Der Herr Gauck

Den Herrn Gauck müssen wir ganz objektiv nehmen. Subjektiv wär’s gar zu schlimm. Der Mann als Bundespräsident ist die bislang giftigste Pointe auf die bislang ehrlichste Revolution in der deutschen Geschichte.

Von Klaus Wolfram
aus telegraph 124

Erinnern wir uns. Im Herbst 1990 hatte er längst den Finger gehoben, als die Abgeordneten der Volkskammer ihren westlichen Beratern eine Vertrauensperson für die Stasi- Akten benennen sollten. Doch das Berliner Neue Forum traute dem Spiel in der Volkskammer nicht, da ein klarer Paragraph über die generelle Aktenöffnung im Einigungsvertrag fehlte, statt dessen aber der Abtransport ins Bundesarchiv angekündigt war, was jahrzehntelange Sperrfristen bedeuten konnte. Daraus entstand die zweite Besetzung der Stasizentrale in der Normannenstraße, u. a. mit Bärbel Bohley, Ingrid Köppe, Reinhard Schult, die dort in den Hungerstreik traten. Unser präsumtiver Aktenöffner war gegen diese Aktion, weil sie von unten kam und nicht aus dem Hohen Haus. Er lehnte eine auch nur minimale Redezeit für Köppe und Schult vor der noch im Amt befindlichen Volkskammer ab und stellte schließlich auf dem Sonderforum in Leipzig den Antrag, die drei aus dem Neuen Forum auszuschließen. Wahrscheinlich wegen mangelnder Staatsgläubigkeit.

Schließlich schien im März 1991 ein weiterer Eingriff aus der ostdeutschen Bürgerbewegung in das nun gesamtdeutsche Staatsgeschehen notwendig zu sein, um wenigstens die Akteneinsicht als solche zu sichern. Das war die pauschale namentliche Veröffentlichung der oberen zehntausend Gehaltsempfänger auf der Lohnliste der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter durch die „Andere Zeitung“. Es gab mehrere Gründe dafür. Wir wollten diesen radikaldemokratischen Schritt in die Tradition der Gewaltfreiheit stellen, wie sie eben nur die Bürgerbewegung selbst verkörperte. Wir wussten auch, dass die Bild-Zeitung eine Datei besaß und die bei ihr üblichen Hetzjagden auf Einzelne vorbereitete. Obendrein fand um diese Zeit eine Beratung von Innenminister Schäuble mit hohen MfS-Offi zieren darüber statt, wie man die Aktenöffnung umgehen oder minimieren könnte. Wir wollten das Thema in der Hand und vor allem gewaltfrei halten, es ist wohl einigermaßen gelungen. Bis, ja bis dann die Behörde und die Aufarbeitungsindustrie es in ihre Fertigungshallen übernahmen.

Da ich der verantwortliche Herausgeber der „Anderen Zeitung“ war, musste ich hinterdrein bei Gauck vorsprechen, der schon in seinem ersten Büro in der Behrenstraße gegenüber der Komischen Oper residierte. Da saß er vor den schönen großen Fenstern des Palais und spielte mir Empörung vor. Er spielte nicht schlecht. In Worten trug er auftragsgemäß die staatliche Ablehnung vor und gleichzeitig gab er mir durch Gesten zu verstehen, dass er nichts dagegen hätte. Er spielte gut, aber er spielte eben beides nur. Ein Verhalten – jedem DDR-Bürger gut bekannt –, doch im neuen Staat nicht ehrbarer als es im alten war.

Ein Gleisner also, der ahnungslosen Öffentlichkeit den „Bürgerrechtler“ von früher gebend, während er innerlich jede wirkliche Bürgerbewegung verachtet. Was heute nur noch ein verblasstes Etikett ist, diente ihm damals als Eintrittskarte zu den Logen der politischen Klasse. Man muss zugeben, es gab eine Zeit, da war selbst solche Scheinheiligkeit ein politisches Handeln. Das waren die ersten drei Monate im Herbst 89. Da mussten und sollten sich alle Herkünfte, Haltungen und Strömungen aussprechen. Wir kamen weder aus dem Kapitalismus noch aus dem Kommunismus, sondern aus dem Stalinismus und zwar seiner spätesten Variante. Da war eine Revolution als Dialog, als permanente Volksversammlung auf der Straße und an Runden Tischen notwendig und möglich zugleich. Dazu gehörte auch ein Pfarrer Gauck, der schon damals nach den oberen Rängen schielte. Zwei Jahrzehnte danach hat sich jedoch jene persönliche Scheinheiligkeit in politische Verlogenheit verwandelt.

Den Herrn Gauck muss man ganz objektiv nehmen. Er verkörpert das unterste Niveau jener Demokratiebewegung und wird uns jetzt als ihr Abbild vorgehalten. Das kann nicht gut gehen. Demokratie ist ihm nur eine Form ohne sozialen Gehalt, sein politischer Horizont reicht vorwärts bis Nordrhein-Westfalen und rückwärts bis zu dem Antikommunismus, wie er eben auch vor 1989 bestand. Allenfalls sind den alten Thesen nun die früher geheimgehaltenen Zahlen des Unglücks hinzugefügt, doch von der Gesellschaft, wie sie war und wurde bis zum großen gemeinsamen Aufbruch ist damit noch nichts erklärt. So sieht man nichts vom neuen Leben und fügt dem eintönigen Selbstgespräch, das der Westen unter sich über den Osten führt, kein einziges neues Wort hinzu. In diesen Kreislauf vorzeitiger Hypothesen passt allerdings der Herr Gauck. Jede Perspektive wird so verstellt, ob nach vorn oder zurück, und die Menschen klammern sich notgedrungen an Formeln wie „Ich lasse mir meine Biographie nicht nehmen.“ Was er als Aufklärung anpreist, erweist sich als Verschleierung.

Zwei Monate vor ihrem Tod zog mich Bärbel Bohley über die Fehrbelliner Straße, um mir ein Sponti-Plakat zu zeigen, das an einem Schaltergehäuse der Telekom angebracht war. Sie hatte ihren Fotoapparat in der Hand, um es abzulichten. Es war kurz nach der ersten Kandidatur von Herrn Gauck. Auf dem Plakat wurde er als „Wortverdreher unserer Selbstbefreiung“ charakterisiert und der letzte Satz hieß „Wie blind müsst Ihr sein, um Euch diesen aufgeblasenen Frosch aus unserm Teich auf Euern Thron zu setzen?“ Bärbels Kommentar: „Ist nicht von mir, könnte aber von mir sein.“

Wir aber müssen den Herrn Gauck objektiv nehmen. Seine Kandidatur macht nur verlegen, was aber bedeutet seine Wahl? Der Staat hat sich wieder dicht gemacht, die Übergangszeit gegenseitiger Naivitäten ist vorüber. Hatte die politische Klasse einen Blackout, einen Bewusstseinsausfall? Nein, umgekehrt, sie hat kein Bewusstsein mehr nötig für ihre ostdeutschen Provinzen. Vielleicht haben es noch nicht alle Ostdeutschen bemerkt, doch die Falle, soweit sie staatlicher Natur ist, schnappt zu, wenn der letzte Mann der Bewegung zum ersten im Staate gemacht wird. Was ist eigentlich demokratisch an einem politischen Hochstapler? Doch nur der Irrtum des Publikums.

Klaus Wolfram ist Lektor in Berlin. Mirbegründer des Neuen Forums und des BasisDruck Verlages.

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