von Tove Soiland
aus telegraph 120 | 121
Ich muss gestehen, dass die Zeit, während der ich an diesem Vortrag schrieb1, eine unruhige Zeit war: Ich wurde beständig unterbrochen – und zwar eigentlich von niemand anderem als mir selbst. Ich war nämlich fast unentwegt damit beschäftigt, auf diversen Internetseiten die neuen roten, grünen, blauen und gelben Fähnchen zu zählen, die da, farbigen Geysieren gleich, aus dem trockenen Kartenboden von google-map hervorsprangen, für jeden neuen besetzten Hörsaal und jede Universität eins. Ich war damit beschäftigt, mich per youtube und livestream virtuell in diese besetzten Hörsäle einzuklinken, ich lauschte stundenlang und mit angestrengtem Ohr, weil oft die Technik noch nicht wirklich funktioniert, den dort stattfindenden Meinungsbildungsprozessen, einfach, weil mich die Art, wie diese jungen Menschen miteinander diskutierten, ebenso faszinierte wie tief berührte. Und zu guter letzt war ich abgelenkt von meinen eigenen bescheidenen Aktivitäten, zusammen mit Gleichgesinnten eine ebensolche Diskussion auch unter Lehrenden in Gang zu bringen. Und so kam ich zum Schluss, dass ich derzeit offenbar nicht öffentlich sprechen kann, ohne auch über die StudentInnenproteste zu sprechen und vor allem über deren Ursache: den Bolognaprozess. Warum gehen mir diese Proteste so nahe? Was beschäftigt mich als freie Lehrbeauftragte an Bologna, und zwar in einer Weise, die mich, der es bisher vor allen elektronischen Vernetzungen graute, weil ich sie für eine unnötige Ablenkung hielt, die mich also als schon etwas Ergraute zu diesen Kästchen von twitter und facebook trieb?
Es hat sehr viel mit der Weise zu tun, wie Bologna mich als Lehrende zwingt, das, was für mich bisher ein Prozess von Bildung war, in ein leicht zu vermittelndes ‚Wissen’ zu komprimieren: Sowohl die mich beauftragende Universität wie die so sozialisierten jungen Studierenden rufen mich als eine Art Relais-Station an, die die Instrumente wissenschaftlichen Arbeitens sowie deren Grundkonzepte in modularisierter Form, und das heißt letztlich, auf einer Metaebene vermitteln soll: Es ist die Hypothese von Bildung, denn für deren tatsächliche Einlösung ist in den 6 Semestern keine Zeit vorgesehen. Bologna ist für mich die Durchsetzung eines extrem undemokratischen Wissensregimes, das gerade nicht auf Theorien und Inhalte verzichtet – das wäre gewissermaßen zu harmlos. Es sind umgekehrt ganz bestimmte Theorien und ganz bestimmte Inhalte, die zu ‚Wissen’ kondensiert unter dem Deckmantel von Wissenschaftlichkeit verabreicht werden sollen. Und selbst die Kritikfähigkeit folgt dieser Logik, indem sie zu einer ‚Schlüsselkompetenz’ umdefiniert als rein formales Verfahren sich jeglichen normativen Inhalts entledigt, sodass schlussendlich auch sie wiederum nur dem selbstreferenziellen Zirkel einer angeblich ideologiefreien Wissenschaftlichkeit dient. Es erfüllt mich mit tiefer Sorge zu sehen, dass Sie im Zuge der angeblich effizienteren Gestaltung von Lehrplänen mit vordergründig handhabbaren, jedoch hochideologischen Versatzstützen abgespiesen werden und man Sie damit zur Halbbildung zwingt. Und es empört mich, dass man Ihnen den Effekt hochkomplexer Auseinandersetzungen als ‚Wissen’ präsentiert, ohne dass Sie auch nur die geringste Chance haben, sich über die Herkunft dieses ‚Wissens’ ins Bild zu setzen, da Ihnen das Wissen um die Geschichte der jeweiligen Konzepte, ihrer Entstehungszusammenhänge und historischen Kontexte fehlt. Die Debatten, die Auseinandersetzungen, das ganze Ringen um Hegemonie, die zu dem führten, was dann als neuester Stand der Wissenschaft erscheint, diese ganzen Streitigkeiten sind hinter der didaktischen Eindeutigkeit des auf Hochglanz gedruckten Handbuch-Wissens verschwunden.
Und damit bin ich nun doch bei meinem Thema. Ich meine nämlich, dass der Begriff gender ein paradigmatisches Beispiel eines solchen ‚Wissens’ darstellt. So sind die Wort-Kombinationen mit gender scheinbar unbegrenzt und täglich kommen neue hinzu: Ob von Gender-Sensibilisierung in Gender Trainings die Rede ist, dem Entwicklungshelfer ein Gender-Tool-Kit mit auf den Weg nach Afrika gegeben oder in der akademischen Nachwuchsförderung der Gender-Selbstwirksamkeitserwartungskoefizient errechnet wird, all diese Wortungetüme verbindet das eine: es scheint fraglos, was mit gender jeweils gemeint ist. Egal, ob gender vom Katholischen Frauenbund Niederösterreichs, der Abteilung für Strahlenschutz im Oberammergau oder dem Manual für Personalentwicklung der Deutschen Telecom verwendet wird, der Begriff suggerieren jedenfalls Professionalität und eine klare Anwendungs- und Zielorientierheit. Und dies scheint auch das Schicksal der Gender Studies insgesamt. Dort, wo an deutschen Universitäten Geschlechterstudien noch in einem umfassenden Sinn als Gesellschaftskritik gelehrt wurde, drohen ihnen, wie hier in Hannover, die Abschaffung; und wo sie heute, wie an der FU Berlin und an vielen Fachhochschulen neu installiert werden, werden sie als anwendungsorientierte Berufsausbildung nach den, wie es heißt, Erfordernissen des Arbeitsmarktes institutionalisiert.2 Anwendungsorientiert heißt aber bereits, dass man es nur noch anzuwenden braucht, wobei, was angewendet werden soll, als klar vorausgesetzt wird. Das ist, was Sie dann als ‚Gender-Kompetenz’ vermittelt bekommen.
Wie müssen wir verstehen, dass ein im Rahmen der kritischen Geschlechterforschung entstandenes Konzept solch absurde Blüten trieb und, wie ich am Ende meines Vortrags ausführen werde, selber zu einer Herrschaftsstrategie zu werden droht? Ist es eine Umdeutung, Entwendung, Instrumentalisierung eines an sich guten Konzeptes zu einem ihm fremden Ziel? Ich werde argumentieren, dass, um was hier geschehen ist, besser zu verstehen, wir uns sehr viel genauer mit dem historischen Kontext, in welchem sich der Begriff entwickelt hat, vertraut machen müssen und also mit genau dem, was im Modul F 5.1 der Abteilung Schlüsselkompetenz römisch II des Masterstudiengangs XY nicht mehr geleistet werden kann.
Diesen Sommer trat die bekannte US-amerikanische Feministin und Theoretikerin Nancy Frasers mit einem Aufsehen erregenden Artikel an die Öffentlichkeit. Unter dem Titel Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte vertritt Fraser die These, dass sich die zweite Frauenbewegung mit ihren Forderungen ungewollt in den Dienst des damals bereits im Entstehen begriffenen Neoliberalismus gestellt habe. Die Frauenbewegung, so Fraser, sei anfangs der 1970er Jahre nicht in der Lage gewesen, zu reflektieren, dass sie selbst bereits der Effekt eines in die Krise geratenen Nachkriegskapitalismus, des sogenannt Fordistischen Wohlfahrtsstaates, gewesen sei, weshalb ihre Forderungen in eine zwiespältige Passförmigkeit zu der im Zuge dieser Krise notwendig gewordenen Erneuerung des Kapitalismus gerieten. Der Feminismus sei so in diesem Neuen Geist des Kapitalismus (Boltansky/Capello 2003) auf ein seltsames Schattenbild seiner selbst gestoßen, in welchem Diskurse, Forderungen und Lebenshaltungen mit oft nur leichter Umdeutung Aufnahme fanden (2009, 54f). Zudem sei innerhalb der US-amerikanischen Frauenbewegung eine Verlagerung auf Identitätspolitiken und auf Forderungen nach Anerkennung von Differenzen just zu dem Zeitpunkt zu verzeichnen, als der Siegeszug des Neoliberalismus eine energische Rückkehr zur politischen Ökonomie erforderlich gemacht hätte (ebd., 50). Auch dies, so Fraser, habe letztlich dem neoliberalen Bestreben, Fragen der Umverteilung als Fragen der Anerkennung von Differenzen umzudeuten, zugedient. Dies umso mehr, als durch das Hegemonialwerden der Cultural Studies und der damit einhergehenden Verabsolutierung der Kulturkritik auch innerhalb der feministischen Theorie ökonomische Fragen einseitig in einen Kulturalismus aufgelöst wurden.
Ich muss zugeben, dass ich Frasers Anliegen, zu Fragen der politischen Ökonomie zurückzukehren, große Sympathie entgegenbringe und dies selbst auch schon verschiedentlich getan habe. Ich kann Fraser nur beipflichten in dem, was sie bereits in einem führen Artikel mit dem Aufruf: Frauen, denkt ökonomisch! (2005) auf den Punkt gebracht hat. Im Folgenden möchte ich jedoch einen nochmals etwas anderen Zugang zum Verständnis dieses von Fraser herausgestellten Phänomens einer Entwendung oder Umdeutung der Forderungen der Zweiten Frauenbewegung vorschlagen. Ich finde es nämlich nicht prinzipiell falsch, sich mit dem auseinanderzusetzen, was in einer etwas älteren marxistischen Terminologie als Überbau bezeichnet wurde – mit jenen Fragen des Kulturellen und Ideologischen also, die durch das eben erwähnte, im Rahmen der Cultural Studies entstandene Verständnis von gender so dezidiert in den Vordergrund traten. Dass man sich auch von einem linken Standpunkt aus – beispielsweise im Rahmen der Hegemonietheorie Antonio Gramscis – dem Bereich des Kulturellen zuwandte, hatte bestimmte und insbesondere für die Frage des Geschlechterverhältnisses triftige Gründe, war frau es doch müde, die Geschlechterfrage als eine Klassenfrage zweiter Ordnung abgehandelt zu sehen. Zurecht wollte man einer einseitig ökonomistischen Argumentation entgehen, die für das Geschlechterverhältnis lediglich den ehrenwerten Platz eines Nebenwiderspruchs bereithielt. Und ebenso berechtigt war der Wunsch zu verstehe, wie Frauen mittels bestimmter Formen der Subjektivierung in die bestehenden Verhältnisse eingepasst wurden in einer Weise, die sie oft selbst zu den vehementesten Verteidigerinnen ihrer eigenen Unterdrückung werden liess. Ich würde deshalb keineswegs auf eine Auseinandersetzung mit Phänomenen des Kulturellen, eben des so geheissenen Überbaus, verzichten wollen. Doch meine ich, dass wir, was das Geschlechterverhältnis betrifft, sehr viel genauer darüber nachdenken müssen, wie wir dies heute tun. Und dabei müssten wir auf das alte Desiderat zurückkommen, die Ideologie und die Produktionsverhältnisse zusammenzudenken, das heisst, nie aus den Augen zu verlieren, dass das, was wir als kulturelle Phänomene thematisieren wollen, immer auch verankert ist in der kapitalistischen Produktion. Denn hier eben meine ich, dass sich etwas radikal entkoppelt hat.
Wir sind gegenwärtig nämlich in einer merkwürdigen Lage: Zum einen ist mit dem bereits genannten, im Rahmen der US-amerikanischen Cultural Studies entstandenen Verständnis von gender eine ganz bestimmte Konzeptualisierung von Geschlecht hegemonial geworden, die das Geschlechterverhältnis vorrangig unter dem Aspekt des Zwangs zur Zweigeschlechtlichkeit und damit als eine Frage von Normen, von normativen Identitätszuschreibungen und den damit einhergehenden Ein- und Ausschliessungen thematisiert. Parallel dazu haben wir jedoch das Phänomen, dass in dem, was Louis Althusser einst die Ideologischen Staatsapparate genannt hat (1977), sich ein fundamentaler Wandel abzeichnet: Der Staat ist von einem Produzenten konservativer Geschlechterideologien, wie wir sie von den 1950er und 60er Jahren her kennen, zum Propagandeur fortschrittlicher Geschlechterarrangements geworden: Öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Universitäten, aber auch der staatliche Verwaltungsapparat und zunehmend sogar die Privatwirtschaft geben sich mit Gleichstellungsbeauftragten die größte Mühe, nun als überkommen empfundene Geschlechtervorurteile abzubauen; und nichts deutet darauf hin, dass diese Bemühungen nicht ernst gemeint sind. Wir haben damit die Situation, dass zeitgleich mit einem enormen Umbruch, ja, einem eigentlichen Paradigmenwechsel in den Ideologischen Staatsapparaten eine sich als radikal verstehende feministische Kritik auftaucht, deren Vorstellung von Radikalität sich in eigentümlicher Weise mit diesem Paradigmenwechsel paart. Die Frage drängte sich doch eigentlich auf, warum mit dem an den Cultural Studies orientierten Ansatz von gender ein Verständnis von Geschlecht, das mit seiner Kritik an einem Normensystem den Feminismus nicht nur zu beerben, sondern auch zu radikalisieren beansprucht, warum also dieses Verständnis von gender just zu dem Zeitpunkt hegemonial wird, wo eben diese Normen gesamtgesellschaftlich gerade an Bedeutung verlieren. Über diese Merkwürdigkeit – über dieses Zusammenfallen von Kritik und realer historischer Entwicklung – möchte ich im folgenden nachdenken.
Ich werde also nicht einen Sachverhalt, sondern ein Konzept – gender – zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen machen, weil ich glaube, dass das Konzept – und vor allem der Wandel in ihm – selbst als Bestandteil – und nicht als kritische Reflexion – des gesellschaftlichen Umbruchs, den wir gemeinhin als Neoliberalismus bezeichnen, verstanden werden muss. Ich meine nämlich, dass das von Nancy Fraser herausgestellte Phänomen, dass der Feminismus im Neoliberalismus auf eine Art unheimlichen Doppelgänger stieß – „a strange shadowy version of itself“ (2009, 114), wie Fraser schreibt – ich meine, dass dieses Phänomen noch präziser erfasst werden kann, wenn man es ausgehend von einer Verschiebung auf theoretischer Ebene betrachtet. Dabei wird es meine These sein, dass nicht eine Instrumentalisierung, sondern diese Verschiebung und damit eine Entwicklung im Rahmen der Theorie selbst für diese Passfähigkeit verantwortlich ist.
1. Theoretische Verschiebung: Die Bedeutung der Cultural Studies
Der historische und vor allem auch institutionelle Kontext des hier zur Diskussion stehenden gender-Begriffs ist deshalb von so zentraler Bedeutung, weil sich in ihm eine ganze Auseinandersetzung kondensiert – die aber, und darum geht es mir im Folgenden, als solche nicht mehr im Bewusstsein ist. Wie bereits herausgestellt geht dieses Verständnis von gender im Wesentlichen auf den Kontext der Cultural Studies zurück. Die Cultural Studies ihrerseits entstanden in den 1970er Jahren im Umfeld einer kleine Gruppe linker, englischer Intellektueller um Stuart Hall, denen es angesichts einer dogmatischen und einseitig ökonomistischen Ausrichtung des Marxismus im Ostblock um dessen Erneuerung ging. In Anlehnung an die Schriften des italienischen Philosophen und Kommunisten Antonio Gramscis wendeten sich diese Denker deshalb Phänomenen im Bereich des Kulturellen zu, weil sie anstatt von einem ökonomischen Determinismus davon ausgingen, dass die Eigendynamik des Kulturellen ihrerseits auf die ökonomischen Verhältnisse, auf die in der marxistischen Terminologie so geheißenen Produktionsverhältnisse zurückwirke. Zwar war damit das von einem dogmatischen Marxismus vertretene absolute Primat des Ökonomischen relativiert. Doch handelte es sich, insofern die beiden Sphären von Kultur und Ökonomie nicht voneinander entkoppelt, sondern nach wie vor aufeinander bezogen wurden, nie um eine Zurückweisung des Marxismus. Es handelt sich vielmehr um eine Ausdifferenzierung dieses so genannten Basis-Überbau-Modells, wie es u.a. auch von Louis Althusser in seiner Lesart von Marx’ ökonomischen Schriften vorgeschlagen wurde (1972 II, 228-261).
Dies änderte sich jedoch entschieden mit der Übersiedlung der Cultural Studies in die USA, wo eine Amalgamierung mit den dortigen sozialen Bewegungen unter dem Label einer ‚Neuen Linken’ in eine breite Regenbogenkoalition mündete. Mit der weitgehenden Verankerung der Cultural Studies in den Lehrplänen der amerikanischen Universitäten ging in den 1990er Jahren eine entscheidende Verschiebung einher, in deren Verlauf nicht nur das Primat des Ökonomischen völlig suspendiert, sondern eine explizite Kritik am Marxismus zu einer Entkoppelung der Cultural Studies von ihren marxistischen Wurzeln führte. Aus dem absoluten Primat der Produktionsverhältnisse wurde nun das absolute Primat des Kulturellen: Der kapitalistischen Ausbeutung wurde nicht länger eine determinierende Kraft zugeschrieben, sondern umgekehrt der Kultur eine für die Gesellschaft grundlegendere Funktion zugetraut, insofern, so das Argument, auch ökonomische Prozesse bedeutungsgeleitet seien: “that because all social practices are meaningful practices, they are all fundamentally cultural“, heißt es beispielsweise in einer Einführung (du Guy et al. 1993: Doing Cultural Studies, zit. nach Hennessy 2000, 82). Diese Verschiebung kann nur vor dem Hintergrund einer für die Cultural Studies absolut zentralen, jedoch spezifisch US-amerikanischen Rezeption des französischen Poststrukturalismus verstanden werden.3 Dieses spezifisch US-amerikanische Verständnis des Poststrukturalismus besagt in etwa, dass bedeutungsgenerierende Prozesse das Fundament aller sozialen Verhältnisse bildeten. Aus diesem u.a. vom Postmarxismus Chantal Mouffes und Ernest Laclaus (1991) vertretenen Standpunkt wurde nicht nur abgeleitet, dass diese Verhältnisse auf der Ebene von Signifikationspraxen selbst zu verändern seien. Darüber hinaus wurden den an der kritischen Theorie orientierten Sozialwissenschaften vorgeworfen, sich in ihrer Praxis ihrerseits an der Konstruktion jener Kategorien zu beteiligen, auf deren Überwindung kritische Gesellschaftstheorie doch eigentlich zielen sollte: Wenn jedes gesellschaftliche Verhältnis in Sinnverhältnissen wurzelt, so würden diese durch die sozialwissenschaftliche Untersuchungen eher befestigt denn überwunden, lautete in etwa das Argument. Kurz und gut: Was so binnen kürzester Zeit zum obersten theoretischen wie politischen Ziel avancierte, war das Anliegen einer De-Ontologisierung sämtlicher sozialwissenschaftlichen Kategorien, war mit andern Worten das Anliegen zu zeigen, dass dem von diesen Kategorien Bezeichneten keine wie auch immer geartete Wesenheit zugrunde lag. An die Stelle der Analyse kapitalistischer Ausbeutungsstrukturen trat damit die Kritik an diesen sogenannten ‚Essentialismen’, in deren Folge der Klassenbegriff selbst – und mit ihm alle weiteren gesellschaftstheoretischen Kategorien – einer solchen Essentialisierung bezichtigt wurde. Das Auftauchen jener kulturellen Kämpfe um Identitäten: Die Kritik an Identitätszuschreibungen und ‑festschreibungen und in der Folge die Forderung nach Anerkennung von Differenzen, die Skandalisierung von mit Identitätspolitiken einhergehenden Ein- und Ausschließungsmechanismen und also gewissermaßen eine Kritik an identity politics aus den eigenen Reihen ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Und in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung: Im Zuge der sexual politics und der Bewegung der sexual radicals waren es vor allem die Themen der sexuellen Unterdrückung, die in eine besondere Konkurrenz zum Marxismus traten. Sexuelle Identitäten wurden in der Folge das privilegierte Feld dieses neuen Kulturalismus einer Neuen Linken. Und es ist in diesem Kontext, dass der hier besprochene gender-Begriff seine Prägung erfuhr.
Wenn auch die Verpflichtung zur De-ontologisierung im Zuge dieser Kritik zum obersten Gebot für alle Sozialwissenschaften erhoben wurde, so scheint sie doch im Bereich der Gender Studies die weitreichendsten Folgen gehabt zu haben resp. erhielt umgekehrt dieser Postmarxismus durch die Gender Studies am meisten Resonanz. Brisant war dieses Anliegen einer De-ontologisierung für die Geschlechterstudien insofern, als damit gleichsam das Subjekt des Feminismus selbst und somit dessen eigentliche Grundlage: ‚die Frau’ in Frage stand (Butler 1993, 50f / Kerner 2007, 11-18). Im deutschsprachigen Raum erhielt diese Infragestellung insbesondere durch die wirkmächtige Rezeption der Schriften Judith Butlers Unterstützung: Wenn, so Butlers Input, performative Akte der Bezeichnung die Realität, die sie lediglich zu bezeichnen vorgaben, ganz eigentlich selbst hervorbrachten, so kam der Reflexion auf diese Akte, der so genannten „diskursiven Produktion“ von Geschlecht (1991, 24), zwangsläufig eine Vorrangstellung zu. Die Frage nach der diskursiven Hervorbringung von Geschlecht ersetzte so in der Tendenz die nach ihrer Hierarchisierung, denn wenn die Geschlechter erst gar nicht konstruiert würden, so lautete die Überlegung, könnten sie auch nicht in ein hierarchisches Verhältnis zueinander treten. Was so entstand, war eine Art logische Fundierung, der eine gewisse Stringenz nicht abzusprechen ist: Im Zuge von Judith Butlers Überlegung, dass auch die uns geläufige Vorstellung von der Existenz des biologischen Geschlechts sich der Norm der Heterosexualität verdankt, die gleichsam zu ihrer Stützung sich in der Evidenz zweier ‚biologischer’ Geschlechtskörper materialisiert, wird die Kritik an dieser so erst hervorgebrachten Vorstellung von der Natürlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit und damit die Kritik an deren ontologischem Status zum vorrangigen Ziel (1991, 22-25/63-68). Wenn damit aber die Kategorie Geschlecht überhaupt als „Sedimentierung“ einer Norm (1991, 206; 2001, 43), und das heißt letztlich, als Effekt einer Bedeutungszuschreibung ausgewiesen ist, so wird ihr integrales Problematischwerden plausibel.
Der Hegemonieanspruch dieses Verständnisses von gender verdankt sich also einer quasi-logischen Fundierung: Unter der Voraussetzung, dass im Zentrum der Geschlechtskonstitution die Norm der Heterosexualität steht und dass sich diese in Form zweier Geschlechtskörper materialisiert, erscheint es gerechtfertig, das Hauptproblem in der Reifizierung der Kategorie Geschlecht selbst zu sehen. Dieses gender-Verständnis ist somit angeordnet um einen Grundkonsens, in dessen Perspektive die Kritik an und das Anliegen der Überwindung der Zweigeschlechterordnung – die sog. Dekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit – als der sowohl politisch wie theoretisch radikalste Standpunkt erscheint. Und es ist dieses deshalb so zu nennende dekonstruktive gender-Verständnis, dass dann in dem von mir so bezeichneten Handbuch-Wissen als der nicht mehr hintergehbare Stand der Wissenschaft erscheint.
2. Was ist Subjektivierung? Kritik am Konstruktionsbegriff
Was somit die Essentialismuskritik an die Stelle des Marxismus hat treten lassen, ist diese Logik der Fundierung, in deren Folge das Wegbrechen des Marxismus nicht mehr als ein solches erscheint. Die Essentialismuskritik, die so an die Stelle der marxistischen Begrifflichkeit trat, tat dies jedoch nur um den Preis einer entscheidenden Verschiebung, ja, man müsste sagen, indem sie diese in völlig sinnentstellter Weise wiedergab. Dies wird spätestens dort deutlich, wo das englische „classness“ (Yuval-Davis 2006, 195) zu uns als „Klassismus“ zurückkehrt (Degele/Winker 2007, 7). Der Atlantik ist hier zu einer Art alchimistischem Labor geworden, das die gesellschaftlichen Verhältnisse bei Marx in – zu dekonstruierenden – Identitäten verwandelte!
Um diesen Unterschied – den Unterschied zwischen „gesellschaftlichem Verhältnis“ und „Identität“ – zu verdeutlichen, möchte ich kurz auf eine für den Beginn der feministischen Theorie wichtige Überlegung zurückgreifen. Es war die Feststellung Rosa Luxemburgs, dass der Kapitalismus nur innerhalb eines nicht-kapitalistischen Milieus gedeihen und nur solange weiterexistieren kann, als er „dieses Milieu vorfindet“ (1978, 313f), die die Bielefelder Soziologinnen um Maria Mies, Claudia von Werlhof und Veronika Bennholdt-Thomsen in den 1970er Jahren dazu brachte, die Hausarbeit als ein solch „nicht-kapitalistisches“ Milieu zu begreifen (Mies 1983, Bennholdt-Thomsen 1981). Wenn Frauen nun aus historischen Gründen mit diesem „nicht-kapitalistischen“ Teil der ökonomischen Produktion assoziiert sind, so generiert diese spezifische Position auch eine Form der Subjektivierung, doch scheint diese als Identitätszuschreibung kaum adäquat erfasst. Frauen sind vielmehr mit der nicht-gedachten Voraussetzung der kapitalistischen Produktion assoziiert, was, um in einer älteren Terminologie der feministischen Theorie zu sprechen, sie in eine Art „inkludiertem Außerhalb“ zu den nun grundsätzlich männlich konnotierten gesellschaftlichen Austauschsystemen versetzt; ihre Form der Subjektivierung wäre so betrachtet eher von einem Androzentrismus gespiesen als von der Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit (Kurz-Scherf 2009a+b), was in der feministischen Theorie zunächst als das Problem umschreiben wurde, dass die Subjektposition in unserer Denktradition grundsätzlich eine männliche ist. So betrachtet geht mit dem ‚Fundierungsanspruch’ der Cultural Studies also auch eine Verschiebung von Androzentrismuskritik zu Identitätskritik einher, in deren Folge nun beide Geschlechter als gleichermaßen ‚konstruiert’ erachtet werden.
Das Problem dieser Zentrierung auf eine Strategie der De-ontologisierung scheint mir deshalb darin zu liegen, dass sie nur eine ganz bestimmte Form von Subjektivierung zu denken erlaubt. Durch die Eskamotierung des Marxismus und die Fokusverlagerung auf Essentialismuskritik wird der Konstruktionsbegriff der gender-Theorie nicht nur ahistorisch, sondern auch eng: Geschlechter werden überzeitlich konstruiert, gemäss der heterosexuellen Norm, womit Subjektivierung zwangsläufig nicht anders denn als Identitätsfestschreibung gedacht werden kann. Durch diese ahistorische Setzung kann Subjektivierung und also die Weise, wie Menschen in Machtverhältnisse einer bestimmten Gesellschaftsformation eingebunden werden, nicht mehr auf einen möglichen Wandel in den Produktionsverhältnissen rückbezogen werden. Ich werde argumentieren, dass es diese Entkoppelung der Subjektivierung von den Produktionsverhältnissen ist, die zu der genannten Passfähigkeit führt. Denn in der Folge kann die Kritik Subjektivierung nur in einer Weise denken, die schwerlich zu den Geschlechterregimen spätkapitalistischer Gesellschaften passt.
In dieser Weise unangefochten ist das dekonstruktive gender-Verständnis denn auch nur im deutschsprachigen Raum. Wiederholt wurde in den USA darauf hingewiesen, dass anstelle einer vorbehaltlosen Bejahung der Pluralisierung von Identitäten und der Unterstellung ihres subversiven Potentials vielmehr zu fragen wäre, ob das Instabilwerden von Identitäten nicht ganz einfach auf die veränderten Produktionsweisen des Spätkapitalismus und die damit einhergehende Entstandardisierung von Lebensformen zurückzuführen sei. (Jameson 1986; Creydt 1993; Annuß 1996, 509) Anstatt Rechte für queere Sexualitäten einzufordern resp. für die Anerkennung sexueller Diversitäten zu streiten, würde es, so die amerikanische Theoretikerin Rosemary Hennessy, vielmehr darum gehen, zu verstehen, wie die Konstituierung der Sexualität als eines eigenen Gegenstandbereichs selbst dem Kontext des entstehenden Kapitalismus des 19. Jahrhundert entstammte (2000, 67/105-109/183-189). Schon vor über 10 Jahren hat deshalb auch bei uns Evelyn Annuß sehr grundsätzlich in Frage gestellt, dass das Auftauchen pluraler Identitäten als Erfolg oder auch nur Effekt politisch-kultureller Kämpfe zu betrachten sei (1996, 513).
3. Neues Akkumulations- und Geschlechterregime seit Mitte der 1970er Jahre
Alle diese Kritiken verbindet die Feststellung, dass spätkapitalistische Gesellschaften gerade nichts mehr anzufangen wissen mit Geschlechterstereotypen, dass sie neue und andere Anforderungen an die Individuen stellen, in denen sich diese gerade nicht mehr an tradierten Vorstellungen orientieren sollen und in welchen sich normative Geschlechterleitbilder eher als hinderlich erweisen (Kohlmorgen 2004, 273ff). Wollte man deshalb das gegenwärtige Geschehen erfassen, müsste man mit Janine Brodie vielmehr davon sprechen, dass sich das gegenwärtige Geschlechterregime durch ein schwer durchschaubares Nebeneinander einer gleichzeitigen „Intensivierung und Erodierung“ der Bedeutung von Geschlecht auszeichnet (2004, 25). Wenn wir heute als Marktteilnehmer adressiert und (re‑)formiert werden, so geht damit gerade die Aufforderung einher, im Namen der Vielfalt von unserem Geschlecht zu abstrahieren. Brodie spricht deshalb davon, dass der neoliberale Umbau der Gesellschaft einer versteckten Geschlechteragenda folge, die sie als die gleichzeitige „Auslöschung und Neueinsetzung“ von Frauen als dem hauptsächlichen Subjekt sozialstaatlicher Reformen beschreibt (ebd., 20). Hinzuzufügen wäre, dass diese „Neueinsetzung“ kaum mehr über Normen vermittelt verläuft. Zwar wird im Zuge des Sozialabbaus stillschweigend davon ausgegangen, dass Frauen es sind, die die daraus erwachsenden Mehrarbeiten für die privaten Haushalte erneut in Gratisarbeit übernehmen. Doch wird diese Zuständigkeit nicht mehr normativ vermittelt, denn gleichzeitig werden auch Frauen sehr wohl als geschlechtslose ‚Marktteilnehmer’ adressiert, die dem Markt unabhängig von ihren reproduktiven Aufgaben zur Verfügung stehen sollen. Geschlecht, so Brodie, ist damit als organisierendes Prinzip der Sozialpolitik verschwunden, was es Frauen zunehmend verunmöglicht, „als Gruppe kollektive Ansprüche an den Staat in Bezug auf Gleichheit, Ressourcen oder Sicherheit zu stellen“ (ebd., 27). Es lässt sich deshalb sagen: Es gibt sie noch, die Ideologischen Staatsapparate, aber gegenüber dem fordistischen System ist ihr Machteffekt ein grundsätzlich anderer. Es ist die De-thematisierung von Geschlecht, die heute Geschlechtersegregation hervorruft. Wenn alle Bürger vor dem Markt gleich sind und alle für Gleichstellung sind, so wird es mehr oder weniger unmöglich, die offenbar gleichwohl noch vorhandene kollektive Betroffenheitslage als solche zu artikulieren. Und es ist genau dieser Umstand einer kollektiven Entnennung, der erneut Geschlechterhierarchien hervorbringen wird.4
Nun ließe sich etwas zugespitzt sagen, dass das Konzept von gender dieser De-thematisierung zuarbeitet, indem auch es die Artikulation eines Kollektivs: ‚Frau’ verbietet. Zumindest aber kann es diese Veränderung in den Ideologischen Staatsapparaten und damit die Weise, wie diese die Menschen anruft, weder erfassen noch gar reflektieren. Dies liegt an der zugrundegelegten Machtkonzeption. Wenn Macht primär als Normierung und diese wiederum als Identitätsfestschreibung aufgefasst wird, kann Subversion nur in der Einforderung pluraler Identitäten geortet werden. Was hier aus dem Blick gerät, ist, dass damit von Seiten der Kritik als Forderung erhoben wird, was längst als Anforderung von außen an uns hertritt. Ich solle ja gerade über eine flexible Handhabung meines eigenen genders verfügen und sollte mir das noch Mühe bereiten, wird mir die Abteilung für Gleichstellungsfragen beim Erwerb dieser Schlüsselkompetenz gern behilflich sein. Diese ist nämlich ganz im Sinne des aktivierenden Staates dazu übergegangen, für die Gleichstellung nicht mehr selber zuständig, sondern umgekehrt dafür besorgt zu sein, dass die Bürgerinnen diese selbst in ihre Hand nehmen (Wichterich 2007). Und gender wird ihr dabei behilflich sein. Ich meine deshalb, dass das Konzept von gender mit seiner These vom Geschlecht als sozialem Konstrukt und der damit verbundenen Vorstellung von der Verhandelbarkeit des eigenen genders von einem Instrument der Kritik längst selbst zu einer „politischen Technologie der Individuen“ (Foucault 1993) geworden ist, wie sie für neoliberale Menschenführungstechniken kennzeichnend ist.
Wenn es denn ein Merkmal neoliberaler Anrufungsweisen ist, strukturelle Bedingungen und Restriktionen so zu rahmen, dass sie individuell handhabbar erscheinen, so scheint sich die Passfähigkeit des gender-Konzepts mit der für dieses Konzept konstitutiven Fokussierung auf Geschlechtsidentitäten zu erklären. Zwar würde das dekonstruktive gender-Verständnis, entgegen einem landläufigen Vorwurf, nicht von der beliebigen individuellen Gestaltbarkeit des eignen ‚genders’ ausgehen, indem es gerade dessen gesellschaftliche Bedingtheit betont. Doch bleibt die Gemeinsamkeit in der Verortung der Problematik im Bereich der Identität: Eine zentrale Strategie neoliberaler Subjektivierungsweisen besteht darin, strukturelle, zeit- und allgemeinökonomische Zwänge als Effekt individuellen Verhaltens erscheinen zu lassen und damit gesellschaftliche Konfliktlagen zur Lösung in das Individuum rückzuverlagern. Es ist genau in diesem Punkt, dass das Konzept von gender die entscheidende Handreichung bietet, indem es eine historisch entstandene gesellschaftliche Arbeitsteilung als eine Frage von gender – von Geschlechtsidentitäten – verhandelt. Dabei wird eine gesellschaftlich notwendige Arbeit, mit der Frauen aus historischen Gründen identifiziert sind, zunächst als Verhalten umdefiniert und hernach als Rollenverhalten diskreditiert. Die Frage nach der gesellschaftlichen Organisation der bisher von Frauen unentgeltlich geleisteten Arbeit gerät so erst gar nicht in den Blick. Stattdessen bahnt sich eine Art Verhaltenstherapie der Geschlechter an: das Problem wird in verkehrten Rollenerwartungen, Werthaltungen, ja gar Körperhaltungen vermutet, denen mit Aufklärung und Trainings zu begegnen ist. Weil es jedoch Frauen sind, die mit etwas identifiziert sind, das, als Rollenverhalten missverstanden, mit einem anderen Rollenverhalten auch nicht verändert werden kann, sind primär sie es, die mit den Konsequenzen der daraus resultierenden Unmöglichkeit konfrontiert sind. Sie sind beständig dazu aufgerufen, anhand ihrer Identität etwas auszuhandeln, das eigentlich nicht in ihre Identität, sondern zur Bearbeitung zurück in die Gesellschaft gehört. Es ist dieser Fokus der dekonstruktive Kritik, die diese auch in ihrer Kritik an Identitätspolitik insofern Identitätspolitik bleiben lässt, als sie sämtliche Kategorien der Gesellschaftsanalyse als Identitäten umdeutet – und damit missversteht.
Dies verweist auf eine meines Erachtens überhaupt zentrale Problematik des cultural turns: Der mit der Kritik an Essentialismen einhergehende Fundierungsanspruch verweist mit seiner Abwehr einer Ontologisierung auf eine wichtige Gemeinsamkeit mit einer Denkfigur des Liberalismus: Das Recht auf Differenz wird über kollektive Interessen gestellt, oder noch präziser formuliert ließe sich in Abwandlung von Benthams Diktum sagen, dass hier davon ausgegangen wird, dass die Differenz aller auch dem Kollektiv am meisten diene. Dies einmal gesetzt scheint die Kritik an Bedeutungsfestschreibungen wichtiger als die Artikulation kollektiver Betroffenheitslagen, die notwendig nicht ohne solche, wenn auch kaum ontologisch begründete, Festschreibungen auskommen kann. Dieses Primat einer De-Ontologisierung führt aber zu dem, was auch als „Queerer Liberalismus“ bezeichnet wurde (Sengal 2009, 425). Was hier aufscheint, ist dieses dem liberalen Gedankengut eigentümliche Recht auf Andersheit, das sich gleichwohl infolge der strikten Abstinenz hinsichtlich kollektiver Forderungen nicht um die materiellen Bedingungen der Verwirklichung dieser Andersheit kümmert. Dies mag erklären, warum der Kapitalismus sich als dieser ausgesprochene Förderer von Differenzen entpuppt hat, die, so schrill sie auch sein mögen, ihn gleichwohl kaum tangieren. Die slovenische Philosophin Alenca Zupančič spricht in diesem Zusammenhang von einem brisanten, für den Kapitalismus konstitutiven Nebeneinander einer fortwährenden Produktion immer neuer Differenzen, die gleichzeitig laufend an Bedeutung verlieren. Die kapitalistische Produktion, so Zupančič, müsse als eine gigantische Produktion von Andersheit betrachtet werden, die in ihr gleichzeitig in Wert gesetzt und damit in ihrer Andersheit wieder neutralisiert werde (2006, 174f). Kapitalismus ist so der wichtigste Förderer von Differenzen, aber er ist gleichzeitig auch jener Mechanismus, der ebendiese Differenzen marktförmig aufhebt und ausgleicht. Dies mag seine Vorliebe für den Liberalismus erklären: warum der Kapitalismus zum größten Fürsprecher aller möglichen freiheitlichen Rechte und hier insbesondere des Rechts auf Andersheit geworden ist; und warum er im selben Zug der größte Deaktivator eines tatsächlich befreienden oder subversiven Potentials ebendieser Differenzen ist (Žižek 2002, 73; 2009).
Bereits Ende der 1970er Jahre hat Michel Foucault in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität (2004a+b) in einer weitsichtigen Vorwegnahme auf eine neue Form von „Menschenregierungskünsten“ hingewiesen (1992, 10), wie sie den damals neu sich abzeichnenden Neoliberalismus charakterisierten: Es sei, so Foucault, eine Machtform, die kaum absolute Kontrolle anstrebe, sondern vielmehr über die Freisetzung von Individualität operiere. Es sei eine Machtform, die die Menschen nicht zwinge, sondern sie lediglich darin anleite, sich innerhalb von mehr oder weniger unkalkulierbaren Wahrscheinlichkeiten selbst zurecht zu finden. Foucault wollte uns damit für das ambivalente Phänomen einer Macht sensibilisieren, die nicht über Verbote regiert, sondern die Freiheit als die für sie wichtigste Ressource einsetzt. Was Foucault damit vor Augen stand, könnte man als die paradoxe Herrschaftsförmigkeit von Individualität bezeichnen. Diese „politische Technologie der Individuen“ ist nicht weniger herrschaftsförmig. Doch muss man dafür einen anderen Begriff als den der Repression finden. Es ist die Freiheit selbst, die nun als verordnete ein repressives Antlitz erhält, indem sie, weit davon entfernt, uns etwas vorzuenthalten, uns vor die Auswahl vermeintlich unendlicher Möglichkeiten stellt. In Anlehnung an das eben gesagte ließe sich formulieren, dass diese Omnipräsenz der Möglichkeiten gleichzeitig eine Potenzierung der Unmöglichkeit darstellt. Denn sie verstrickt die Individuen in eine erschöpfende Selbstoptimierungsmaschinerie, deren Ursache sie scheinbar selbst sind. Soziologische Untersuchungen zu gegenwärtigen Formen der Subjektivierung sprechen denn auch längst nicht mehr von Normierung. Ihr Gegenstand ist das Leiden der Individuen an diesen neuartigen ‚Praxen der Freiheit’; sie sprechen vom „Zwang zum souveränen Selbst“ (Rau 2005, 57), ja gar, von der „Müdigkeit, man selbst zu sein“ (Ehrenberg 2001). Neben solchen Zeitdiagnosen, die auf die Fallstricke einer vermeintlich endlosen Möglichkeit zur Diversifizierung des eigenen Selbst fokussieren, nimmt sich die Festschreibungskritik des gender-Konzepts, diese Leidenschaft für den „Abbau von Identitätszwängen“ (Bührmann/Wöllmann 2006, 190) merkwürdig altertümlich aus und wirkt ihr Anspruch auf Radikalität irgendwie anachronistisch. Wenn, wie Foucault vermutet, es gerade das Individuelle ist, das machtintegrierend wirkt (1993, 186), so scheint die Kritik an normativen Zuschreibungen, ebenso wie die im Namen der Individualität erhobene Forderung nach unendlicher Pluralisierung, beispielsweise geschlechtlicher Identitäten, in eigentümlicher Weise ins Leere zu greifen.
Es wäre also sehr grundsätzlich zu fragen, wie diese neue Weise der Subjektivierung, wie sie für spätkapitalistische Gesellschaften kennzeichnend ist und derer sich neoliberale Führungstechniken offenbar zu bedienen wissen, zu konzipieren wäre. Wenn aus dem Freiheitsversprechen der neoliberalen Anrufungsweisen leicht ein Imperativ zur Freiheit werden kann und somit das machtintegrierenden Moment der Subjektivierung in der paradoxen Herrschaftsförmigkeit von Freiheit selbst gesucht werden muss, so ist jedenfalls weder die Kritik an normativen Festsschreibungen noch der Rekurs auf ein angeblich subversives Potential der durch Identitätsfestschreibungen verstellten Differenzen dazu geeignet, das hier Vorsichgehende zu erfassen.
Ich bin von Nancy Frasers Feststellung einer merkwürdigen Koinzidenz der Entstehung der Neuen Frauenbewegung mit dem damals ebenfalls im Entstehen begriffenen Neoliberalismus ausgegangen. Anders als Nancy Fraser führe ich die daraus entstandene Passfähigkeit vieler Forderungen der Frauenbewegung mit den Erfordernissen dieses neuen kapitalistischen Regimes nicht (nur) darauf zurück, dass im Zuge der Fokussierung auf Identitätskritiken im feministischen Diskurs Fragen des Kulturellen zu sehr die Fragen der politischen Ökonomie verdrängt haben. Ich habe umgekehrt argumentiert, dass es die Entkoppelung und insbesondere das Wegbrechen marxistischer Fragestellungen in der Weise ist, wie Subjektivierung thematisiert wird, die diese Passfähigkeit begünstigten. In der Folge ist es nicht der Umstand dieser Thematisierung, sondern seine Form, die Weise, in der das machterhaltende Element in der Subjektivierung konzipiert wird, die problematisch ist. Im Zuge dieser Entkoppelung wurde Subjektivierung nicht länger auf die Veränderungen in den Produktionsverhältnisse rückbezogen und damit zunehmen in einer Weise konzipiert, die neu entstehende Einbindungsweisen der Menschen in die Machtverhältnisse des postfordistischen Systems nicht nur nicht erfassen konnte. Darüber hinaus stellte sich die im Rahmen der feministischen Theorie formulierte Identitätskritik nun zunehmend selbst in den Dienst dieses neuen Regimes.
Es geht nicht einfach nur darum, dass der Diskurs um Anerkennung zu dominant geworden ist, wie Fraser argumentiert, sondern es geht meines Erachtens vielmehr darum, dass die subjekttheoretischen Annahmen, die diese Forderung nach Anerkennung von Differenzen leitet, falsch sind. Sie sind falsch, weil sie die für die postfordistische Produktionsweise und deren Geschlechterregime erforderlichen Subjektivierungsweisen nicht nur nicht erfassen, sondern sich ungewollt ihrerseits zu einem Instrument dieser neuen Subjektivierungsweisen machen. Anstatt die Anerkennung von Differenzen zu fordern, würde es deshalb vielmehr darum gehen, zu fragen, wie diese Differenzen möglicherweise überhaupt erst durch bestimmte Veränderungen in den Produktionsverhältnissen entstanden sind (Annuß 1996, 509). Es ist diese Verbindung von Kapitalismuskritik und sexueller Politik, die zu Beginn der Zweiten Frauenbewegung die Thematisierung von Sexualität immer mitleitete, die verloren ging.
Tove Soiland ist Lehrbeauftragte an verschiedenen deutschsprachigen Universitäten und unterrichtet bei einer Gewerkschaft in Zürich. Eben ist Ihre Dissertation erschienen: Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz. Eine dritte Position im Streit zwischen Lacan und den Historisten. Wien/Berlin: Turia + Kant 2010.
1/2 Vgl. den Masterstudiengang „Gender- und Diversity-Kompetenz“ an der Freien Universität Berlin.
3 Es kann nicht genug betont werden, dass das, was über den Umweg der USA zu uns als ‚französischer Poststrukturalismus’ zurückgekehrt ist, oft nur noch sehr wenig mit den ursprünglich französischen Konzepten des Poststrukturalismus zu tun hat. Dies trifft insb. für die US-amerikanische Rezeption Michel Foucaults zu. Ich habe dies bezüglich der Geschlechterfrage ausgeführt in Soiland (2010, 34-119).
4 Vgl. zu diesem Punkt auch Pühl (2004), Ortner (2007) und Ludwig (2006).
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph