Neue Aufstandstheorien braucht das Land

Nicht wenige deutsche Kritiker stempeln die „Undergroundphilosophie“ der Gruppe Tiqqun als dunkel- postmodernen Theorie-Remix ab oder unterstellen ihr, sich aus trübsten Naziquellen zu speisen. Da ist sich die Kritik in Ost

Von Helmut Höge
aus telegraph #122/123

„The Russians have an understanding of Rhizom-War,“ meinte Alexander Brener in der Prenzlauer Berg Kneipe des Anarcho-Ehepaars Papenfuß/Fellien: „Rumbalotte“ (Abkürzung von „Ruhm und Ehre der baltischen Rotbannerflotte“). Der botanische Begriff „Rhizom“ wurde von den Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari aufgegriffen – als Modell für ein gleichsam unterirdisch-verknüpftes Beziehungsgeflecht Widerständiger. Der Philosoph Alexander Brener kommt aus Russland, wo er laut der Kunstkritik „zum Kulminationspunkt des Moskauer Aktionismus“ heranreifte – mit nicht selten gewalttätig endenden Performances. Als er seinen Aktionsradius nach Westen hin ausdehnte, tat er sich mit der Wiener Slawistin Barbara Schurz zusammen. Ihre gemeinsamen „Abenteuer“, etwa auf einer Lesung von Toni Negri in einer italienischen Millionärsvilla, in einer Irrenanstalt im Kongo und in der Trotzki-Villa in Mexiko, wo sie auf ein Nachkommen der einst von Trotzki gezüchteten Riesenkaninchen stießen, veröffentlichten sie als Berichte in der Zeitschrift „Gegner“ des Basisdruck Verlags. Ihre Bücher – u.a. „Was tun?“ und „The Art of Destruction“ – gab der Wiener Verlag Selene heraus. Seitdem es diesen nicht mehr gibt, publizieren sie ihre Bücher im Selbstverlag. Es sind z.T. Reiseberichte. Das letzte hieß: „Die Befreiung Istanbuls“. Ich zählte darin 32 Verbrechen und ebensoviele Obszönitäten. Es enthält daneben aber auch ein Lob auf das Unglücklich-Sein sowie die Tiqqun-„Theorie vom Bloom“. Ihr nächster Bericht – aus und über Italien – wurde soeben gedruckt und heißt „Römische Offenbarungen“.

Bevor die beiden sich jüngst wieder in Berlin niederließen, hatten sie eine Diskussion mit der Gruppe „Tiqqun“ in Paris, die sie überzeugte, den Kulturbetriebskontext, alles Spektakelige,  hinter sich zu lassen. Es ging und geht ihnen ums „Werden“, das haben sie mit „Tiqqun“ gemeinsam – und beide berufen sich dabei auf den Philosophen Gilles Deleuze. Wie dieser in dem Artefilm „Abécédaire“ ausführte, ist die Revolution keine Geschichte, sondern ein „Werden – was die Historiker nie begreifen“. Und das sie – die Revolution – noch jedesmal übel endete, „das weiß man doch! Schon die englischen Romantiker redeten über Cromwell genauso wie die heutigen Ex-Linken über Stalin. Das hält aber zum Glück doch niemanden davon ab…“ An anderer Stelle sagt er über das Werden: „Es kommt durch Bündnisse zustande. Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht. Es handelt sich dabei immer um ein Plural – also um Kollektive, Schwärme, Meuten, Banden…“

Die Gruppe Tiqqun sorgte jüngst für einigen Medienrummel – mit ihrem Manifest „Der kommende Aufstand“. Im Internet findet man unterdes noch einige weitaus bessere Lageberichte, Pamphlete, Manifeste von ihnen – zuletzt die „Einführung in den Bürgerkrieg“. Daneben hat der Merve-Verlag ihre „Bausteine einer Theorie des Jungen-Mädchen“ veröffentlicht und der Verlag „diaphanes“ u.a. „Kybernetik und Revolte“. Nicht wenige deutsche Kritiker tun diese „Undergroundphilosophie aus Frankreich“ als dunkel-postmodernen Theorie-Remix ab oder unterstellen ihr gleich, wie die taz, sich aus trübsten Naziquellen zu speisen. Da ist sich die Kritik in Ost und West schon lange einig: Spätestens seit Michel Foucaults Arbeiten gelten ihr die meisten linken Theorien aus Paris als unnötig verkomplizierte Irrlehren.

Die Gruppe Tiqqun knüpft bei den „Situationisten“ an, die einst schon die im „Mai 68“ kulminierende Neue Linke beflügelt hatte. Den italienischen Philosophen Georgio Agamben kann man als ihren Lehrer bezeichnen, während Tonio Negris Schriften von ihnen als üblen „Negrismus“ abgetan werden. Praktisch nomadisieren sie zwischen „Landkommunen“ und „Schwarzem Block“. Die Polizei verdächtigte sie deswegen eines Bombenattentats. Die FAZ schrieb: „In Frankreich wurde eine terroristische Zelle ausgehoben. Das von einem Philosophen angeführte Kollektiv prophezeite eine Epoche der Unordnung, brachte Züge zum Stehen und manipulierte Hochspannungsleitungen – und entfacht eine Diskussion über die Grenzen politischer Gewalt.“

Es geht dabei jedoch im Gegenteil – um die Grenzen polizeilicher Gewalt, denn deren „Beweise“ erwiesen sich als wenig stichhaltig. Im Gegensatz zu denen der Gruppe Tiqqun, die fortlaufend die alten Bedrückungen des Proletariats mit ihrer „negativen Anthropologie“ phänomenologisch in ein Leiden am Hier und Jetzt übersetzt. „Die Unterwerfung unter die Arbeit, die eingeschränkt war, da der Arbeiter noch nicht mit seiner Arbeit identisch war, wird gegenwärtig durch die Integration der subjektiven und existentiellen Gleichschaltung, d.h. im Grunde durch den Konsum, ersetzt,“ heißt es z.B. in der „Theorie des Jungen-Mädchen“. Bei dieser Figur handelt es sich um das Resultat einer  Kapitalisierung der Begehren beiderlei Geschlechts – die auf die Selbstverwertung hinausläuft. Wenn es dazu heißt: „Das Junge-Mädchen ist der Endzweck der spektakulären Ökonomie,“ dann klingt da die  „Gesellschaft des Spektakels“, wie die Situationisten sie nannten, an. Es wird in ihren Schriften ansonsten Vieles neu gedacht. In der „Einführung zum Bürgerkrieg“ schreibt Tiqqun in einer Fußnote: „Ich spreche vom Bürgerkrieg, um ihn auf mich zu nehmen, um ihn in Richtung seiner erhabensten Erscheinungsweisen auf mich zu nehmen. Das heisst: meinem Geschmack entsprechend. Und Kommunismus nenne ich die reale Bewegung, die überall und jederzeit den Bürgerkrieg zu zunehmend elaborierter Beschaffenheit vorantreibt.“ An anderer Stelle ist die Rede von „einer gewissen Ethik des Bürgerkriegs“.

Der Wissenshistoriker Michel Foucault fragte sich bereits: „Was gibt es überhaupt in der Geschichte, was nicht Ruf nach oder Angst vor der Revolution wäre?“

Statt „nach zu rufen“ bemühen  sich Tiqqun, und ebenso Brener/Schurz, gegen die Reduzierung der „formes de vie“ (Lebens- bzw. Existenzweisen), neue zu bestimmen – und das negativ, wenn es z.B. in der „Einführung zum Bürgerkrieg“ heißt: „In der ziemlich reichhaltigen Sammlung von Mitteln, welche der Westen bereit hält, um sie gegen jegliche Form von Gemeinschaft anzuwenden, findet sich eines, das ungefähr seit dem 12. Jahrhundert eine gleichermassen vorherrschende als auch über jeden Verdacht erhabene Stellung einnimmt: ich meine das Konzept der Liebe. Man muß ihm, über die falsche Alternative, die es jetzt allem aufzwingt  („liebst du micht oder liebst du mich nicht?“), eine Art ziemlich furchterregender Effizienz bezüglich dem Vernebeln, Unterdrücken und Aufreiben der hochgradig differenzierten Palette der Affekte und der himmelschreienden Intensitätsgrade, die beim Kontakt zwischen Körpern entstehen können, zugestehen. So half dieses Konzept mit, die gesamte extreme Möglichkeit der differenzierten Ausbildung der Spiele zwischen den formes-de-vie einzuschränken.“  An anderer Stelle heißt es: „Es genügt, sich in Erinnerung zu rufen, wie im Laufe des Prozesses der ‚Zivilisation‘ die Kriminalisierung von allen Leidenschaften mit der Heiligsprechung der Liebe als einzige und einzigartige Leidenschaft, als der Leidenschaft par excellence einherging. Selbstverständlich gilt dies nur für das Wort und nicht für dasjenige, was sie unabsichtlich trotzdem hat stattfinden lassen…“

Ende Januar fand in Kreuzberg eine Veranstaltung der Gruppe „Freunde der klassenlosen Gesellschaft/Redaktion ‚Kosmoprolet'“ statt, auf der es um eine Kritik an diesem und anderen  Tiqqun-Texten ging: „Anstatt sich mit den Schranken der gegenwärtigen Kämpfe zu konfrontieren, flüchten sich die Autorinnen in die Pose von Verschwörern. Weil letztlich nebulös bleibt, wie das gesellschaftliche Elend produziert wird, bleibt auch die Möglichkeit seiner Abschaffung im Dunkeln,“ hieß es dazu vorab. Im vollbesetzten Saal wurden dann jedoch eher die Tiqqun-Kritiker selbst kritisiert – als zu traditionell links argumentierend. „Die Tiqqun-Manifeste treffen genau den Nerv der Zeit,“ fanden die meisten. Aber  immerhin sorgten die „Freunde der klassenlosen Gesellschaft“ mit ihrer Kritikvorlage für eine  interessante Diskussion. Von den Autonomen wurde sie bereits vor einem Jahr geführt – „als Tiqqun noch kein Hype war,“ wie eine Genossin etwas bitter meinte. Inzwischen fand schon die fünfte Veranstaltung über ihren Text „Der Kommende Aufstand“ in Berlin statt – während der selbe in Kairo beinahe ein „Gehender“ geworden wäre. Auch Brener/Schurz haben diesem sich täglich  ausweitenden „Arabischen Aufstand“ noch nicht praktisch zur Kenntnis, im Gegenteil: Anläßlich der Vorstellung der neuen Ausgabe der Papenfuß-Zeitschrift „Konnektör“ Mitte Februar traten sie mit einer Schamlos-Performance in der Kneipe „Rumbalotte“ auf und demnächst wollen sie dort eine noch obszönere als „Hommage an JJ Allen“ aufführen. Inzwischen mehren sich jedoch hier – immerhin – auch solche Veranstaltungen, die sich mit dem „arabischen Aufständen“ befassen.

Als ich die beiden Aktionskünstler gestern in der „Rumbalotte“ erneut traf, war ich deprimiert, weil in diesen Aufständen  jetzt die Konterrevolution wieder an Boden gewinnt und wegen des japanischen Atomunfalls die Informationen aus Arabien immer spärlicher fließen, wobei mich die Katastrophenmeldungen aus Japan weitaus weniger interessierten als die Revolutionsmeldungen aus Arabien.

Es standen für mich in dieser Entgegensetzung auf Nachrichtenbasis zwei Weltkonzepte nicht nur aufmerksamkeitsökonomisch gegeneinander: Das hochindustriell wohlstandsabgefederte japanische Senioritäts-Kollektiv und die um ihre individuelle Freiheit kämpfende arabische Jugend.

Und ich fühlte mich unmoralisch, wenn ich nach Neuigkeiten vom japanischen GAU gierte. Eine Kollegin empfand Ähnliches: „Als ich vorgestern beim Putzen zuhause Phoenix nur hörte, hatte die Sprache der Berichterstattung die größte Ahnlichkeit mit Nachrichten über ein großes sportliches Ereignis,“ erzählte sie mir. Vor allen Dingen sind die ausländischen Journalisten vor Ort – in Tokio“- von der Disziplin und Ruhe der Japaner beeindruckt, die ihr Heim nicht verlassen und über Radio, Fernsehen, Internet und Telefon die Nachrichten verfolgen bzw. den Anweisungen der Regierung folgen.

„Die Hysterie steht am Anfang jeder Wissenschaft,““ meinte Jacques Lacan. So war es auch bei der Anti-AKW-Bewegung, die sich dann anderen Dingen zuwandte und nun quasi wiederauferstanden ist.In fast jeder deutschen Klein- und Großstadt kam es in den vergangenen Tagen zu Anti-AKW-Demonstrationen, in Tokio  gab es gestern die erste – mit etwa 3000 Teilnehmern. Laut der Nachrichtenagentur Reuters und des Stern waren es „einige hundert“ und laut des taz-Japanologen Felix richtete sich ihre Demonstration vor allem gegen die Informationspolitik der derzeitigen Regierung. Angeprangert wurde dabei die Gleichschaltung und Manipulation durch die Medien und die Berichterstattung unter dem Vorwand, die öffentliche Sicherheit zu wahren. Diese Form der Politik führe in den sicheren Tod. Eine Vereinigung mit den Arbeitern zu einer großen Bewegung sei notwendig.

In Deutschland schwenkten angesichts der Katastrophe in Japan sogar die  AKW-Befürworter unter den Politikern plötzlich ins gegnerische Lager über. „“Wer jetzt ‚Panikmache‘ ruft, ist vielleicht bloß nicht genug informiert“ schrieb die taz in ihrem Leitkommentar, währen ihr Korrespondent Georg Blume von einem Gespräch mit einem jungen Pärchen in einem Tokioter Café zu berichten wußte: „Sie machen sich nicht allzu viele Sorgen, aber vor einem fürchten sie sich ganz bestimmt nicht: vor einer öffentlichen Panik. ‚Das gibt es bei uns nicht. Wenn einer panisch reagiert, wird er von den anderen zur Ruhe gebracht,‘ ist sich das Paar siche“

Auch mich beeindruckte diese ruhige Haltung der Japaner, die ich auf ihre alte Kultur und ihren Insel-Kollektivismus zurückführte, zudem hat das Wort „Panik“ für mich ebenfalls einen negativen Klang. Nicht so für Brener/Schurz: Sie sehen – mit Agamben und Tiqqun – die Panik als die vielleicht letzte Möglichkeit, aus der „Normalisierung“ (Michel Foucault) auszubrechen. Ich erinnerte mich an das schöne Büchlein des Sony Konzernchef Morita und des japanischen Nationalisten  Ishihara: „Japan sagt Nein!“ – da ging es darum, dass die Amis mehr von ihrem  Warendreck in Japan verklappen wollten, die taz schrieb dazu 1990 verständnislos: In dem Buch  beschwören die beiden Autoren „die Überlegenheit Japans gegenüber dem Rest der Welt“. Angesichts der japanischen Atomkatastrophe kommt es nun aber darauf an, dass die Japaner Nein sagen – zu ihrer „Japan AG“! Oder anders gesagt, dass sie Ja, panisch Werden!

„In einer Paniksituation lösen sich Gemeinschaften vom Gesellschaftskörper, der als eine Gesamtheit konzipiert ist, und wollen ihm entwischen,“ schreibt die Gruppe Tiqqun in ihrem Büchlein „Kybernetik und Revolte“. Die Panik enthüllt neben einer unerhörten und unkontrollierten Verausgabung auch den „Bürgerkrieg“ in seiner ganzen Nacktheit: Er ist „ein Zerfall der Masse in der Masse“. Dazu zitiert die Gruppe Peter Sloterdijk: „Lebendige Kulturen sind nur durch Nähe zu panischen Erfahrungen möglich.“

Was bei der Panik „die Deiche bricht“ und sich in eine potentielle positive Ladung, „eine konfuse Intuition (in der Kon-Fusion)“ umwandelt, ist, dass jeder hier so etwas wie das lebendige Fundament seiner eigenen Krise ist, anstatt sie wie ein äußeres Schicksal hinzunehmen. „Die Suche nach aktiver Panik – ‚die panische Erfahrung der Welt‘ –  ist somit eine Technik, um das Risiko des Desintegration einzugehen, das jeder als Risiko-Dividuum für die Gesellschaft darstellt.“

In der taz vom 18.3. beschreibt die Schriftstellerin Akira Kuiroda aus Tokio, wie sie mit sich ringt: Was soll sie machen – wohin gehen, was tun?

„Mein Mobiltelefon empfing rastlos und tonnenweise sogenannte Wahrheiten, Drohungen und Propaganda, verrückte Massen von Worst-Case-Szenarien. Von all diesen Mails oder Tweets und dem Gespräch mit meinen Eltern wurde mir schwindlig, mir wurde schlecht, richtig körperlich schlecht. Ich dachte, ich müsste mich übergeben.“ Ihre deutsche Redakteurin hat ihren Text mit  „Ich entscheide mich zu leben“ überschrieben. Die Autorin beendete ihren Artikel mit dem Satz:  „Ich muss Ihnen nochmals danken, denn Ihnen zu schreiben hilft mir, in diesen außergewöhnlich gewöhnlichen Tagen mein Gleichgewicht und meinen Verstand zu bewahren. Danke!“

Mittendrin in ihren schriftlichen Grübeleien schrieb sie: „Es gibt einen schmalen Grat zwischen Optimismus und Realitätsverleugnung. Optimist zu sein, heißt, glaube ich, immer ruhig zu bleiben und abgeklärt urteilen zu können. Man kann sich so leicht etwas vormachen, indem man nicht nachdenkt oder die Situation ignoriert, und dann wird man Nihilist oder Romantiker. Aber Optimisten, so wie ich sie definiere, müssen an sich glauben, sich selbst lieben und vertrauen und ihre Verantwortung für sich selbst begreifen. Die Frage sollte lauten: Mit welcher Entscheidung bin ich am meisten zufrieden? Es gibt kein Richtig oder Falsch, keine ‚korrekte‘  Antwort im Leben wie in einem Fernsehquiz. Aber es gibt eine Antwort, deine eigene Antwort.“

Die Suche danach – das ist schon der Anfang einer panischen Flucht, bei der es darum geht, sein Leben selbst zu bestimmen, zu leben, d.h. sich aus der Umklammerung des Systems mit seinen unablässig zur Ruhe und Ordnungen mahnenden Medien zu lösen.

Die Gruppe Tiqqun schreibt: „In den letzten Tagen des Nihilismus geht es darum, die Furcht ebenso extravagant erscheinen zu lassen wie die Hoffnung.“

Aber nur die in Panik übergehende Furcht kann dem heutigen kybernetischen System und seiner Totalitätsanspruch entkommen. Es wird von ihm als Rauschen wahrgenommen. Das „Rauschen“ ist ein Verhalten, das der Kontrolle entgeht und gegenüber dem System gleichgültig bleibt und das folglich nicht mit einer binären Maschine behandelt werden und auf eine 0 oder 1 reduziert werden kann. „Dieses Rauschen, das sind die Fluchtlinien, die Irrwege der Begierden, die noch nicht in den Kreislauf der Valorisierung eingegangen sind, also das Nicht-Eingeschriebene,“ schreibt Tiqqun. An anderer Stelle heißt es weiter: „Jede Revolte im und gegen das Empire läßt sich nur ausgehend von einer Verstärkung dieses ‚Rauschens‘ konzipieren, das in der Lage ist, das zu erzeugen, was Ilya Prigogine und Isabelle Stengers – die eine Analogie zwischen physischer und gesellschaftlicher Welt herstellen – ‚Verzweigungspunkte‘ genannt haben, also kritische Schwellen, von denen aus ein neuer Zustand des Systems möglich wird.“

Was den religionsgläubigen Ägyptern das Motiv für ihre Revolution gab – das bankrotte System „Mubarak“,  ist für die technikgläubigen Japanern das AKW in seiner havarierten Form. Aber noch ist es nicht so weit, noch hockt die Mehrzahl der 23 Millionen Tokioter vor den Nachrichtenspendern ihrer  Regimezentralen. Erst wenn nennenswerte Teile der Bevölkerung in Panik ausbrechen wird das diese „Kybernetiker“ in Panik versetzen, denn das ist für sie das „absolute Risiko“.

Noch zwei Tage vor der ersten Anti-AKW-Demo in Tokio, bei der es übrigens folgende Parole auf einem Transparent gab: „Gerade jetzt! Die amtierende Regierung stürzen! Lasst uns wie Ägypten die Gesellschaft verändern!“, schrieb die Frankfurter Rundschau:

„Der drohende GAU im japanischen Kernkraftwerk Fukushima treibt in Deutschland tausende Atomkraftgegner auf die Straße. Und in Japan? In Tokios Regierungsviertel Chiyoda herrscht am Dienstagmorgen gespenstische Ruhe. Polizisten bewachen die leeren Straßen zwischen Parlament, Ministerien und der Residenz vom Premierminister Naoto Kan. Kein einziger japanischer Atomkraftgegner, der hier ein Transparent enthüllen würde. Auch an anderen öffentlichen Plätzen sucht man vergeblich nach Zeichen des öffentlichen Protests gegen eine Energiepolitik, die Japan nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki erneut zum Opfer einer nuklearen Katastrophe machen könnte. Selbst in Landesteilen, die vom Erdbeben unbehelligt geblieben sind und in denen die Menschen nicht aus Angst vor einer radioaktiven Wolke aus Fukushima den Gang auf die Straße meiden, ist von „Atomkraft, nein danke!“ nichts zu hören. Das japanische Volk sitzt einfach vor dem Fernseher und schweigt.“

Derzeit sind es erst einmal die japanischen Journalisten die bei den stündlich stattfindenden Pressekonferenzen der Regierung und der Krafwerksbetreiber so etwas wie quasi unjapanische Panik, mindestens Ungeduld und Wut, durchblicken lassen. Dazu schreibt die taz am 18.3.:

„Mehrmals täglich treten blässliche Männer in blauen Arbeitsjacken in der Firmenzentrale des Energieversorgers Tokyo Electric Power (Tepco) im Tokioter Bezirk Chiyoda vor einen Wald von Mikrofonen. Auch Regierungssprecher Yukio Edano ist in seiner Ingenieurskluft fast rund um die Uhr vor einer Batterie von TV-Kameras präsent. Der Blaumann soll Zuverlässigkeit und Fachwissen ausstrahlen. Doch der große Aufwand ist zumeist umgekehrt proportional zum Gesagten. Im In- und Ausland wachsen Ärger und Frustration über die mangelhaften und widersprüchlichen Aussagen und Erklärungen zu den Atomunfällen.

Die Tageszeitung Asahi warf der Regierung Versagen darin vor, die Öffentlichkeit zu beruhigen. Man könne nicht die Evakuierungszone verdoppeln und von einer Vorsichtsmaßnahme sprechen, ohne die Folgen einer zuvor erfolgten Explosion zu erklären, kritisierte das Blatt. Das Verteidigungsministerium warf Tepco und der Atombehörde sogar Falschinformation vor, nachdem mehrere Soldaten bei einem Einsatz im Kraftwerk verstrahlt wurden. ‚Wir haben ihnen geglaubt, als sie gesagt haben, dass es sicher ist‘, klagte ein Beamter. Bei den Tepco-Pressekonferenzen gibt es ebenfalls fast nur vage Auskünfte. Ein Sprecher konnte den ganzen Donnerstag über nicht erklären, wie weit die Arbeiten an einer neuen Stromleitung zum Kraftwerk fortgeschritten seien. Essenzielle Informationen werden der Öffentlichkeit vorenthalten, zum Beispiel aktuelle Kühlwasserpegel in Reaktoren und Abklingbecken oder der Zustand der Brennelemente. ‚Dazu habe ich keine Informationen, ich werde nachfragen‘, gehört zu den Standardantworten von Tepco-Sprechern. Ständig werden Auskünfte zurückgenommen oder relativiert. ‚Ihr Tepco-Leute sagt jedes Mal etwas anderes‘, beschwerte sich ein japanischer Journalist wutentbrannt. ‚Wir wollen wissen, was los ist!‘ Als ein Sprecher neue Erklärungen für Probleme im Kraftwerk lieferte, schnauzte ein Reporter zurück: ‚Wenn Sie denken, dass wir nichts von Nukleartechnik verstehen, dann sind Sie auf dem Holzweg!'“

In Summa: In Japan triumphiert noch die Konterrevolution, in Arabien ist sie laut FAZ kurz davor. In beiden Fällen geht es jedoch darum, herauszufinden, was die Leute dagegen tun – und nicht, wie der Reaktor auf die Löschmaßnahmen reagiert oder die arabischen Herrscher auf die Drohungen aus dem Westen. Die Gruppe Tiqqun schreibt über die taz- und Grünen-Berichterstattung:

„Das aktuelle Alternativbewußtsein zeichnet sich durch etwas aus, was man als pragmatisches Verhältnis zur Katastrophe bezeichnen könnte.“

Das ist noch höflich ausgedrückt. Man könnte auch sagen: Die taz-Redakteure glauben im Gegensatz zu den anderen taz-Mitarbeitern in ihrer Mehrheit nicht mehr an die Revolution – und dass man die heutige warenproduzierende Gesellschaft hinwegfegen kann und muß. Dabei ist im Vergleich zu dem was jetzt in Arabien passiert die leninistische russische Revolution ein Scheißdreck gewesen. Das wußte übrigens schon Lenin selbst – viel wichtiger wäre ein Sieg der deutschen Revolution gewesen, meinte er. In Arabien geht es jetzt um den Anfang einer ersten globalen Revolution, die mehr oder weniger explizit antileninistisch ist.

Der taz-Kairokorrespondent Karim El-Gawhary gab vorgestern dem Wiener Falter ein Interview, in dem er sich u.a. über die taz beklagte:

Die Auslandsberichterstattung hat sich stark verändert. Früher begleitete sie einen Prozess. Man hat regelmäßig über ein Land geschrieben, das hat sich sehr gewandelt: Jetzt gehen wir Journalisten immer dorthin, wo es gerade brennt. Wir sind Feuerwehrleute geworden. Die kontinuierliche Berichterstattung ging verloren. Deswegen scheint es oft so, als würden Konflikte vom Himmel fallen. Zum Beispiel der Libanon-Krieg 2006. Wenn ich zwei Wochen vorher eine Hisbollah-Geschichte vorgeschlagen hätte, hätte man mich angegähnt. Dann bricht der Krieg aus, und man hört morgens, mittags und abends vom Libanon. Wir Journalisten laufen den großen Events hinterher, aber es werden keine Prozesse mehr abgebildet.

Es geht um den Revolutionsprozeß – und nicht um irgendwelche Strahlenwerte und technische Einzelheiten der Events.

P.S.: Vor einigen Tagen fand im Haus der Kulturen der Welt eine Diskussionsveranstaltung „Über Lebenskunst“ statt. Vor allem bezog man sich dort auf Canettis Buch „Masse und Macht“, weil der Autor darin das Wort „Überleben“, das uns inzwischen lieb geworden ist, vehement ablehnt: Das Überleben findet nach ihm stets auf Kosten anderer statt, über die ich notfalls rübertrampel. So wie z.B. auf der „Loveparade“ in Duisburg: Eine völlig von oben – durch Veranstalter, Politiker und vor allem Polizei – organisierte und kanalisierte Schweineveranstaltung, auf der etliche Teilnehmer nur dadurch überlebten, indem sie andere zerquetschten. Ganz anders – unschuldiger – wäre es mit dem Wort „Selbsterhaltung“ – als Alternative zum „Überleben“, das nur mit einer großen Schuld möglich sei.

P.P.S.: Die BBC interviewte gerade ein japanisches Ehepaar, das den von der Regierung und dem AKW-Konzern gefütterten Medien nichts mehr glaubt, es satt hat, immerzu die Nachrichten zu verfolgen – und abhauen will. Die Flugpreise haben sich unterdessen bereits verdoppelt.

Helmut Höge ist Autor, Hausmeister und Journalist, er lebt in Berlin.

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