Bärbel Bohley

Von Klaus Wolfram
aus telegraph #122/123

Ich bin einer von Bärbels kommunistischen Freunden. Wir haben uns erst im stürmischen Herbst von 1989 kennengelernt, im Oktober wohl, und seit Dezember ständig zusammengearbeitet; vier Revolutionsjahre hindurch alles gemeinsam getan. Bis sie im Herbst 1993 die Arbeiter von Bischofferode im Regen stehenließ, da trennten sich unsere Wege. Ihren ging sie allein weiter, der zwei Jahre später nach Jugoslawien führte. Noch bevor sie von dort zurückkehrte, knüpften wir – anfangs per Mail – an die früheren, im Grunde unverarbeiteten Erfahrungen wieder an. Daraus wurden drei gemeinsame Nachdenkjahre, die der Krebs zu ihren letzten machte. Alles drehte sich für sie darum, die Lasten der Niederlage und die Spur der Selbstbefreiung deutlicher auseinanderzulegen.

Bärbel war zweifellos das stärkste politische Temperament in der letzten Staffel der DDR-Opposition – darin hat sie tatsächlich den Stab von Robert Havemann übernommen und bis in das erste Ziel getragen, das die Geschichte hinter dem Rücken von uns allen aufgebaut hatte. Eine Revolutionärin ohne Theorie, aber eine Revolutionärin! Und hatten die Theorien nicht so oft in die Enge, ins Leere, in den Zynismus geführt? Sie dachte nicht in Kategorien, sondern in Bildern, Gesichtern, Haltungen. Sie bezog ihre Kraft, auch ihre Führungskraft, aus sinnlichen, künstlerischen Quellen. Das machte sie öfter undurchschaubar, manchmal hart bis zur Zerstörungswut, auch unter Freunden.

„Mit der Bürgerbewegung ist etwas Neues in die Geschichte getreten.“ Das ist ein Satz von ihr, den sie festhielt und an dem sie sich festhielt. Etwas „Neues“, also ein Anfang! Die öffentliche Reflexion reicht heute nur so weit, viele Enden zu erkennen. Ende der Diktatur, Ende der Nachkriegszeit, Ende des Kalten Krieges, Ende der Arbeiterbewegung …, ja, ja, vielleicht. Aber doch nicht das Ende der Emanzipation.

Als ihren größten Fehler betrachtete sie, 1990 eine Zeitlang die Gründung von Bündnis 90 unterstützt zu haben. Sie spürte darin eine Abtrennung von den Tausenden persönlichen Aufbrüchen im ganzen Land, die Zurückbindung der neuartigen Bewegung an die nun alte Opposition und eine vorauseilende Selbstbindung an das westdeutsche Parteiensystem, seien es auch die Grünen. Sie kämpfte dann bald dagegen an. – Derselbe weite Blickwinkel kehrt 18 Jahre später wieder, als wir über gewisse Buchprojekte in Vorbereitung auf den 20. Jahrestag von 1989 sprechen. Sie sagt dazu: „Wir waren doch nicht die Opposition; wir haben nur am richtigen Faden gezogen.“ Klar und scharf sieht sie durch die Oppositionellen hindurch, einschließlich ihrer eigenen Leistung, allein interessiert an den wirklichen Mehrheiten und an deren Ausdruckskraft.

Einmal sagte ich ihr folgenden Satz eines Freundes weiter: „1990 haben eigentlich die Unpolitischen gewonnen.“ Da ging ein Leuchten über ihr Gesicht, eine verborgene Bedrückung löste sich. Sie war regelrecht dankbar dafür, trug mir Grüße an den Absender auf. Was war so wichtig daran? Die „Unpolitischen“ sind keine Gegner, aber auch sie werden noch in Bewegung geraten, in Eigenbewegung, in Bürgerbewegung. Der Satz verknüpfte für sie ihre Vergangenheit mit einer lebbaren Zukunft. Und er erklärte etwas davon, warum das Bild der ersten Revolutionsmonate mit dem der folgenden Jahre so schlecht zusammenpaßte.

Die langjährige, erschöpfende Arbeit in Jugoslawien entsprach ihrem Bedürfnis nach Bodenhaftung. Aus der Hofbegrünung mit Irena war Wiederaufbauarbeit im zerfetzten Bürgerkriegsgelände geworden. Die hiesige Staatsschauspielerei mancher Ex-Oppositioneller konnte sie nicht mitmachen; ganz bewußt entzog sie sich im vorigen Jahr dem Dominospiel hier unten am Brandenburger Tor. Ihre Revolutionsfeier wäre das gewesen, was derzeit in Stuttgart geschieht: Eine breite, rein sachliche, gewaltfreie Bürgerbewegung, die jenseits aller Parteien die Karten neu mischen will. Sie hatte so etwas ersehnt, sie hätte da mitgetan.

Und wir werden hier auch noch andere Zeiten sehen.

Diese Rede hielt der Autor auf der Gedenkveranstaltung zum Tod von Bärbel Bohley in der Akademie der Künste am 25. September 2010

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