Editorial telegraph 124

Mit der Nummer 124 erscheint wieder eine neue, tolle Ausgabe des telegraph – und in der Politik, wen überrascht‘s, scheint alles wie gehabt. Die Billionen, die Europa und die USA in ihre Finanzkreisläufe pumpen, haben immer noch keinen spürbaren Effekt. Immer mehr ächzen die Länder unter der Last der kapitalistischen Krise – ersaufen in Schulden. Staaten verschulden sich bei Banken um Banken zu retten. Riesenkredite, die Banken und ganze Länder am Leben halten, den Aufschwung ankurbeln sollen, sind im Prinzip irre Wetten auf erhoffte künftige Einnahmen. Alles ist verschuldet. Ein Kollaps des globalen Finanzsystems ist überreif.

In einigen Staaten bemüht man sich jetzt nicht mal mehr, den Schein bürgerlicher Demokratie zu wahren. Wenn’s nicht läuft wie erhofft, wird das durch Wahlen mehr oder weniger legitimierte politische Personal mal flott durch sogenannte Wirtschafts- und Finanzfachleute ersetzt. „Wer den Euro haben will, muss sich einem strengen Regime unterwerfen“, schreibt die FAZ und fragt „Wie belastbar sind europäische Demokratien?“. Die passende Antwort auf die Frage gibt’s gleich hintendran: „Souveränität endet da, wo die Solvenz endet“: Was ist, wenn auch die „Fachleute“ versagen oder gar der Souverän nicht mehr mitspielen will? Werden wir dann in Europa wieder Militärdiktaturen haben? Zerfällt ihr Euro-Europa in Arm- und Reich-Europa? Wer weiß das schon.

Auch in Krisengewinnler-Deutschland weiß man noch nicht genau, was kommt, installiert aber vorsichtshalber einen Gesundbeter als Bundespräsidenten. Von der Mitte bis weit in das rechtsradikale deutsche Politspektrum ist man sich einig: „Wir sind Präsident!“ (Junge Freiheit vom 24.2.12).

Wir kennen Pfarrer Joachim Gauck aus unserer Revolutionsgeschichte und danach als Freund der Mächtigen. In den letzten zwanzig Jahren fiel er uns vor allem als jemand auf, der sich gern gegen linke Gesellschaftskritik in Stellung bringen lässt und der es offensichtlich liebt, das massenmörderische Dritte Reich mit der spießigen Erziehungsdiktatur der DDR gleichzusetzen.

Völlig wehrlos musste er erdulden, von den Mainstream-Medien zur Gallionsfigur ostdeutschen Freiheitskampfes gekürt zu werden. Derart aufgesockelt wurde er hinterrücks zum Lehrer in Sachen Demokratie (vor allem der noch etwas zurückgebliebenen Ostdeutschen) ernannt. Dann sah er sich mit dem Geschwister-Scholl-Preis versehen. Doch jetzt war der Zug abgefahren und seine Bescheidenheit verbot es ihm, gegen diese Ehrungen aufzubegehren. Zudem befand er sich in guter Gesellschaft: Jede Menge Bundesverdienstkreuze oder Nationalpreise wurden an etliche ehemalige DDR-„Bürgerrechtler“ ausgeteilt, zumeist mit ehrender Erwähnung ihrer Verdienste um die Wiedervereinigung. Den Schneid, derartige Zumutungen zurückzuweisen, besaßen nur Ingrid Köppe und Erika Drees, die nicht vergessen hatten, was sie damals wollten und wo wir heute leben. Joachim Gauck hingegen war angekommen. Endlich eins mit der Obrigkeit, verlautbarte er (vermutlich zum letzten Mal) einige „Verwirrung“ angesichts seiner Nominierung zum obersten Freiheits-Redner der Republik durch die ganz große Koalition. Unsere Überraschung hält sich dagegen in Grenzen.

Die massenhaft geäußerten Einwände gegen Gauck, er sei zu DDR-Zeiten alles andere als ein tätiger Oppositioneller gewesen, habe sich von den politisch alternativen Gruppen fern gehalten sowie seine Systemdistanz vornehm und nichtöffentlich im Schutzraum der Kirche kultiviert, interessieren uns weniger. Systemopposition war schließlich immer eine Sache von kämpferischen Minderheiten und niemandem soll vorgeworfen werden, sich in diesem System vorsichtig zurückgehalten zu haben. Sein Outing als „Bürgerrechtler“ kam im November 1989 doch gerade noch rechtzeitig. So konnte er als „Revolutionär der letzten Stunde“ kräftig mit Hand anlegen, die Herbstrevolution flugs zugunsten des Anschlusses der DDR an die BRD zu beenden. Schließlich hatte der Pfarrer hier das Votum eines leichtgläubigen Volkes und mächtige Verbündete in Westdeutschland auf seiner Seite – wenn auch nicht die Mehrheit der DDR-Opposition. Dafür kann er sich heute des Beifalls vieler „früheren DDR-Bürgerrechtler“ erfreuen, die wie er in Amt, Mandat und anderen auskömmlichen Diensten ihren Frieden mit den derzeitigen deutschen Verhältnissen gemacht haben.

Sollten Gauck und seine Freunde in der Kapitalismuskrise versagen, dann gibt es (nicht nur) in Deutschland, wie wir wissen, immer auch andere Optionen, den Laden zusammen zu halten.

Das mörderische, staatlich finanzierte Neo-Nazi-Netzwerk des NSU und anderer faschistischer Organisationen führte uns eine der möglicherweise drohenden Alternativen zur bürgerlichen Demokratie vor Augen. Vergessen wir nicht, Kapitalismus geht auch anders!

Egal wie es kommt, mit riesen Schuldenbergen im Rücken wird es sich in den nächsten Jahrzehnten gut behaupten lassen, das Geld wäre knapp, es reicht einfach nicht für alle, der Gürtel ist eng zu tragen. Und da man die Reichen bekanntlich nicht zur Kasse bittet, sind jetzt schon vielerorts die Kassen leer. Im Zuge der desolaten finanziellen Lage vieler Kommunen hat die Neiddebatte die westdeutschen Stammtische verlassen. Man hetzt jetzt schon mal offiziell aus westdeutschen Rathäusern gegen die angebliche Fettlebe im Osten und danach gesamtdeutsch gegen die faulen Griechen.

Ein Hinweis noch. Unter anderem ist ja der telegraph das letzte authentische Projekt der Umwelt-Bibliothek Berlin. Die Ostberliner Umwelt-Bibliothek wurde am 2. September 1986 gegründet. In den 12 Jahren ihres Bestehens war die libertäre „UB“ legendärer Treffpunkt der linken DDR-Opposition, Bibliothek, Kneipe, Galerie, Archiv, subversiver Versammlungsort. Diese Internetseite will, 25 Jahre nach ihrer Gründung, aufklären und erinnern: www.Umwelt-Bibliothek.de. Schaut mal rein.

Besonders bedanken möchten wir uns bei FUZZ!GUN aus Erfurt für die Grafiken in diesem Heft (http://fuzzzgun.blogspot.de) und bei Heidi Kruschwitz und Anke Werner für die Korrektur der Texte!

No pasarán!
Eure telegraph-Redaktion

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