von Urmila Goel
aus telegraph #120/121
Eine Frau zieht vor das Arbeitsgericht, weil sie eine diskriminierende Absage auf eine Bewerbung bekommen hat. Auf dem zurückgesandten Lebenslauf fand sich laut Presseberichten der Vermerk „(-) Ossi“. Ein Fall für das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG), so argumentiert zumindest ihr Anwalt. Ganz so einfach ist es aber nicht, denn das Ziel des AGG ist „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“ Eine Diskriminierung aufgrund der Herkunft aus Ostdeutschland scheint damit nicht abgedeckt. Es sein denn, ‚Ostdeutsch‘ wird als eigene Ethnie konstruiert – was der Anwalt nun versucht. Dieser Fall zeigt, dass mehr als zwanzig Jahre nach dem Mauerfall das vereinigte Deutschland noch immer geteilt ist, und dass nicht nur juristische Fragen noch offen sind. Umfragen ergeben zudem immer wieder, dass sich viele Menschen im Osten Deutschlands als Bürger_innen zweiter Klasse in Deutschland fühlen. In diesem Artikel argumentiere ich auf Basis von machtkritischen Theorieansätzen wie der postkolonialen Theorie, der kritischen Weißseinsforschung und den Gender und Queer Studies, dass zur Analyse von Problemen im Vereinigungsprozess der Blick in den Westen Deutschlands gewendet werden muss. Es ist zu analysieren, über welche unbenannten Privilegien ausschließlich im Westen sozialisierte Menschen verfügen und wie sie auf deren Basis ständig Normen (re)produzieren, die im Osten sozialisierte Menschen als Andere konstruieren und so ausgrenzen. Im Einzelnen diskutiert der Artikel das Privileg der unmarkierten Norm, das Privileg der Kontinuität und Stabilität, das Privileg der Verschiebung von Problemen und das Privileg der Konstruktion der Abweichenden.1
Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer
Das Jahr 2009 wurde begleitet von Feierlichkeiten zum zwanzigsten Jahrestag des Falls der Mauer. Deutsche Institutionen feierten letztes Jahr die fortschreitende Vereinigung und sich selbst. So lud, zum Beispiel, der Bundespräsident deutsch-deutsche Paare ein, um zu zeigen, wie weit die individuelle Vereinigung gegangen ist. Auch der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer und sein Team haben das Jubiläumsjahr zum Anlass genommen, ihren jährlichen Bericht „Deutsche Zustände“ dem Stand des Vereinigungsprozesses zu widmen. Ihre statistischen Auswertungen bestätigen das, was auch viele andere Studien vorher schon festgestellt haben: Viele Bürger_innen2 Ostdeutschlands fühlen sich in Deutschland als Bürger_innen zweiter Klasse. Viele sind nicht zufrieden damit, wie sich der Vereinigungsprozess entwickelt hat und fühlen sich durch Menschen aus Westdeutschland nicht ausreichend als gleichwertig anerkannt. Zudem schließen die Wissenschaftler_innen aus den ihnen vorliegenden Daten, dass die Zustimmung zu diskriminierendem Verhalten gegenüber Menschen, die nicht als aus Deutschland stammend angesehen werden, im Osten signifikant höher sei als im Westen. Mit diesen beiden Beobachtungen lassen sich jenseits der allgemeinen Feierstimmung zwei dominante Bilder aus der Westperspektive über die Menschen im Osten bestätigen: erstens, sind diese nie zufrieden mit dem, was sie haben (dies läuft auch unter dem Schlagwort ‚Jammerossi‘), und zweitens haben sie den Rechtsextremismus nach Deutschland gebracht. In Zeiten der Wirtschaftskrise wird zudem zunehmend in Frage gestellt, dass der Osten Deutschlands weiter wirtschaftliche Zuwendungen aus dem Westen bekommen soll. So hat Bundeskanzlerin Angela Merkel im Dezember 2008 gefordert, dass mehr Investitionen in den Westen fl ießen müssten und damit implizit Abstand vom ‚Aufbau Ost‘ genommen (obwohl sie selber im Osten sozialisiert wurde). Dieser Vorstoß stieß insbesondere unter Politiker_innen in Ostdeutschland auf so massive Ablehnung, dass Merkel ihren Vorschlag sehr schnell abschwächte. Viele Menschen im Westen werden ihrer Forderung aber zugestimmt haben. Zur Vereinigung Deutschlands und der Entwicklung in Ostdeutschland gibt es zahlreiche Studien. Diese kommen zu unterschiedlichen Einschätzungen darüber, wie erfolgreich der bisherige Prozess war und wie, zum Beispiel, die wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland zu bewerten sei. Aber unabhängig davon, wie die Situation im Osten von den Wissenschaftler_ innen eingeschätzt wird, bleibt der Eindruck, dass sich ein großer Teil der Menschen in Ostdeutschland als Bürger_innen zweiter Klasse fühlen. Auch hierfür gibt es wieder unterschiedliche Erklärungsansätze. Zentral dabei scheint, dass viele Menschen in Ostdeutschland sich und ihre Biographien im vereinigten Deutschland nicht ausreichend anerkannt fühlen. Die fehlende Anerkennung ist – meiner Analyse nach – jene, die von Menschen in Westdeutschland und insbesondere von Politik und Medien, die von im Westen sozialisierten Menschen dominiert werden, kommen müsste. Es wäre daher zu analysieren, wieso im Westen Sozialisierte den im Osten Sozialisierten die Anerkennung verweigern – und ihnen wie im Falle der abgelehnten Bewerbung auch den Zugang zu Ressourcen verweigern. Ein systematischer Blick auf die westsozialisierten Menschen scheint allerdings in den meisten Studien über die Probleme des Vereinigungsprozesses zu fehlen. Die Diskussionen drehen sich in der Regel um die abweichenden Anderen (Ostdeutschland), während das dominante System und seine Vertreter_innen (Westdeutschland) als überlegen und an den Problemen unbeteiligt imaginiert werden. Es bleibt abzuwarten, ob das laufende Verfahren vor dem Arbeitsgericht hier eine Änderung bewirken wird.
Perspektive
Ich wurde 1970 in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) geboren. Bis zum Fall der Mauer 1989 fuhr ich regelmäßig (erst mit meinem indischen Pass, später mit einem bundesdeutschen) in die DDR. Ich erlebte die Grenzkontrollen, ging mit zum Registrieren bei der Volkspolizei und wusste sehr genau, dass die deutsch-deutsche Grenze menschenverachtend organisiert ist. Vor allem auch weil sie nur sehr einseitig durchlässig war. Meine Großeltern konnten uns im Westen erst nach ihrer Pensionierung besuchen und eine meiner Tanten bekam gar keine Reiseerlaubnis. Der Fall der Mauer und die damit verbundene Reisefreiheit bedeutete daher für unsere Familie tatsächlich eine (Wieder)Vereinigung. Wir konnten uns gegenseitig besuchen, so oft und wann wir wollten, und haben bis heute einen sehr engen Kontakt. Fünfzehn Jahre nach dem Fall der Mauer zog ich nach Ostberlin und lehrte an einer ostdeutschen Universität. Ich bekam mehr Kontakt mit im Osten sozialisierten Menschen und begann meine eigenen Privilegien als westdeutsch Sozialisierte im vereinigten Deutschland wahrzunehmen. Dies ist der Ausgangspunkt für diesen Artikel. In diesem Artikel will ich die ungleiche Positionierung von im Westen sozialisierten und im Osten sozialisierten Menschen darstellen und problematisieren. Damit (re)produziere und betone ich unweigerlich diese Dichotomie und ringe dabei immer wieder mit Begriffen. Ich benutze in Anlehnung an den zurzeit dominanten Gebrauch der Begriffe in Deutschland Westen für die Gebiete, die bis zum Fall der Mauer Teil der BRD und West-Berlin waren. Mit Osten bezeichne ich die Gebiete, die Teil der DDR waren. Ich spreche von im Westen oder Osten sozialisierten Menschen, um ihre Positionierung und nicht ein fiktives essentielles Sein zu betonen.
Machtkritische Theorieansätze
Um die Rolle der im Westen Sozialisierten im Vereinigungsprozess zu analysieren, hilft der Rückgriff auf machtkritische Theorieansätze wie die postkoloniale Theorie, die kritische Weißseinsforschung oder die Gender und Queer Studies. Die postkoloniale Theorie betrachtet unter anderem die Konstruktion der Anderen durch (post)koloniale Akteur_innen sowie die Reaktion der Kolonialisierten auf die (post)koloniale Hegemonie. Die kritische Weißseinsforschung betrachtet die hegemoniale Position in einem rassistischen System, die mit ‚weiß‘ bezeichnet wird. Die Gender und Queer Studies schließlich analysieren das Zusammenspiel von konstruierter Zweigeschlechtlichkeit, komplementären und hierarchisierten Geschlechterrollen sowie gegenseitigem Begehren. All diese kritischen Denkansätze hinterfragen die als selbstverständlich geltenden Normen, indem sie sie thematisieren und dekonstruieren. Der Blick verweilt nicht ausschließlich auf denen in der marginalisierten Position, also jenen die als Kolonisierte, Rassifizierte3, Frauen, Trans*4 oder nicht heterosexuell lebende Personen als abweichend von der Norm konstruiert werden. Er wird auch zu jenen gewendet, die in der hegemonialen Position sind und die in der Regel nicht weiter benannt werden. So ist es, zum Beispiel, in deutschen Medienberichten nicht üblich eine Politiker_in als ‚weiß‘ oder männlich oder heterosexuell zu benennen. Wenn diese Politiker_in aber nicht ‚weiß‘ oder nicht männlich oder nicht heterosexuell ist, dann wird dies viel eher zum Thema öffentlicher Debatten. Die machtkritischen Theorieansätze analysieren, welche Privilegien mit dieser unmarkierten Norm verbunden sind, und hinterfragen ihre Legitimität. Betrachtet werden insbesondere als selbstverständlich erachtete Privilegien. Dazu gehört das Privileg zu wissen, dass man gemeint ist, wenn von einem allgemeinen Wir gesprochen wird, oder das Privileg nicht befürchten zu müssen, aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie, Diskriminierungen zu erfahren. Diese Privilegien werden von jenen, die sie genießen, in der Regel nicht als Privilegien sondern als selbstverständlich wahrgenommen. Die Privilegierten merken selten, dass es genau diese Privilegien sind, die die Marginalisierten weiter marginalisieren, die ihnen den Zugang zu Ressourcen verstellen und die den Privilegierten die gesellschaftliche Macht sichern. Die Selbstverständlichkeit der Dichotomie zwischen den als normal Betrachteten (mit einem privilegierten Zugang zu Ressourcen und Macht) und den als Andere Konstruierten (mit eingeschränktem Zugang zu Ressourcen und Macht) wird durch unterstützende Wissensproduktion naturalisiert und legitimiert. Innerhalb des dominanten Wissensarchivs und in den durch dieses geprägten Institutionen kann die Dichotomie daher kaum in Frage gestellt werden. Die machtkritischen Theorieansätze stellen die ‚Natürlichkeit‘ der Dichotomien in Frage, betrachten den Konstruktionsprozess und die unterschiedlichen Machtpositionen, die ihnen zu Grunde liegen. Dieses theoretische und methodische Vorgehen der Dekonstruktion von als normal Angesehenem nutze ich im Folgenden, um das Verhältnis von im Osten und Westen Deutschlands Sozialisierten zueinander zu analysieren.
Unmarkierte Norm
„Ende der 1960er herrschte in Deutschland Pflegenotstand. Es wurden dringend Fachkräfte für den deutschen Gesundheitssektor gesucht“, schrieb ich vor ein paar Jahren in einem Artikel über die Migration von Krankenschwestern aus Indien in die Bundesrepublik Deutschland. Welche Bilder, liebe Leser_in, entstehen in Ihrem Kopf, wenn Sie diese Sätze lesen? Zweifeln Sie darüber, über welches Deutschland ich schreibe? Überlegen Sie, ob es in der BRD oder in der DDR (oder in beiden Ländern) einen Pflegenotstand gab? Oder ist es Ihnen klar, so klar wie es mir beim Schreiben war, dass ich über den Pflegenotstand in Westdeutschland schreibe (und gar nicht weiß, ob in der DDR auch einer herrschte)? Bis zur Vereinigung war es in der BRD völlig klar, dass die Begriffe BRD und Deutschland als synonym verwandt wurden. Um genau zu sein, wurde im allgemeinen (nicht offiziellen) Sprachgebrauch eigentlich nur von Deutschland gesprochen. Die Abkürzung BRD war keine, die in Westdeutschland eine weite Verbreitung gefunden hätte und auch der Zusatz West war kein notwendiger. Dass Westdeutschland für Deutschland steht war klar. So war es auch völlig klar, dass die deutsche Fußballmannschaft in der BRD zusammengestellt wurde. Es war klar, dass Menschen aus Westdeutschland auf Reisen im Ausland sagten, sie kämen aus Deutschland. Meist wurden sie dabei so verstanden, wie sie es auch gemeint hatten. Westdeutschland war die Normannahme, die nicht weiter zu benennen war. Wenn es um die DDR ging, dann musste das explizit gesagt werden. Die Mannschaft der DDR hätte nie die deutsche sein können – zumindest nicht aus der Perspektive der ‚westlichen‘ Welt. Dabei war es für die meisten Menschen in Westdeutschland auch klar, dass das Gebiet, das die DDR umfasst, auch zu Deutschland gehört. In Westdeutschland war es lange verpönt von der DDR zu sprechen. Stattdessen wurde die Abkürzung SBZ (Sowjetische Besatzungszone) benutzt, um zu betonen, dass dieser Staat nicht anerkannt wird und dass er widerrechtlich von der BRD abgetrennt wurde. Die Bürger_innen der DDR hatten ein Anrecht auf die bundesdeutsche Staatsangehörigkeit und das Grundgesetz der BRD formulierte in Artikel 23: „In anderen Teilen Deutschlands ist es [das Grundgesetz, ug] nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“ Die bundesdeutschen Gesetzgeber_innen hatten sich selbst also schon im Grundgesetz die Regelungsgewalt über den Osten Deutschlands gegeben. Die Vereinigung erfolgte dann auch auf Grundlage dieses Artikels, womit Ostdeutschland quasi Teil Westdeutschlands wurde. Dieses Hinzukommen zu etwas Bestehendem setzt sich bis heute sprachlich in der Bezeichnung ‚neue Bundesländer‘ für das Gebiet der ehemaligen DDR fort. Auch wenn durch den Beitritt das Gebiet der ehemaligen DDR 1990 Teil der BRD und damit Deutschlands im Sinne des Grundgesetzes wurde, werden auch nach der Vereinigung die Begriffe Deutschland und Westdeutschland weiter als Synonyme verwandt. Geht es um den Zeitraum zwischen 1949 und 1989, dann verweist auch heute noch der Begriff Deutschland in der Regel auf die damalige BRD, so wie in meinem Zitat zum Pflegenotstand. Nur wenige hinterfragen das und überlegen, ob die getroffene Behauptung denn tatsächlich für das ganze Gebiet, das heute als Deutschland gilt, zutraf. So lernen Studierende in einer Vorlesung über die Migration nach Deutschland an meiner Universität, die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR liegt, alles über die Migration in die BRD. Jene in die DDR wird weder von der Dozent_in noch von den Studierenden erwähnt und die Lücke auch nicht thematisiert. In Wissensspielen werden Kenntnisse über Ereignisse in Westdeutschland vor dem Fall der Mauer abgefragt (zum Beispiel in den Bereichen Entertainment, Sport oder Politik) und diese als gesamtdeutsches Wissen imaginiert. Fragen über Ereignisse in der DDR werden so gut wie nie gestellt und wenn dann nur aus einer westdeutschen Perspektive heraus. Die Geschichte Deutschlands wird meist als die Geschichte der BRD und ihrer Vorgängerinnen gedacht. Die Geschichte der DDR wird wenn überhaupt dann als weniger relevanter Sonderfall angesehen, meistens aber ganz ignoriert. Auch wenn über das vereinigte Deutschland die Rede ist, geht es in der Regel um Westdeutschland. In frauenpolitischen Diskussionen wird über das deutsche Modell der Versorgerehe gesprochen und kaum beachtet, dass im Osten Deutschlands die Berufstätigkeit von Frauen und Müttern die Norm war und immer noch als solche angesehen wird. In der Diskussion darüber, ob für Unter-Dreijährige eine Kinderbetreuung eingerichtet werden soll, wird davon ausgegangen, dass die westdeutsche Norm, dass die Kinder von ihren nicht-berufstätigen Müttern versorgt werden, die allgemeine deutsche Norm ist. Nicht sie scheint erklärungsbedürftig, sondern die abweichende Norm in Ostdeutschland, wo auch noch heute eine umfassendere Kinderbetreuung angeboten wird als im Westen. Die politisch diskutierte Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bezieht sich auf den westdeutschen nicht auf ostdeutschen Kontext. Gerade in Bereichen wie der Kinderbetreuung könnten Erfahrungen aus dem Osten für die Weiterentwicklung der Situation im Westen produktiv genutzt werden. Aber es besteht wenig Bereitschaft von im Westen Sozialisierten, die ostdeutsche Geschichte als Anregung für heutige Regelungen anzusehen. Das dominante westdeutsche Bild von der DDR ist sehr eindimensional. Da es das konkurrierende und verabscheute politische System war und da dort Menschenrechtsverletzungen begangen wurden, wird alles, was mit der DDR in Verbindung gebracht wird, pauschal abgelehnt. Ostdeutschland ist heute nur dann Teil der Vorstellung von Deutschland, wenn es sich nahtlos in die westdeutsche Kontinuität einpasst. Alles was davon abweicht, wird entweder gar nicht oder als Abweichung, aber nicht als Teil der deutschen Komplexität wahrgenommen.
Kontinuität und Stabilität
Die selbstverständliche Kontinuität der eigenen Geschichte, des Systems, in dem man lebt, und vor allem der eigenen Biographie, ist wohl eines der größten und am wenigsten bewussten Privilegien der in Westdeutschland sozialisierten Menschen. Mit dem Fall der Mauer und dem Beitritt der ehemaligen DDR zur BRD hat sich das Leben für die meisten in Westdeutschland lebenden Menschen nicht existentiell verändert. Im Wesentlichen vergrößerten sich die Optionen, die ihnen zur Verfügung standen. Sie konnten nun mehr Kontakt mit Familie und Bekannten in Ostdeutschland unterhalten (oder auch nicht). Sie konnten neue berufliche Chancen in den ‚neuen Bundesländern‘ ergreifen (oder auch nicht). Sie konnten sich als Bürger_innen eines national-gestärkten Landes verstehen (oder auch nicht). Sie konnten von den neuen Optionen Gebrauch machen oder auch nicht. Eines der wenigen Dinge, denen sich die westdeutschen Steuerzahler_innen nicht entziehen konnten, war der Solidarzuschlag für den ‚Aufbau Ost‘. Über diesen (und über die angeblich „arbeitsscheuen“ Ostdeutschen) beschwerten sich dann auch viele, die einfach nur ihr Leben weiterleben wollten. In dieser Kontinuität ihrer Lebensumstände unterscheiden sich die in Westdeutschland Sozialisierten grundlegend von jenen im Osten Sozialisierten. Für die letzteren hat sich das meiste im Leben geändert. Dinge, die für selbstverständlich gehalten wurden, sind es nicht mehr. Lebensplanungen wurden über den Haufen geworfen. Völlig neue Möglichkeiten und Unmöglichkeiten haben sich ergeben. Viele DDR-Bürger_innen haben mehr oder weniger aktiv dafür gekämpft, dass sich etwas in ihrem Land ändert. Sie sind auf die Straße gegangen und haben das System zu Fall gebracht (und nicht der Kanzler der BRD Helmut Kohl, der von vielen als Kanzler der Einheit gefeiert wird). Sie haben sich für mehr Freiheiten, für Demokratie, für die Möglichkeit zu Reisen und zu Konsumieren und für vieles mehr eingesetzt. Die meisten wollen vermutlich auf die erkämpften Freiheiten auch nicht mehr verzichten. Aber gleichzeitig ist es eine große Herausforderung, mit dem völligen Bruch im Leben umzugehen. Sie mussten sich in einem neuen System zurechtfinden, die neuen Selbstverständlichkeiten lernen, ihr individuelles Leben auf die neuen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ausrichten. Einige sind damit sehr souverän umgegangen, andere sind daran mehr oder weniger gescheitert (wofür der Begriff Wendeverlierer_innen geprägt wurde). Keine und keiner aber konnte so weitermachen wie vorher. Von verschiedenen im Osten Sozialisierten wird für diesen Umbruch das Bild der Migration ohne Wanderung benutzt. Die im Osten Sozialisierten migrierten mehr oder weniger freiwillig und mehr oder weniger bewusst in die BRD. Wie andere Migrant_innen ließen sie ein ihnen vertrautes System zurück und mussten sich in einem neuen zurechtfinden. Wie andere Migrant_innen auch wurden sie in dem Land, in das sie migrierten, als Andere wahrgenommen, die sich an das System anpassen müssen. Zudem mussten sie wie viele andere Migrant_innen aus den Ländern des globalen Südens und den Ländern des ehemaligen Ostblocks feststellen, dass ihre Sozialisation, ihre Werte und ihre Geschichte von den Menschen aus dem Westen nicht gewürdigt werden. Das was sie bisher gemacht hatten, das an das sie bisher geglaubt hatten und das wonach sie gestrebt hatten, wurde weitgehend entwertet von denen, die im vereinten Deutschland die Normen (re) produzieren. Das Ausmaß der Veränderung in den Leben der im Osten Sozialisierten durch die Vereinigung ist den meisten im Westen Sozialisierten wohl kaum bewusst und noch weniger nachvollziehbar. Aus ihrer eigenen Stabilität und Sicherheit sehen wenige, was die im Osten Sozialisierten individuell leisten mussten und noch leisten. Anstatt das Vollbrachte und die Herausforderungen anzuerkennen, wird vor allem auf das (noch) nicht Geschaffte und die angebliche fehlende Dankbarkeit geschaut. Aus dem Privileg der Kontinuität heraus lässt sich leicht und scheinbar zu Recht auf die herunter schauen, die nicht schnell genug (und in der für richtig gehaltenen Form) mit den Veränderungen zurechtkommen.
Probleme verschieben
Ein weiteres Privileg der im Westen Sozialisierten nach der Vereinigung scheint zu sein, dass gesellschaftliche Probleme in den Osten Deutschlands verschoben werden können. Die Investitionen in den ‚Aufbau Ost‘ werden verantwortlich gemacht für knappe öffentliche Haushalte. Den im Osten Sozialisierten wird fehlende Arbeitswilligkeit und –produktivität unterstellt, um niedrige Löhne und höhere Arbeitslosigkeit zu begründen. Aus den Statistiken zu diskriminierenden Einstellungen, die von Heitmeyer und seinem Team analysiert werden, wird geschlossen, dass die im Osten Sozialisierten stärker zur Diskriminierung neigen. Rechtsextremismus und Rassismus wird schon seit den Brandanschlägen auf Asylbewerber_innenunterkünfte in Rostock und Hoyerswerda im Jahr 1992 als Phänomen Ostdeutschlands dargestellt. Selbst Kindstötungen durch Mütter werden in den Medien und von einigen Politiker_innen als ein ostdeutsches von der DDR verursachtes Problem (re)präsentiert. In all diesen Fällen werden real existierende Probleme im Osten Deutschlands beschrieben. Gleichzeitig entsteht allerdings der Eindruck, dass diese Probleme nur im Osten bestehen und der Westen davon frei sei. Dabei gibt es auch im Westen hausgemachte wirtschaftliche Probleme. Das Jahr 1992 verzeichnete Brandanschläge auf Wohnhäuser von rassifizierten Personen im Westen Deutschlands. Nicht nur die Studien von Heitmeyer und seinem Team zeigen, dass Diskriminierungen gegen Marginalisierte im Westen Deutschlands ähnlich hoch sind wie im Osten. Es handelt sich dabei um deutschlandweite und nicht spezifisch ostdeutsche Ausgrenzungsmechanismen, die im ganzen Land bekämpft werden müssen und nicht als alleiniges Problem einer abweichenden Minderheit stilisiert werden können. Zudem gibt es auch diskriminierendes Verhalten, zu dem die Zustimmung im Westen höher ist als im Osten. In der aktuellen Studie „Deutsche Zustände“ stellen Heitmeyer und sein Team dies für den Sexismus fest. Das aber wurde in den Medien kaum thematisiert. Zu vermuten ist, dass im Westen sozialisierte Menschen die sexistische Zuteilung von Geschlechterrollen als weitgehend selbstverständlich hinnehmen und dementsprechend auch Medien und Politik diese Form der Diskriminierung nicht als besonders relevant erachten. Die Bewahrung konservativer Vorstellungen von Familie und Geschlechterrollen scheint auch der Zuschreibung von Kindstötungen als strukturellem Ergebnis des DDR-Systems zugrunde zu liegen. So werden, zum Beispiel, liberale Abtreibungsregeln in der DDR für heutige Kindsmorde in Ostdeutschland verantwortlich gemacht und damit für strenge Abtreibungsregeln geworben. Im Westen hingegen werden Kindstötungen durch Mütter als bedauerliche Einzelfälle und keinesfalls als strukturell begründet verhandelt. Diese Verschiebung von Problemen in den Osten erfüllt zwei Funktionen. Zum einen werden die im Westen Sozialisierten vom Verdacht gereinigt, dass sie auch Probleme verursachen könnten und sich um diese kümmern müssten. Zum anderen wird das westliche System als das ideale dargestellt, an das sich der Osten bedingungslos angleichen muss. So wird Kontinuität und Deutungshoheit bewahrt. Der Westen bleibt unhinterfragbare Norm.
Festschreibung als Andere
Im Fall der abgelehnten Bewerbung argumentiert der Anwalt, dass ‚Ostdeutsche‘ eine eigene Ethnie ausgebildet hätten. Dabei verweist er darauf, dass den im Westen Sozialisierten unbekannte Wortbildungen und ‚Sitten‘ entstanden seien (und setzt damit den Westen zur deutschen Norm). Der Begriff Ethnie ist (wie der der ‚Rasse‘) ein von Grunde auf problematischer. Er suggeriert, dass Menschen von Geburt an einer Gruppe mit gemeinsamer ‚Mentalität‘ zugehören. Eine kollektive auf Herkunft basierende soziale Identität wird allerdings erst im Prozess der Ethnifizierung konstruiert. Mehr als zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer kann ein solcher Prozess durchaus auch für in Ostdeutschland Sozialisierte festgestellt werden. Obwohl die Menschen im Osten Deutschlands seit zwanzig Jahren von westdeutsch dominierten Institutionen wie den Bildungseinrichtungen und Medien geprägt werden, werden wahrgenommene Abweichungen von der westdeutschen Norm alleine der DDR und ihren Folgen zugeschrieben. Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen sowie die Interaktionen zwischen im Osten und im Westen Sozialisierten werden nicht zur Erklärung von Unterschieden herangezogen. Der Westen wird als unbeteiligt an den Entwicklungen im Osten (re)präsentiert. Selbst den jungen Menschen, die die DDR gar nicht mehr oder nur als Kleinkinder erlebt haben, wird eine von der DDR geprägte Mentalität attestiert. Es wird das Bild einer abweichenden ostdeutschen Mentalität konstruiert, die von den Eltern an die Kinder weitergeben werde und so in die Körper eingeschrieben sei. In diesen Zuschreibungen gleicht die Konstruktion der ostdeutschen Anderen der Konstruktion von rassifizierten (insbesondere muslimischen) Anderen, denen auch ein Anderssein in den Körper eingeschrieben wird. Gleichzeitig war aber der Glaube an eine gesamtdeutsche Ethnie ein Teil des Selbstverständnisses der BRD und Grundlage für den Beitritt des Gebietes der ehemaligen DDR zur BRD. Auf Basis der imaginierten unteilbaren deutschen Nation war im Grundgesetz der Beitritt von deutschen Gebieten zugelassen worden und wurde in Westdeutschland (zumindest propagandistisch) auf eine Vereinigung hingearbeitet. Das konstruierte gemeinsame Deutschtum wurde als Garant dafür gesehen, dass das vereinigte Deutschland problemlos zusammenwachsen würde. Trotz aller Probleme wird diese Imagination auch weiterhin aufrecht erhalten. Im Westen Sozialisierte merken den Widerspruch zwischen imaginierter Gemeinsamkeit und der Konstruktion der im Osten Sozialisierten als Andere kaum. In ihrer privilegierten Position können sie das eine behaupten und trotzdem das andere machen, ohne dass sie in Konflikte geraten. Die im Osten Sozialisierten aber erleben den Widerspruch immer wieder an den ihnen zur Verfügung stehenden Optionen. Sie erleben, wie sie gleichzeitig als gleich angesprochen werden und doch durch viele Handlungen als Andere abgewertet werden. Sie erleben sich als Bürger_innen zweiter Klasse, denen Anerkennung verweigert wird. Damit müssen sie umgehen und entwickeln unterschiedliche Strategien dafür (während die im Westen Sozialisierten dieses Problem ignorieren können). Wenn in dem Arbeitsgerichtsverfahren jetzt aber Diskriminierung aufgrund von „ethnischer Herkunft“ angeführt wird und in einem Zeitungsartikel von „Rassismus gegen Ostdeutsche“ gesprochen wird, liegt darin die Gefahr der Verharmlosung rassistischer Ausgrenzungspraxen im vereinigten Deutschland. Denn auch wenn im Osten Sozialisierte Ausgrenzungserfahrungen durch im Westen Sozialisierte machen, so sind sie doch, zum Beispiel durch ihre deutsche Staatsbürgerschaft, im Vergleich zu den rassistisch Ausgegrenzten in Deutschland immer noch in einer sehr privilegierten Position. Das ungleiche Machtverhältnis zwischen West und Ost in Deutschland muss in seiner Spezifik thematisiert werden.
Urmila Goel ist Kultur- und Sozialanthropologin und zur Zeit Gastprofessorin in den Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr Forschungsinteresse gilt insbesondere den Interdependenzen von unterschiedlichen Machtverhältnissen, insbesondere von Rassismus und Heteronormativität. Mehr Informationen über ihre Arbeit sind zu finden auf www.urmila.de.
1 Für Kommentare zu diesem Text und vor allem für die vielen Denkanregungen und Diskussionen, die zu diesem Artikel geführt haben, danke ich insbesondere Kathleen Heft und Ricardo Taschke.
2 Der Unterstrich soll eindeutig gedachte Genderkonzepte irritieren. Er signalisiert Leerstellen und Brüche im Konzept der Zweigeschlechtlichkeit und geht damit weiter als das Binnen-I, das vor allem die Sichtbarkeit von Frauen erhöhen soll.
3 Mit dem Begriff Rassifi zierte verweise ich auf Menschen, die aufgrund von physiognomischen oder sozialen Merkmalen als nicht zu Deutschland zugehörig angesehen und als minderwertig abgewertet werden. Eine solche Formulierung, die rassistische Ausgrenzungspraxen thematisiert und nicht von der Existenz von ‚Rassen‘ ausgeht, wäre auch für das AGG sinnvoll, dass in seiner Wortwahl rassistische Logiken (re)produziert.
4 Der Begriff Trans* steht für Menschen, deren gelebtes Geschlecht von dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht abweicht. Der Stern drückt dabei aus, dass es sehr verschiedene Formen von Trans gibt.
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