Alle gegen alle

Wie die zunehmende Krisenkonkurrenz auf allen Ebenen die Krisendynamik exekutiert und der Barbarei Vorschub leistet.

Von Tomasz Konicz
aus telegraph #125|126

Mit jedem neuen Krisenschub gerät das „Europäische Haus“ immer stärker ins Wanken. Inzwischen träumen europaweit Reaktionäre aller Schattierungen von einer Renaissance des Nationalstaates. An die Stelle des Euro und des seelenlosen Technokratenregimes der EU-Bürokratie sollen diesen rückwärtsgewandten Fieberträumen zufolge wieder die nationalen Währungen und der enge Mief nationaler Ideologiebildung sowie Krisenverwaltung treten. Selbstverständlich handelt es sich bei diesen ideologischen Krisenreflexen um irreale Wunschbilder, denen gerade die Krisendynamik jegliche reale Grundlage entzieht. Die Krise lässt nämlich nicht nur die Eurozone am Rand des Zusammenbruchs taumeln, auch die europäischen Nationalstaaten sind einem Prozess schleichender Erosion ausgesetzt, der sich in einer raschen Zunahme des Separatismus manifestiert.

Diese krisenbedingte Erosion des Nationalstaates äußerte sich etwa im rezessionsgeplagten Spanien in einer gigantischen Massendemonstration, als im vergangenen September mehr als eineinhalb Millionen Menschen in Barcelona auf die Straßen gingen, um für die Unabhängigkeit Kataloniens zu demonstrieren. Die Wechselwirkung von Rezession, immer neuen Sparpaketen und den Belastungen aus dem spanischen regionalen Finanzausgleich treibt den katalonischen Separatisten die Massen zu. Bei der spanischen Version des regionalen Finanzausgleichs zahlt Katalonien rund 20 Milliarden Euro in den spanienweiten Fördertopf ein, aus dem sozioökonomisch rückständige Regionen gefördert werden.

Die konservative Regierungspartei Convergència i Unió (CiU) versteht es geschickt, die im Land umgesetzten drakonischen Sparmaßnahmen – wie Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst und die Einführung von Rezeptgebühren – mit den jährlichen Überweisungen an den Zentralstaat zu begründen. Der „unerträgliche Finanzausgleich“ habe die zusätzlichen Sparmaßnahmen erforderlich gemacht, erklärte etwa Kataloniens Regierungschef und CiU-Vorsitzender Artur Más. „Die Andalusier streichen unser hart erarbeitetes Geld ein und sitzen dann den ganzen Tag in der Bar“, pöbelte unlängst ein weiterer CiU-Politiker im spanischen Parlament.

Ähnliche separatistische Bestrebungen – die im Krisenverlauf an Auftrieb gewinnen – finden sich unter anderem auch in Italien, Belgien, Großbritannien und Deutschland. Die Motivation für diese Absetzbewegungen ist immer dieselbe: In vielen ökonomisch avancierten Regionen dominiert nun das Bestreben, sich von den rückständigen Landesteilen abzuspalten, um sich von den Krisenverwerfungen abzukapseln. Die ökonomisch abgeschlagenen Gebiete werden von den avancierten Regionen als „Schmarotzer“ wahrgenommen, die in der Krise zu einer unzumutbaren Belastung würden. Diese Sichtweise, die Teil einer allgemeinen Tendenz zur Exklusion der Krisenopfer ist, setzt sich neben Katalonien auch in Flandern, Norditalien und in Bayern durch.

In Italien etwa ist es die rechtspopulistische, 1989 gegründete Lega Nord, die für die Errichtung eines norditalienischen Staates streitet, dem sie den Namen Padanien verpassen möchte. Bei den letzten Regionalwahlen Ende 2010 konnte diese separatistische Bewegung italienweit mit 12,2 Prozent der Stimmen ihr bislang bestes Ergebnis erringen, wobei in etlichen nördlichen Regionen zwischen einem Viertel und einem Drittel aller Wähler ihr Kreuz bei der Bossi-Truppe machten. Die historische sozioökonomische Spaltung Italiens in einen reichen und hochgradig industrialisierten Norden sowie einen unterentwickelten und verarmten Süden, droht somit in der Krise eine zusätzliche Sprengkraft zu entfalten. Den jahrelang wirkenden Fliehkräften zwischen den italienischen Regionen droht somit eine krisenbedingte Intensivierung.

Eine ähnliche Konfliktkonstellation kennzeichnet die verfahrene Lage in Belgien, wo die Auseinandersetzungen zwischen Flamen und Wallonen zu der wohl längsten Staatskrise in der europäischen Geschichte führten, als das Land 2010 und 2011 nach einer Wahl ganze 541 Tage auf die Regierungsbildung warten musste. In Belgien sind es die um die rechtsextreme Partei Vlaams Belang gruppierten Kräfte, die eine Loslösung Flanderns aus dem belgischen Staatsverband fordern.

Tatsächlich bildet Flandern inzwischen die wirtschaftlich dominierende Region des hoch verschuldeten Belgiens, während Wallonien unter den Folgen der Deindustrialisierungsschübe der letzten Jahrzehnte leidet. Dabei galt Wallonien (oder die Wallonie) jahrzehntelang als der ökonomisch avancierte Landesteil, in dem sich ein enormer Industriesektor befand. Doch seit dem Einsetzen der Rationalisierungsschübe und dem Strukturwandel ab den 80ern ist dieses ehemalige industrielle Kernland Belgiens von massiver Deindustrialisierung gekennzeichnet, die Wallonien zu einer sozioökonomischen Notstandsregion verkommen ließ.

Dabei könnte auch Deutschland bei zunehmender Krisenintensität zukünftig von separatistischen Konflikten, wie sie derzeit in vielen Krisenländern Europas schwelen, heimgesucht werden. Ein der Wallonie ähnliches postindustrielles Brachland bildet etwa das deutsche Ruhrgebiet, das ebenfalls auf massive Geldspritzen angewiesen ist – und genau diese Ausgleichszahlungen bildeten den Hintergrund eines erbitterten Streits, den Spitzenpolitiker aus Bayern und Nordrhein-Westfalen über mehrere Wochen im vergangenen Sommer ausfochten. So warnte der bayerische Finanzminister, dass für sein Land beim Länderfinanzausgleich inzwischen die „Schmerzgrenze überschritten“ sei – und folglich die Zahlungen Münchens in das föderale Ausgleichsprogramm bis 2019 „eingefroren“ werden sollten. Das CSU-Urgestein Wilfried Scharnagl, der jahrelang als Chefredakteur des Parteiorgans „Bayernkurier“ tätig war, brachte die Konsequenzen dieser Auseinandersetzungen Mitte August gegenüber den Focus auf dem Punkt: „Der Freistaat Bayern muss für die politische und staatliche Freiheit kämpfen, welche die Aufbau- und Gründergeneration im Sinn hatte, als sie die Bayerische Verfassung als Verfassung eines Vollstaates formulierte.“

Diese Tendenz zur Exklusion der Krisenverlierer beschränkt sich nicht nur auf die separatistischen Konflikte – sie ist derzeit allgegenwärtig und sie treibt auch die zunehmenden zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen in der Europäischen Union an, die zu einer regelrechten Renaissance des Chauvinismus geführt haben. Seit Ausbruch der Euro-Krise findet ein binneneuropäischer Überlebenskampf zwischen den Euro-Staaten statt, bei dem die wirtschaftlich unterlegenen Länder einen dauerhaften sozioökonomischen Abstieg erleben. Diese nationalen Machtkämpfe realisieren die Folgen der Krisendynamik, der sich in einem andauernden Prozess von der Peripherie in die Zentren des kapitalistischen Weltsystems frisst und die „Wohlstandsinseln“ der „Ersten Welt“ immer weiter abschmelzen lässt. Die „Dritte Welt“ rückt mit ihrem Elend immer näher an die Zentren heran und breitet sich nun in Südeuropa aus. Für diese nationalen binneneuropäischen Auseinandersetzungen kann die Allegorie der sinkenden „Titanic“ gewählt werden, bei der die Passagiere der ersten Klasse diejenigen der zweiten und dritten über Bord werfen, um noch etwas Zeit zu gewinnen – bis sie selbst an die Reihe kommen.

Somit stellt die gegenwärtige Situation in der Euro-Zone, bei der Deutschland als der klassische „Krisengewinner“ erscheint, eine Illusion dar, die nur unter Ausblendung des grundlegenden Krisenprozesses kapitalistischer Warenproduktion – bei dem die vom Kapitalismus entfachten Produktivkräfte die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprengen – überhaupt aufkommen kann. Spätestens mit den in den 80er Jahren einsetzenden Rationalisierungsschüben der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik findet eine massive Verdrängung von Lohnarbeit in der Warenproduktion statt. Dieser autodestruktive Prozess des Kapitals, das sich mit der Lohnarbeit seiner eigenen Substanz entledigt, äußert sich in einer fundamentalen Krise der Arbeitsgesellschaft, in chronischer Überakkumulation, dem Aufstieg des Finanzsektors und einer gnadenlosen Verdrängungskonkurrenz. Die Euro-Krise bildet dabei nur das jüngste Stadium eines langwierigen Krisenprozesses, bei dem eine beständig zunehmende Verschuldungsdynamik die zusätzliche Nachfrage erzeugte, um eine hyperproduktive und vom permanenten Verdrängungswettbewerb gekennzeichnete Warenproduktion überhaupt noch aufrechtzuerhalten.

In den abschmelzenden Regionen und Gesellschaftsschichten des relativen Wohlstands gewinnen die illusionären Vorstellungen überhand, mittels der Exklusion der neuen südeuropäischen Krisenopfer die eigene soziale und wirtschaftliche Position aufrechterhalten zu können. Wenn in der herrschenden Ideologie die Krisenopfer als die Schuldigen der Krise imaginiert werden – und nicht die Widersprüche des Kapitalismus –, dann könnte der Krise einfach durch deren Ausschluss ein Ende gesetzt werden. Diese Krisenpolitik des Ausschlusses der Krisenverlierer beschränkt sich somit darauf, die Krise zu exekutieren: Die im Krisenverlauf ökonomisch marginalisierten Menschen werden nun auch politisch und institutionell marginalisiert. Diese widerliche Krisentendenz besteht somit darin, die gesamte Last der Krisenauswirkungen einfach auf die Krisenopfer abzuwälzen.

Ähnliche Triebkräfte zur Marginalisierung der Krisenverlierer liegen dem europaweiten Anstieg der Xenophobie oder des Antiziganismus – hier speziell in Osteuropa – zugrunde. Der Befund scheint deprimierend: Ob nun auf europäischer Ebene, im nationalen Rahmen, im Betrieb oder gegenüber Minderheiten: Die von der Krisendynamik betroffenen Menschen neigen dazu, übereinander herzufallen, anstatt die Verhältnisse infrage zu stellen, die sie in die Enge treiben. Bei dieser zunehmenden Exklusion immer größerer Menschengruppen werden nur die dem Kapitalismus eigenen Grundprinzipien ins Extreme getrieben. Konkurrenz und Selektion bilden die grundlegenden sozialen Mechanismen kapitalistischer Vergesellschaftung, denen alle Lohnabhängigen nun verstärkt unterworfen werden. Die korrespondierenden Ideologien des Rassismus, Sexismus und der Xenophobie verstärken und legitimieren den Drang, die „überflüssigen“ Bevölkerungsschichten loszuwerden. Immer mehr Menschen müssen so „draußen bleiben“, während der Konkurrenzkampf innerhalb der abschmelzenden Mittelschichten immer brutaler wird. Tendenziell führt dieser Drang zur Exklusion in die Barbarei – der Konkurrenzkampf aller gegen alle würde zugespitzt in den totalen Krieg aller gegen alle münden. Diese barbarische Krisenideologie brachte der CSU-Politiker Markus Söder auf den Punkt, als er einen Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone forderte und dies mit den Notmaßnahmen beim Bergsteigen verglich: „Hier gilt eine alte Regel vom Bergsteigen: Wenn jemand an deinem Seil hängt und dabei ist, dich mit in den Abgrund zu reißen, musst du das Seil kappen.“ Der wirtschaftliche Schaden für Deutschland sei auf Dauer viel größer, wenn Griechenland im Euro bleibe, polterte Söder im August.

Es ist eine Politik der Panik, des „Rette sich, wer kann“, die Söder und seinesgleichen propagieren. Diese irre Krisenideologie reflektiert dabei nur den irrsinnigen Charakter der Krise. Die Ausgrenzung und Marginalisierung immer größerer Menschengruppen vollzieht sich gerade deshalb, weil der Kapitalismus an seiner Produktivität erstickt. Das Elend breitet sich also gerade deswegen aus, weil die Produktionspotenzen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen immer weiter anwachsen. Die Wahnvorstellung „Es reicht nicht für alle“ kann nur deshalb um sich greifen, weil die absurden Reproduktionsformen des Kapitalismus – bei denen die ganze Gesellschaft nur als eine Voraussetzung der selbstzweckhaften Kapitalakkumulation ihre Daseinsberechtigung hat – nicht infrage gestellt werden. Das „Es“, dass da nicht mehr für „Alle“ reicht, ist der kollabierende Prozess der Kapitalakkumulation, aus den immer mehr Menschen herausfallen. Die materiellen und technologischen Voraussetzungen eines guten Lebens für alle Erdenbewohner sind aber trotz voranschreitender ökologischer Verwüstungen immer noch gegeben – und sie verbessern sich permanent mit dem Fortschritt der Produktivkräfte, der gegenwärtig die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprengt.

In Folge brechen all die Strukturen zusammen, die gerade durch den Kapitalismus konstituiert wurden. Hierzu zählen selbstverständlich auch der Nationalstaat und dessen Staatsapparat, die nur bei ausreichend breiten Prozessen der Kapitalverwertung finanziert werden können. Während etwa Söder Deutschland durch einen Rausschmiss Griechenlands aus der Eurozone „retten“ will, ist „Deutschland“ längst vom geschilderten Virus des Separatismus befallen und selber in Auflösung betroffen, den ausgerechnet Söders Parteifreunde verbreiten – wobei beide Prozesse durch die besagte Krisenkonkurrenz angetrieben werden. Die ökonomisch rückständigen Regionen in der BRD sollen genauso ausgeschlossen und marginalisiert werden, wie die ökonomisch rückständigen Staaten in der EU, die sich im Kollaps befinden. Es ist ein brutaler Kampf „Aller gegen Alle“, der sich mit jedem weiteren Krisenschub verstärkt und der Barbarei Vorschub leistet.

Auf innenpolitischer Ebene hat sich in der BRD spätestens seit der berüchtigten Sarrazin-Debatte im Sommer 2010 eine dieser Krisenkonkurrenz korrespondierende rechtsextreme Ideologie etabliert, bei der ein öffentlicher Diskurs von einem totalitären Ökonomismus durchsetzt wurde. Der Ökonomismus bildet den zentralen ideologischen Hebel, der den zunehmenden Krieg „Aller gegen Alle“ in der Krise legitimiert. Hierbei werden alle Gesellschaftsbereiche und Bevölkerungsschichten auf ihre ökonomische Verwertbarkeit überprüft. Dieses Amok laufende Rentabilitätsdenken greift erst dann auf Rassismus oder Sozialdarwinismus zurück, wenn es Erklärungen für Krisenphänomene liefern soll – etwa für das Aufkommen einer Unterschicht in der BRD oder für die Schuldenkrise in Südeuropa. Die Nation wird zusehends als eine „Leistungsgemeinschaft“ wahrgenommen, die gegen „unproduktive“ Elemente und „Kostenfaktoren“ vorgehen müsse: von den renitenten Griechen über faule Arbeitslose bis zu den arabischen Migranten.

Der Rechtsextremismus erfuhr somit im Krisenverlauf einen gewissen „Rationalisierungsprozess“ im Sinne des kapitalistischen Rentabilitätsdenkens. Gerade deswegen konnte er sich in dieser ökonomisch grundierten Spielart im öffentlichen Diskurs etablieren, da er an den Neoliberalismus andockte. Im Endeffekt schwingen sich Vertreter dieses extremistischen Ökonomismus in die Rolle des ideellen Gesamtvorsitzenden des Personalrats der „Deutschland-AG“ auf. Wobei Figuren wie Sarrazin oder der berüchtigte Professor Hans Werner Sinn bestimmten Bevölkerungsgruppen aufgrund einer Kosten-Nutzen-Analyse das Bleiberecht – und implizit auch das Existenzrecht – absprechen. Der Mensch, die gesamte Gesellschaft – ja das Dasein als solches – verkümmern in dieser Ideologie zu bloßen Voraussetzungen der kapitalistischen Verwertungslogik. Alle müssen unter Beweis stellen, dass sie „nützlich“ sind. Ein Leben jenseits des Götzendienstes an der kriselnden Kapitalakkumulation scheint so nicht mehr denkbar – es wird als widernatürlich und parasitär verteufelt. Es findet eine kalte Abwägung statt, welche gesellschaftlichen Gruppen noch einen ökonomischen Nutzen aufweisen und welche als bloßer Kostenfaktor fungieren. Diese Elemente – die auch im klassischen Nationalsozialismus vorhanden waren – dominieren bei diesem Extremismus der Mitte, während faschistische Ästhetik oder explizit nationalsozialistisches Vokabular kaum zu finden ist.

Inzwischen ist dieses Denken im öffentlichen Diskurs längst hegemonial geworden. Wenn ein Markus Söder fordert, an Griechenland „ein Exempel“ zu statuieren, dann kann er die Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands auf seiner Seite wissen. Ähnlich argumentiert auch FDP-Chef Rösler, der den Ausschluss Griechenlands aus der EU herbeireden will. Ein ganzes Land wird hier von der deutschen Politkaste „abgeschrieben“, zur Desintegration freigegeben, die den sozioökonomischen Zusammenbruch Griechenlands vollenden wird, der durch den von Berlin und Brüssel oktroyierten Sparterror eingeleitet wurde – und wir können uns sicher sein, dass dieser Reflex des Ausschlusses ganzer Volkswirtschaften auch in Bezug auf die anderen südeuropäischen EU-Staaten in der deutschen Öffentlichkeit überhandnehmen wird, sobald der Krisenprozess auch bei diesen Ländern weiter voranschreitet.

Die überwiegende Mehrheit der Bundesbürger ist sich einig, dass die Griechen aufgrund wirtschaftlicher Defizite für ihre hoffnungslose Lage genauso selber verantwortlich seien – wie die Hartz-IVEmpfänger hierzulande. Zum Erfolg dieses totalitären Ökonomismus trug ein kaum beachteter Umstand bei: Diese Ideologie bildet eine – durch die Krisendynamik ausgelöste – irrationale Zuspitzung der Wertvorstellungen, Anschauungen und Ideale, die eigentlich in den nun beständig erodierenden „Mittelschichten“ der kapitalistischen Gesellschaft zu finden sind. Teils unfähig, teils unwillig, eine Alternative zur kapitalistischen Dauerkrise zu denken, können diese Mittelschichten einen Krisenausweg nur in der gnadenlos gesteigerten Unterordnung der gesamten Gesellschaft unter das Regime der stockenden Kapitalakkumulation suchen.

Da bei dem extremistischen Ökonomismus die gesamte Gesellschaft konsequent den kapitalistischen Rentabilitätskriterien unterworfen wird, wird hier tatsächlich das betriebswirtschaftliche Rentabilitätsdenken aus der „Mitte“ der Gesellschaft ins Extrem getrieben, indem es der gesamten Gesellschaft übergestülpt wird. Diese irre Weltanschauung ist ja schon in der Rede von der „Deutschland- AG“ sprichwörtlich geworden. Unsere Gesellschaft wird längst als ein einziges Unternehmen betrachtet – eine Existenzberichtigung hat nur das, was zum „Unternehmenserfolg“ beiträgt. Die kapitalistische Ideologie kommt so zu sich selbst, sie lässt gewissermaßen alle pseudo-humanistischen Hüllen fallen und unterwirft die Gesellschaft direkt dem Terror des Wertes.

Der hauchdünne Lack aller nun als „politische Korrektheit“ verachteten zivilisatorischen Errungenschaften, der der kapitalistischen Mehrwertmaschine einen demokratischen Anstrich verlieh, blättert bei jeder Krisenerschütterung immer weiter ab. Das ganze menschliche Gemeinwesen verkommt hier zu einem lästigen, aber notwendigen Durchgangsstadium der Kapitalakkumulation, wobei einem jeden Menschen nur dann eine Existenzberechtigung zugesprochen wird, wenn er zu diesem irrationalen und letztendlich destruktiven Selbstzweck der Kapitalverwertung irgendwie direkt oder indirekt beiträgt. „Du bist nichts, dein Wirtschaftsstandort ist alles“ – auf diese Parole ließe sich diese Ideologie reduzieren, die diesen barbarischen Kern kapitalistischer Vergesellschaftung wieder offen artikuliert. Der Sozialpsychologe Oliver Decker hat diesen krisenbedingten Wandel der rechtsextremen Ideologie in der Studie „Die Mitte in der Krise“ auf den Punkt gebracht:

„Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele – präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen – verstärkt einen autoritären Kreislauf. Sie führt zu einer Identifikation mit der Ökonomie, wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht.“

Dieser durch die Unterordnung unter „wirtschaftliche Prämissen“ befeuerte autoritäre Kreislauf benötigt die faschistische Ästhetik nicht mehr, wie sie etwa noch von den dumpfen Stiefelfaschisten der NPD gepflegt wird. Dennoch birgt der ökonomistische Extremismus der Mitte weitaus größere Gefahren, da er eine schleichende autoritäre Transformation der Bundesrepublik ermöglicht, die durch eine beständige reaktionäre Verschiebung des gesamten politischen Spektrums vollführt wird. Es findet keine Neugründung einer Rechtspartei in der Bundesrepublik statt, gerade weil das gesamte Parteienspektrum sukzessive nach rechts abdriftet. Und genau diese schleichende Ausbildung einer „extremistischen Gesellschaft“, in der alles auf dem Altar der krisengeplagten Ökonomie geopfert wird, birgt das größte Gefahrenpotenzial für die Überreste bürgerlicher Demokratie und jegliche soziale Emanzipation (Demokratie in der Krise). Schon längst werden auch in Deutschland Menschen in den Hungertod getrieben, wenn sie den Befehlen der repressiven Armutsverwaltung nicht Folge leisten können. Wir haben uns einfach an diese barbarischen Zustände längst gewöhnt. Da sie in einer „demokratischen“ Form per Parlamentsbeschluss durchgesetzt wurden, werden sie kaum als extremistisch und barbarisch wahrgenommen.

Dabei muss dieser extremistische Ökonomismus als ein fortdauernder ideologischer Prozess begriffen werden, der in Reaktion auf die Krise des Kapitalismus an Dynamik gewinnt. Diese gnadenlose Ideologie erfährt parallel zur sich zuspitzenden Krisendynamik eine permanente ideologische Zuspitzung. Je offensichtlicher der Kapitalismus an seine inneren Grenzen stößt, desto stärker greift der Extremismus der Mitte um sich, desto rigider und gnadenloser wird die Unterwerfung unter das Diktat der kollabierenden Ökonomie eingefordert.

Dieser extremistische Ökonomismus stellt somit eine Krisenideologie dar, die eine „reaktionäre Reaktion“ der verängstigten Mittelschichten auf die Krisendynamik bildet. Dabei ist der ideologische Mechanismus der Personifizierung von Krisenursachen entscheidend, der die Krisenopfer zu den Verursachern der Krise halluziniert. In vielen abstiegsbedrohten Bevölkerungsgruppen greift eine Art „Bunkermentalität“ um sich, bei der die eigene soziale Stellung dadurch behauptet werden soll, dass die Krisenopfer für die Krise verantwortlich gemacht werden, um vermittels dieser Personifizierung der Krisenursachen die daraus folgenden Maßnahmen der Marginalisierung und Abstrafung der Krisenverlierer zu legitimieren.

Die unproduktiven Kostenfaktoren – wie Griechen, Arbeitslose, Alte, Kranke – deren bloße Existenz die nationale Leistungsgemeinschaft belastet, sollen weg. Dies ist letztendlich ein absurdes, mörderisches und ins Magische tendierendes Denken, das die Krisenursachen zu Eigenschaften von Menschen halluziniert. Die objektiv aus dem Krisenprozess resultierende Exklusion immer größerer „überflüssiger“ Teile der Menschheit aus der Arbeitsgesellschaft findet ihre ideologische Legitimierung in den entsprechenden extremistischen Diskursen, die den Arbeitslosen und Bewohnern der betroffenen Länder eine rassistisch oder kulturalistisch grundierte Minderwertigkeit andichten.

In ihrem Kern handelt es sich bei den gegenwärtigen Verwerfungen um eine Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die – wie schon eingangs kurz erwähnt – durch die dritte industrielle Revolution in Mikroelektronik und Informationstechnologien ausgelöst wurde. Letzten Endes ist der Kapitalismus schlicht zu produktiv für sich selbst geworden. Dieses System stößt an eine „innere Schranke“ (Robert Kurz) seiner Entwicklung. Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führen dazu, dass immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden können.

Die aufgrund dieser zunehmenden kapitalistischen Krisendynamik aus der Kapitalverwertung herausgefallenen, „überflüssigen“ Menschen werden für die hieraus resultierenden, sozialen Desintegrationserscheinungen verantwortlich gemacht. Die bloße Existenz dieser auf soziale Transferleistungen angewiesenen Menschen wird so zum Problem, zur Ursache der gegenwärtigen Krisenerscheinungen erklärt – diese Krisenverlierer waren schlicht nicht „leistungswillig“, so das Mantra von Professor Hans-Werner Sinn, Sarrazin, Henkel, Rösler, Söder und Co.

Die totale Unterordnung aller Gesellschaftsbereiche unter das eiserne Diktat der kriselnden Ökonomie liefert somit die ideologische Legitimation des voranschreitenden Krisenprozesses. Die Krise erscheint als das Ergebnis des wirtschaftlichen Versagens von Individuen, Ländern oder Bevölkerungsgruppen. Die aus der zerfallenden kapitalistischen Arbeitsgesellschaft herausfallenden Gruppen werden vermittels dieser Personifizierung der Krisenursachen stigmatisiert. Hierdurch werden die Verelendung und Entrechtung der zu Krisenverursachern gestempelten Krisenopfer legitimiert – ob nun durch die Hartz-IV-Arbeitsgesetze in Deutschland oder den Troika-Terror in Griechenland.

Wie gesagt, handelt es sich bei diesem totalitären Ökonomismus um eine in permanenter Zuspitzung befindliche Ideologie, deren Extremismus mit jedem Krisenschub an Intensität gewinnt. Der Druck auf Arbeitslose wird in Deutschland aufgrund der eskalierenden Systemkrise bald noch weiter ansteigen – und es bedarf in einer solchen Situation nur einer Medienkampagne gegen „Sozialschmarotzer“, um weitere Kürzungen bei den Überresten des deutschen Sozialstaates zu legitimieren. Die offene Vernichtungsdrohung schwingt bereits jetzt bei der Hetze gegen alle mit, die Sarrazin nicht „anerkennen“ will, weil sie nicht mehr arbeiten können oder wollen. Hierin liegt das implizit mitschwingende, massenmörderische Potenzial dieser derzeit an Kontur gewinnenden Ideologie: Die wirtschaftlich „Überflüssigen“ des kollabierenden und in Barbarei umschlagenden Kapitalismus sollen aufgrund eines eiskalten Rentabilitätskalküls – derzeit zumindest als Kostenfaktoren – verschwinden.

Tomasz Konicz, geb. 1973 in Olsztyn/Polen, studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie in Hannover sowie Wirtschaftsgeschichte in Poznan. Arbeitet als freier Journalist. Kürzlich erschien von ihm das eBook „Politik in der Krisenfalle. Kapitalismus am Scheideweg“ im Heise Zeitschriften Verlag.

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