Das Ende des Endes

Die nächsten Jahre und Jahrzehnte werden aller Voraussicht nach wenig mit dem zu tun haben, was die Generationen der heute 15- bis 45 jährigen als alltägliche und politische Normalität zu akzeptieren gezwungen waren.

Ein Kommentar von Bini Adamczak
aus telegraph #124

Das Ende der Geschichte ist zu Ende. Als Francis Fukuyama es 1992 ausrief, hatte er damit nichts anderes gemeint, als dass der liberale Kapitalismus alternativlos geworden sei – auf ewig. Es dauerte nicht ewig bis diese Erzählung als bürgerliche Ideologie herausgefordert wurde – 1994 von den Zapatistas in Chiapas, von den Globalisierungsbewegungen 1999 in Seattle, 2001 in Genua –, aber zugleich ließ sich nicht bestreiten, dass sie auch eine Realität beschrieb. Und gerade die Kritik bestätigte das. Zu keinem anderen Zeitpunkt hätte die Parole „Eine andere Welt ist möglich“ Menschen auf die Straße locken können. Während die bewegende Frage zu anderen Zeiten lautete, welche mögliche Welt am wünschenswertesten wäre, lautete die Frage nun, ob es überhaupt eine Alternative zur bestehenden gäbe. Das Ende der Geschichte stellt eine welthistorische Wirklichkeit dar, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eingetreten war und zehn Jahre später am 11. 9. 2001 nochmals bestätigt wurde. Sie veränderte die zentralen Motive, mit denen sich konkurrierenden Politiken zu legitimieren suchten: An die Stelle der Hoffnung auf eine bessere Zukunft trat die Angst vor der Verschlechterung der Gegenwart. Und diese Gegenwart, die selbst stetig das Leben der Mehrheit verschlechterte, dehnte sich schier ewig aus.

„Die“ und „wir“
Nun ist das Ende der Geschichte selbst Geschichte. Aus der bereits eingetretenen Zukunft betrachtet, wird diese historische Epoche 1991 begonnen und genau 20 Jahre bis zum Arabischen Frühling im Jahr 2011 gedauert haben. Als wäre es darum gegangen, die wirkungsvollste Bühne für ein Comeback zu wählen, nahm die Rückkehr der Geschichte ihren Ausgang ausgerechnet in einer Weltregion, der vom Kolonialismus bis zur Neuen Weltordnung Geschichtslosigkeit, bestenfalls Rückständigkeit, zugeschrieben worden war. Fernsehreporterinnen aus dem Nord-Westen der Welt starrten auf die Bilder der kommunikationstechnologisch beschleunigten Revolutionen in Tunesien und Ägypten und erkannten in deren Akteurinnen sich selbst: „Die“ sahen ja aus wie „wir“.

Wie in den großen Revolutionszyklen des 20. Jahrhunderts – 1917, 1968 und eingeschränkt auch 1989 – bewegten sich die Revolutionen von Stadt zu Stadt, von Region zu Region, über Staatsgrenzen hinweg. Und wie die vorherigen Zyklen begann auch dieser an der Peripherie der globalen Ordnung, um von dort mehr oder weniger erfolgreich bis ins Zentrum, das „Herz der Bestie“, vorzustoßen. Von Sidi Bouzid nach Kairo und weiter nach Bengazi, Daraa, al-Manama und Sanaa, über Athen, Madrid, Tel Aviv, London, Santiago de Chile und Wisconsin bis nach New York, Frankfurt und Oakland und Moskau. Obwohl ihnen an einigen Orten – z. B. in Tunesien, Marokko, Algerien, Ägypten und Griechenland – jahrelange Protest- und Streikbewegungen vorhergingen, war jeder der Aufstände unvorhergesehen, mancher noch unvorhergesehener als der nächste. Das trifft auf die arabischen Länder, denen Demokratie ein Jahrzehnt lang mit Kriegsgewalt beigebracht werden sollte, ebenso zu wie auf Israel, wo jede politische und soziale Fragestellung vom andauernden Krieg überdeterminiert und mehr oder weniger zum Verschwinden gebracht war, auf die USA, die seit den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er Jahre keine so große emanzipatorischen Proteste mehr gesehen hatte, und natürlich auf Russland, gewissermaßen das Heimatland der Posthistoire, wo die autokratische Tradition des Zarismus jeden Gedanken an Partizipation als so vergeblich wie gefährlich erscheinen lassen musste. Keine der Revolten war vorhersagbar, zumindest gab niemand im Nachhinein damit an, sie vorhergesagt zu haben. Aber Revolutionen stellen nicht nur die Frage ihrer Vorhersehbarkeit, sondern auch die ihrer Erkennbarkeit, wenn sie bereits einzutreten begonnen haben. Die Unschlüssigkeit vieler Beobachterinnen, ob es sich bei den vor ihren Fernseh-Schauenden-Augen ablaufenden Prozessen tatsächlich um Revolutionen handelt, ist nicht ohne historische Vorbilder. Vermutlich wurden, weil es so schöner wäre, öfter Revolutionen dort gesehen, wo sie gar nicht stattfanden, aber auch der gegenteilige Irrtum ist dokumentiert. Lenin hatte einen Monat vor Ausbruch der Februarrevolution prophezeit: „Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben”. Und Schljapnikow, der führende Bolschewik in Petrograd, sagte noch nach der Ankunft dieser „kommenden Revolution” am 27. 2. 1917: „Wir haben keine Revolution und werden auch so bald keine bekommen. Wir müssen uns auf eine lange Phase der Reaktion einstellen [1]“. Gerade in ihrer Unwahrscheinlichkeit liegt eine erste Gemeinsamkeit der verschiedenen aufständischen Bewegungen von 2011f. Und lediglich dieses Kriterium der Unwahrscheinlichkeit verallgemeinert, könnte, einfach paradox eben, eine revolutionäre Bewegung selbst in Deutschland wahrscheinlich sein.

Antagonismus und Differenz 
Die Vielzahl historischer Möglichkeiten, die gerade eine revolutionäre Situation bietet, machten es schwierig, sie auf einen klaren Begriff zu bringen. Erst im Nachhinein scheint sich eine eindeutige Richtung der Revolution ausmachen zu lassen. Nur ist diese Eindeutigkeit auch Effekt einer homogenisierenden Geschichtsschreibung, die nicht zuletzt von den Revolutionärinnen betrieben wird, welche sich als siegreiche institutionalisieren konnten. Dem wiederholt formulierten Anspruch nach einheitlicher Stoßrichtung oder zumindest klaren Forderungen konnte selbst die erste siegreiche sozialistische Revolution, Russland 1917, nicht genügen. Die Bolschewiki etwa, deretwegen die Revolution vor allem als „Oktoberrevolution” bekannt wurde, waren zu Beginn der Revolution noch eine kaum bekannte Splittergruppe. Und selbst ihre so einfachen Parolen wie „Land und Frieden” wurden auf tausendfach unterschiedliche Weise aufgefasst und etwa von Bäuerinnen auch recht anders umgesetzt als von den ‚Autorinnen‘ intendiert. Und dies, obwohl die Kommunistische Partei, die aus der Revolution als scheinbare Siegerin hervorging, um kaum etwas mehr bemüht war, als darum, politische Uneindeutigkeiten zugunsten einer klaren Parteilinie zu eliminieren – mit terroristischen Methoden und konterrevolutionären Effekten. Womöglich besteht in diesem Glauben eine spezifisch leninistische Linie der Revolutionsreduktion: in dem Glauben, die vielseitige Vielstimmigkeit der Revolution müsse zugunsten einer Logik der Einheit zum Schweigen gebracht und auf die Stimme der Partei, der Parteilinie, des Zentralkommitees, des Vorsitzenden vereinigt werden. Die Vieldeutigkeit der aktuellen revolutionären Situationen ist so weder ein spezifi sch postmodernes Novum, noch etwas, dessen Verschwinden voreilig gewünscht werden sollte. So verwirrend und tendenziell bedrohlich es auch sein mag, auf Anti-Putin-Demonstrationen im heutigen Russland neben LGBT-Regenbogenfahnen und anarchistischen Bannern auch Flaggen der russischen Ultranationalisten zu sehen. Vielleicht besteht die von der revolutionären Politik gestellte Aufgabe darin, nicht in jeder Differenz einen Antagonismus, aber auch nicht in tatsächlichen Antagonismen bloße Differenzen zu sehen.

Revolution und Reaktion 
Die russischen Revolutionärinnen von 1917 waren davon überzeugt, dass sie nur Erfolg haben könnten, wenn sich die Revolution auf die ganze kapitalistische Welt ausdehnen würde, sie setzten alle Hoffnungen auf Deutschland – und wurden enttäuscht. Auch heute spielt Deutschland wieder eine besondere Rolle: die eines konterrevolutionären Zentrums, die ihm historisch so gut steht – Deutschland hat durch seine Defl ations- und Niedriglohnpolitik, harte Währung, billige Exporte, die europäische Krise mit verursacht, deren Wirkungen es mit seinen Spardiktaten verschlimmert und von denen es als erstes profitiert [2]. Auch heute wird der Erfolg der Revolutionen nicht zuletzt davon abhängen, wie sehr sie sich gegenseitig zu dynamisieren und radikalisieren vermögen. So verschieden die Bedingungen der Bewegungen sind, so unübersehbar sind auch ihre Bezugnahmen aufeinander. Digitale Mobilisierung, Besetzungen öffentlicher Plätze – Tahrir-Platz, Placa de Sol, Syntagma-Platz, Liberty Square – nach Möglichkeit weitgehend gewaltfreie, antistaatliche und vor allem radikaldemokratische Organisierung, die zentralistische Institutionen wie Parteien häufi g ausschließt und zugleich die Forderung nach gesellschaftlicher, das heißt politischer wie ökonomischer Demokratisierung mit einschließt. Bildlich vor Augen stieg die Globalität der revolutionären Bewegung, als auf ägyptischen Demonstrationen Plakate auftauchten, die sich mit den streikenden Arbeiterinnen Wisconsins solidarisierten. Während die einen der Welt so neue Formen des Protestes und der Organisierung lehren, können sie gerade daraus, dass die anderen sie übernehmen, lernen, dass weder der Sturz eines Diktators noch eines Militärrates bereits zu einer Demokratie führt, die diesen Namen verdient: Im selben Moment, in dem in Ägypten die politische Pressefreiheit erkämpft wurde, mussten in Griechenland Zeitungen eingestellt werden, da ihr Erscheinen sich ökonomisch nicht mehr rentierte.

Am deutlichsten wurde die kapitalistische Begrenzung der Demokratie demonstriert, als der damalige griechische Ministerpräsident Papandreou ein Referendum über die von EZB, EU-Kommission und IWF diktierten Sparpläne ankündigte – und es zwei Tage darauf wieder absagte, nachdem die Regierungschefs von Europas stärksten Wirtschaftsmächten, Merkel und Sarkozy, interveniert hatten. Einige Monate darauf empfahlen deutsche Politikerinnen, griechische Wahlen zu verschieben oder verlangten gleich einen „Haushaltskommissar” einzusetzen, welcher dem griechischen Parlament übergeordnet wäre. Diese Forderung nach einem „Gauleiter“ wurde zwar zurückgewiesen, aber die Aufl agen des Spardiktats von Februar 2012 unterscheiden sich im Ergebnis nicht wesentlich – die griechische Regierung wird von einer „Expertengruppe“ von EU-Kommission und IWF überwacht und muss Gelder zur Schuldentilgung auf ein „Sonderkonto“ überweisen, auf das sie selbst keinen Zugriff hat. Demokratie, das war die Lehre dieser Machtdemonstration, bleibt unter kapitalistischen Bedingungen begrenzt; sie endet da, wo sie anfangen könnte, Probleme zu bereiten. Deswegen können an die Stelle gewählter Regierungen auch Expertinnen treten, deren Expertise darin besteht, die „ökonomischen Sachzwänge“ am besten exekutieren zu können. Warum wählen, wenn es nichts zu wählen gibt?

Krise und Kapital 
Daher beziehen die Revolutionsbewegungen, so harmlos sie zuweilen noch erscheinen mögen, ihre welthistorische Brisanz: die Weltwirtschaftskrise von 2008 ist die schärfste seit jenen von 1929, 1974, und sie dehnt sich noch immer weiter aus. In ihr präsentiert der Kapitalismus seine vollendete Unsinnigkeit:

– In den USA und Spanien müssen Menschen in Zelten wohnen
– weil zu viele Häuser gebaut wurden. – In Italien wird die hohe Jugendarbeitslosigkeit beklagt – und das Renteneintrittsalter angehoben.
– In Deutschland steigt die Arbeitsproduktivität, das heißt, es lässt sich das gleiche in kürzerer Zeit herstellen.
– In Griechenland soll ein Staatsbankrott verhindert werden, der eine gesellschaftliche Verarmung zur Folge hätte
– indem die gesellschaftliche Verarmung vorangetrieben wird (was einen Staatsbankrott zur Folge haben dürfte [3]).

Die Herrschenden aber können oder wollen keinen Ausweg fi nden – nicht zuletzt daran lassen sich bevorstehende Revolutionen erkennen. Während bürgerliche Intellektuelle in Europa, wie Frank Schirrmacher und Charles Moore schreien, die Linke solle den Kapitalismus retten, fordert die US-Amerikanische Rechte durch ihren Propagandakanal FOX News, die Schulden für die Bankenrettung sollten nicht von Multimillionären, sondern von den „50 percent poor“ bezahlt werden. Diese Armen, heißt es, seien gar nicht arm, schließlich besäßen sie ja Kühlschränke. Neu daran ist nicht der moralische Skandal, sondern die Unfähigkeit des Kapitals, seine partikularen Interessen zu überschreiten: So lässt sich weder das US-Imperium retten noch die kapitalistische Produktionsweise reproduzieren. Die Krise aber muss gelöst werden. Während die revolutionären Bewegungen wie sämtliche ihrer Vorgängerinnen durch ihre eigene, nicht zuletzt antisemitische, Korrumpierung bedroht sind, stehen weltweit faschistische, reaktionäre, islamistische Bewegungen bereit. In Ungarn beispielsweise haben sie mit Fidesz Regierung und Jobbik Bewegung bereits große Macht erlangt. Reaktionäre Krisenlösungsstrategien lauten sexistische Segregation, rassistische Exklusion und – historisch erfolgreich – Rüstungskeynesianismus, Ausschaltung von Konkurrenz, ‚produktive‘ Vernichtung von Kapital – das heißt Krieg. Die demokratischen Revolutionen müssen so zugleich das Schlimme beenden und das Schlimmste verhindern. Die Diskreditierung des Sozialismus, der sich bei seinem welthistorischen Versuch, Herrschaft abzuschaffen so schmerzhaft wie nachhaltig blamiert hat, hält kaum gebrochen an [4], aber jetzt verliert auch das liberaldemokratische Modell des Kapitalismus viel jener Attraktivität, die es zwanzig Jahre zuvor gegenüber den Staaten des Warschauer Paktes noch hatte. Die ‚ewige‘ Gegenwart des Kapitals ist vorerst zu Ende. Erstmals seit langem ist die Geschichte wieder offen – für Vorschläge.

Bini Adamczak ist Autorin des Buches „Kommunismus. Kleine Geschichte wie endlich alles anders wird.“, und des Textes „Theorie der polysexuellen Oekonomie (Grundrisse)“. Zuletzt erschien von ihr „Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft“ – im Unrast-Verlag und der Edition Assemblage. Sie war Teil des performance-Kollektivs „andcompany&co“, das mit der Aufführung „Little Red (Play): ‚Herstory‘“ bekannt geworden ist.

1 Zitiert nach: Orlando Figes, Tragödie eines Volkes. Die Epoche der Russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 2008, S. 349f.
2 Folker Hellmeyer, in: Monitor, Nr. 631 vom 1.3.2012, Griechenlandkrise: Das Märchen vom deutschen Zahlmeister; http://www.wdr.de/tv/monitor/ sendungen/2012/0301/griechenland.php5
http://uninomade.org/an-absolute-refusal-notes-on-the-12-februarydemonstration- in-athens/
4 Nicht nur durch Scheitern und Niederlage der Sowjetunion, sondern auch dadurch, dass etwa die Baath-Partei erst 2012 den Begriff Sozialismus aus der Verfassung Syriens streichen ließ. Dies dürfte auch ein Grund dafür sein, dass trotz der deutlich in anarchistischer Tradition stehenden Organisationsform der Indignada und Occupy Bewegungen anarchistische wie sozialistische Aktivistinnen trotz ihrer wichtigen Rolle marginal und unterdrückt bleiben; http://www.kosmoprolet.org/angriffe-auf-aegyptischeanarchisten- und-revolutionaere-sozialisten

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