch der Reallohn, in Ost und West. Hartz IV war die Vollendung der deutschen Einheit. Trotz der nachhaltigen Wirkungen von Hartz IV gelang es nicht, einen ebenso nachhaltigen Widerstand dagegen aufzubauen. Neben der guten Konjunktur der Jahre 2004 bis 2008 zeigt sich darin ein strukturelles Problem: Die Sozial- und Erwerbsloseninitiativen können nur selten greifbare Erfolge vorweisen und müssen doch regelmäßig ihren Rückhalt neu organisieren. Denn die Erwerbslosen von gestern sind nicht die Erwerbslosen von heute. Ständig werden Menschen aufs Neue arbeitslos, während andere aus der Erwerbslosigkeit ausscheiden. Aber nicht jede/r, die zu einer unabhängigen Sozialberatung geht, nimmt dann auch an der politischen Arbeit der Gruppen teil. Es ist nicht gelungen, um das Forderungspaket der Sozialproteste – „500 Euro Regelsatz – Mindestlohn 10 Euro/ Stunde – Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden“ – konkrete Konflikte zu führen. Zwar zielen die drei Forderungen präzise auf die gemeinsamen Interessen der lohnabhängigen Klasse. Das hilft aber nur, wenn die Leute in der Klasse das auch so sehen. Die aber schweigen mehrheitlich. Bündnispolitik, die wahrheitswidrig den bestimmten sozialen Charakter der eigenen politischen Intervention leugnet und sich statt dessen als der – vorgeblich bessere – Sachwalter eines vermeintlichen Gemeinwohls präsentiert, hilft dagegen nicht. Sozialer Protest ist keine Politik für alle. Er ist gegen politische und soziale Herrschaft gerichtet und richtet sich deshalb gegen die, die da herrschen, im Großen wie im Kleinen. Die offen gewerkschaftsfeindliche Politik der SPD und die Sozialproteste der Jahre 2003 bis 2006 haben nur bewirkt, was in anderen Ländern der EU zum normalen politischen Geschäft gehört: Die Etablierung einer gesamtdeutschen parlamentarischen Linken, die reformistische Vorschläge für eine freundlichere Verwaltung des Status quo unterbreitet. Nicht mehr, nicht weniger. Der Ausbau der Partei „Die LINKE.“ hat bisher mehr Aktivisten gebunden, als Ressourcen für die Weiterarbeit vor Ort zugänglich gemacht wurden. Angesichts solcher Lage an der Heimatfront war es nicht fraglich, wer den größten Gewinn aus der Eurozone und der Osterweiterung der EU ziehen würde: Mit der Formel des neuen Deutschland: „Steigende Produktivität + bestenfalls stagnierende Löhne = sinkende Lohnstückkosten“ konnte in Europa keiner mithalten. Alle Versuche Frankreichs, in Gestalt der Mittelmeerunion ein eigenes Hinterland zu entwickeln, sind gescheitert. Spanien und Irland verlegten sich auf Immobilien- und Finanzspekulationen – mit nur vorübergehenden Erfolgen. Die italienische Staatsverschuldung war schon in den Neunzigern legendär – nur das man dort, anders als im kleinen Griechenland, auf ein Fälschen der Bilanzen beim Eintritt in die Währungsunion selbstbewußt verzichtet hat. Doch gestützt auf den großen europäischen Binnenmarkt können heute westeuropäische Unternehmen die Aufwertung des Euro gegenüber dem Dollar weit gelassener sehen, als noch 1992 deutsche Firmen die Aufwertung der DM. Die Steigerung der Energiepreise 2008 wurde durch den Eurokurs deutlich gedämpft. Und wer aus dem Euro-Club aussteigt, den erwarten argentinische Verhältnisse: Denn es sind die schwachen Länder, denen dann die Finanzmärkte kaum freundlicher begegnen werden, als die Brüsseler Sparkommissare. Dies ist der Hintergrund für das Selbstbewußtsein der Merkel und co.: Sie haben die Klassenkämpfe der letzten Jahre regelmäßig gewonnen. Ob Abbau überzähliger oder Aufbau gewinnbringender Beschäftigung – im heutigen Deutschland muß das nicht mehr teuer bezahlt werden, sondern kommt billig. So billig, dass genug zur Bewältigung der Krise übrig ist und sie sich auf den Weltmärkten gegen ihre kapitalistischen Klassenbrüder und -schwestern erfolgreich behaupten können. Daher ist die Drohung Ernst zu nehmen, die Angela Merkel im September 2007 an ihr Lob der deutschen Geschichte seit 1989 geknüpft hat: „Meine Damen und Herren, wer das geschafft hat, dem braucht auch vor den Veränderungen des 21. Jahrhunderts nicht bange zu sein. Das ist der Geist, in dem wir Politik machen.“

Bewährung in der Krise
Der Aufschwung allerdings, den die Kanzlerin da lobte, hielt nur noch ein Jahr. Für das folgende Jahr 2009 vermeldete das Statistische Bundesamt einen deutlichen Rückgang des „realen“, d.h. um Preisveränderungen bereinigten Bruttoinlandsprodukts um 5 Prozent: die schärfste Krise der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Nur müssen wir den Ausgangspunkt des Vergleichs im Auge behalten, wenn wir die Konsequenzen dieses Rückgangs erfassen wollen: Das wirtschaftliche Leistungsniveau der Bundesrepublik im Jahr 2008. Der Rückgang des BIP um 5 Prozent wirft die aktuelle Produktion etwa auf das Niveau des Jahres 2005 zurück. Das ist ein deutlicher Einschnitt, eine Katastrophe ist es aber wohl noch nicht: Denn die BRD war im Jahr 2005 auf hohem Niveau reproduktionsfähig und befand sich nicht in einer gesamtwirtschaftlichen Notlage, die eine Fortführung des Kapitalismus in Frage gestellt hätte. In der Krise blieb zudem in der BRD die Zunahme der Arbeitslosigkeit – auch der breit definierten „Unterbeschäftigung“ – unter den Erwartungen. Mit knapp 3,6 Millionen Arbeitslosen und einer Unterbeschäftigung von etwas über 4,7 Millionen liegen die Zahlen für den März 2010 etwa auf dem Niveau von Ende 2007. Zum Teil ist dies ein Ergebnis der Kurzarbeiterregelung, die noch von der großen Koalition beschlossen worden war. SPD und Union wußten, daß die Kombination von Sozialkürzungen und guter Konjunktur bei der Bundesagentur für Arbeit eine Rücklage von 18 Milliarden Euro hatte entstehen lassen, die nun für eine Kürzung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und das erweiterte Kurzarbeitergeld aufgebraucht werden konnten. In der Spitze lag die Zahl der Kurzarbeiter im Mai letzten Jahres bei über 1,5 Millionen – verglichen mit nur 50.000 im Mai 2008. Seitdem ging ihre Zahl aber deutlich zurück: Im Dezember 2009 waren es noch 890.000. Für das Jahr 2010 ging die Finanzplanung der Bundesagentur im letzten November noch von jahresdurchschnittlich 4 Millionen Arbeitslosen und einem nötigen Zuschuß der Bundesregierung von 16 Milliarden Euro aus. Seitdem für dieses Jahr nur noch mit etwa 3,5 Millionen Arbeitslosen geplant werden muß, konnte der Zuschuß auf 13 Milliarden gekürzt werden. Nochmal zur Erinnerung: der deutsche Kredit an die griechische Regierung soll gerade 8,4 Milliarden Euro betragen. Auch die Bewältigung der Finanzkrise kam dem bundesdeutschen Staat bisher relativ billig. Der im Herbst 2008 beschlossene Rahmen von 400 Milliarden Euro für Bürgschaften und 80 Milliarden für tatsächliche Kapitalspritzen wurde bei weitem nicht ausgeschöpft. Der zuständige Fonds Finanzmarktstabilisierung SoFFin hat bis Ende März 2010 gerade 28 Milliarden Euro an Kapitalhilfen ausgeteilt: an die AarealBank 500 Millionen, an die WestLB 3 Milliarden, an die Hypo Real Estate 6,3 Milliarden – und den Löwenanteil an die Commerzbank: 18,2 Milliarden. An Bürgschaften wurden bisher 144,4 Milliarden vereinbart, hier entfällt der größte Teil auf die Hypo Real Estate (95 Milliarden). Ob und in welcher Form für diese Garantien wirklich gezahlt werden muß, ist unklar, auf keinen Fall wird die gesamte Summe fällig. Selbst wenn wir die Kapitalhilfen der Bundesländer und der Sparkassen für die Landesbanken hinzurechnen – Landesbank Baden Würtemberg 5 Milliarden, HSH Nordbank 3 Milliarden, BayernLB 10 Milliarden – und die 11 Milliarden für die IKB hinzurechnen, beläuft sich die Summe der öffentlichen Kapitalzuschüsse für deutsche Banken seit Beginn der Finanzkrise auf gerade 57 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Bis Ende Juni 2009 hatten US-Finanzinstitute allein aus dem 700 Milliarden Dollar Programm des US-Finanzministeriums (TARP) fast 400 Milliarden Dollar erhalten. Zwar konnten die stärkeren unter ihnen 70 Milliarden als Zeichen ihrer besonderen Konkurrenzfähigkeit im April und Juni schon wieder zurückzahlen, aber zugleich waren in den 400 Milliarden einige Beträge noch gar nicht enthalten: 29 Milliarden Dollar für die Abwicklung der Investmentbank Bear Stearns, nochmal 42 Milliarden für die Stabilisierung des Versicherungskonzerns AIG, etwa 60 Milliarden für die Immobilienfinanzierer FannieMae und FreddieMac. Selbst wenn wir entsprechend dem Wechselkurs einen Dollar zu etwa 75 Euro-Cent ansetzen und die etwas andere Größe der US-Wirtschaft berücksichtigen, es bleibt ein Unterschied: Die US-Regierung hat zur Stabilisierung ihrer Finanzmärkte mehr als das Siebenfache dessen einsetzen müssen, was die Bundesregierung austeilen mußte. Das US-Bruttoinlandsprodukt beträgt aber – grob verglichen – nur das etwa vier bis fünffache des bundesdeutschen. Deshalb kam es am Bankplatz New York zum Verschwinden eines ganzen Geschäftsmodells: Die großen Investmentbanken sind entweder übernommen (Bear Stearns, Morgan Stanley), pleite (Lehman Brothers) – oder haben sich doch in strikter kontrollierte Geschäftsbanken umwandeln müssen (Goldman Sachs, Morgan Stanley). Dagegen laufen die Veränderungen im deutschen Bankensektor bisher auf die Bekräftigung der vorhandenen Strukturen hinaus, wobei die weitere Stärkung der Position der Deutschen Bank (Erwerb der Postbank) und der Allianz (Zusammenführung von Dresdner und Commerzbank unter ihrer Kontrolle) nicht zu übersehen ist. Ganz anders als hierzulande hat sich die offizielle Arbeitslosenquote in den USA in der Krise verdoppelt. In Washington kam es zu einem Regierungswechsel, während Frau Merkel im Amt bestätigt wurde. Auch in der zweiten Krise der Eurozone steht die deutsche Hegemonie nicht in Frage, im Gegenteil. Und auch der Wechsel von Bush zu Obama war vieles, aber kein sozialer Umsturz. Es wurde in den letzten drei Jahren oft und gern von einem Umbruch, vom „Ende einer Epoche“ gesprochen. Tatsächlich wäre es naheliegend, angesichts etwa der Strukturkrise der Autoindustrie und der auf allen Kanälen diskutierten ökologischen Krise die Tauglichkeit von Privateigentum und Markt für die nötige nachhaltige Entwicklung der produktiven menschlichen Möglichkeiten prinzipiell in Frage zu stellen. Tatsächlich aber findet genau das nicht statt. Außerhalb der linken Szenelandschaft gibt es keine Debatte über Alternativen zum Kapitalismus, sondern bestenfalls über Alternativen im Kapitalismus. Bestenfalls! Die exportorientierten Zweige der hiesigen Wirtschaft können ihren Stammbelegschaften eine Alternative zu einer konfliktorientierten Solidarität anbieten: die Chance, der „beste Verlierer unter den global Erpressten“ (Werner Sauerborn) zu werden. Und die Gewerkschaften nehmen das Angebot an. Die jüngsten wirtschaftspolitischen Vorschläge der IG Metall enthielten keine Vorschläge für eine sozialökologische Konversion der deutschen Industrie, sondern setzen weiter auf hohe Wettbewerbsfähigkeit. Entsprechend ist ihr Tarifabschluß Anfang 2010 ausgefallen: Jobsicherung durch Lohnverzicht. Auch in der Dienstleistungsgewerkschaft ver. di, die vor allem auf den Binnenmarkt orientiert ist, wird der Kampf um Weltmarktanteile nicht in Frage gestellt – nur soll er durch höheren Konsum und entsprechende Importe eingebettet werden. Wie sehr die großen deutschen Gewerkschaften in der Defensive sind, zeigt sich an der Arbeitszeitfrage: Während das Kapital sie mit Entlassungen und Kurzarbeit auf die Tagesordnung setzt, weichen die Gewerkschaften aus. Spezifisch deutsch sind an dieser wenig erfreulichen Gesamtlage nur zwei Dinge: Erstens die besondere Präsenz des Epochenumbruchs von 1989, der nicht nur zu runden Jahrestagen als Triumph von Marktwirtschaft und Bonner Demokratie gefeiert wird, sondern ganz alltäglich in der besonderen Lage Ostdeutschlands heutige Politik prägt. Zweitens der gesamtdeutsche Mangel an einer alltagstauglichen Kultur individueller Widerständigkeit, ohne die auch selbstorganisierte kollektive Aktionen nicht funktionieren. Wohl klangen viele, nicht nur linke Analysen der letzten zwei Jahre so, als wäre der globale Kapitalismus pleite und weigere sich nur, den Gerichtsvollzieher einzulassen. Doch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen hat sich nicht geändert. Deshalb haben die Vertreter des Kapitals hierzulande und anderswo keine Scheu, von der tiefsten Krise der letzten Jahrzehnte zu sprechen: Der Staat, den sie um Hilfe angehen, ist der bürgerliche Staat. Es gibt niemanden, der global oder auch national ihre Herrschaft in Frage stellt. Darum ist man mit der Rede vom „Epochenumbruch“ rasch bei der Hand, weil eine Machtfrage gar nicht gestellt wird. Die aktuelle Epoche der Weltwirtschaft und Weltpolitik begann nicht 1929 oder 1945, sie begann 1989 und dauert weiter an. Die nachhaltige Wirkung des Umbruchs von 1989 ist bis in die aktuellen Krisendiskussionen der Linken präsent: In der frappierenden Harmlosigkeit der offerierten Alternativvorschläge. Harmlos darin, daß soziale und politische Gegner der eigenen Vorschläge nicht wirklich in die Überlegung aufgenommen werden. Und harmlos darin, daß selbst auf das Ziel einer demokratischen gesellschaftlichen Kontrolle der ganzen Wirtschaft weitestgehend verzichtet wird, die Forderungen vielmehr im konsumtiven Bereich verbleiben. Schon die naheliegende Forderung nach einer Offenlegung der wirtschaftlichen Lage privater Unternehmen scheitert regelmäßig am Recht auf das Geschäftsgeheimnis. Tatsächlich behindert das öffentliche Interesse an den Schwächen der aktuellen Konjunktur und an den Fehlern ihrer Manager die Einsicht in die Macht, die das Kapital gerade heute bildet. Doch nur für den, der sich resigniert auf die Reformation des Kapitalismus beschränkt, mag es reichen, dessen Funktionsmängel und Schwächen anzuklagen – um diese Fehler und Schwächen dann gemeinsam mit aufgeklärten Männern und Frauen aus den bürgerlichen Eliten zu beheben. Wer aber das Kapital bekämpfen will, muß dessen Stärken kennen. Nicht um selbst mal Chef zu werden, sondern um zusammen mit anderen den ganzen Laden einmal ganz anders, menschenfreundlich zu organisieren. Ein Vorhaben, daß mit etwas Aussicht auf Erfolg wohl nur in den Zentren des modernen Kapitalismus angegangen werden kann. Nach 1917 ist schon einmal eine Revolution gescheitert, die im „schwächsten Kettenglied“ des Kapitalismus ausgebrochen ist.

Sebastian Gerhardt ist Redakteur der Zeitschrift „lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der Globalen Ökonomie“ und arbeitet im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin.

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