Totgesagte leben länger oder die Rückkehr des deutschen Militarismus

Längst ist die Bundeswehr von einer ehemals propagierten Truppe von „Bürgern in Uniform“ zu einer staatlich finanzierten Söldnertruppe mutiert

Von Torsten Schleip
aus telegraph #125|126

„Andere Staaten besitzen eine Armee; Preußen ist eine Armee, die einen Staat besitzt“ meinte Graf Mirabeau beim Tode Friedrich II. Und wie das mit historischer Kontinuität so ist, wurde das auch bis 1945 nicht besser. Eine der Lehren des Zweiten Weltkrieges war es dann, Deutschland oder das was übrig geblieben war diesmal konsequenter zu entmilitarisieren. Franz-Josef Strauß meinte damals: „Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nehmen will, dem soll die Hand abfallen.“ Da das historische Gedächtnis noch schneller veralzheimert als das normale, wurde der Mann später Verteidigungsminister und Chef der neugestalteten Bundeswehr. Die setzte sich wie die parallel aufgebaute NVA aus mehr oder weniger verdienstvollen Wehrmachtsoffizieren zusammen. Während man sich in der BRD in Sachen Traditionspflege z. B. bei der Benennung von Kasernen fleißig der Helden des vergangenen Krieges bediente, wurde sich in der DDR wenigstens formal vom preußisch-deutschen Militarismus getrennt.

Vor 1989 kursierte der Spruch: Bundeswehr und NVA sind dazu da, den Feind an der Grenze solange aufzuhalten, bis reguläre Truppen eintreffen. Da nicht mal die jeweils Verbündeten die beiden Truppen so richtig ernst nahmen oder ihnen das gegenseitige Eliminieren nicht richtig zutrauten, wurden sicherheitshalber Soldaten der nun verfeindeten Siegermächte in Größenordnungen stationiert. Die blieben aber im Wesentlichen unter sich und wurden gesellschaftlich nicht so prägend wie frühere militaristische Strukturen. Und plötzlich waren zwei Armeen einer Nation in einem sich veränderten Europa von ehemaligen oder neuen Freunden umgeben und damit ohne Feind und ohne Ehr. Unter Auflösungsminister Eppelmann wurden die Reste der „Volks“armee fast problemlos (bis auf ein paar Ewiggestrige) in die „Bürger“armee integriert. Für deren gleichzeitige Auflösung fehlten den Entscheidungsträgern der politische Wille oder schlicht das Vorstellungsvermögen. Historisch einmalig wäre es schon gewesen, aber bei überholten Bündnisstrukturen durfte es ja auch nicht sein, wo kämen wir denn da hin. Die neue gesamtdeutsche Wehrmacht verschwand erst mal gut getarnt in der Versenkung und aus dem öffentlichen Bewusstsein. Außer von den uniformierten Uninformierten oder den Wenigen, die nicht gleich die zivile Alternative bevorzugten, wurde die Armee als solche fast nicht mehr wahrgenommen. Gab ja auch genügend andere Probleme. Die kaum gekürzten Mittel aus dem Bundeshaushalt gelangten dank eiligst aufgelegter völlig unbrauchbarer Rüstungsprojekte schon in die richtigen Taschen, da war die Welt des militärisch-industriellen Komplexes in Ordnung. Für eine kurzfristig halluzinierte Friedensdividende blieb nichts übrig.

Zögerliche Reinkarnation

Bis zur kriegerischen Wiederverwertung deutscher Truppen sollte es noch etwas dauern. Die Bundeswehr rettete sich mit Sanitätseinsätzen wie in Kambodscha, die das DRK oder „Ärzte ohne Grenzen“ besser gelöst hätten, über Wasser. Zwar gab es einige kleinere Skandälchen wie NVA-Waffen für die Türkei oder Indonesien, die seltsame nun gesamtdeutsche Traditionspflege oder der des Öfteren erbrachte Nachweis der Einsteinschen These, dass für die zur Fahne Eilenden das Rückenmark genügt hätte und die politische „Ungesinnung“ entsprechend ausfällt. Damals schafften es solche Meldungen immerhin noch auf vordere Plätze in den „Leid“medien. Ansonsten schotteten sich die gutbezahlten Arbeitslosen in ihren Kasernen ab.

Nachdem irgendein Verantwortlicher ein Exemplar von General Salamis gesammelten Dienstvorschriften wiederentdeckte, ging es ab Mitte der 90er Jahre scheibchenweise zurück zu Ansätzen alter Herrlichkeit: Somalia, Überwachungseinsätze der Marine vor der jugoslawischen Küste und schließlich vorgeblich friedensschaffende oder – erhaltende bis – erzwingende Maßnahmen unter (zumindest formalem) UN-Kommando. Auf das sich der deutsche Michel langsam wieder dran gewöhnt.

Auferstehung

Ausgerechnet den der Friedensbewegung entsprossenen Grünen blieb es in Zusammenarbeit mit den bei solchen Dingen seit 1914 traditionell hilfreichen Sozialdemokraten überlassen, das deutsche Volk zurück in den Krieg zu führen. Wenn auch erst mal nur die Luftwaffe und auch noch nicht in aller Welt – bei der Bombardierung Serbiens 1999 mitmorden durfte. Um der doch so friedliebenden Nation die Kröte schmackhaft zu machen, faselte die Achse des blöden Fischer-Scharping im Kosovo eine hufeisenförmige Vernichtungsrampe herbei. Leicht abseits der Realität,

aber medial brachial durchschlagend, und darauf kommt es bei Kriegspropaganda einzig an. Die ins Hintertreffen geratenen Landstreitkräfte mussten zunächst bis zu den Wassermassen der „lodernden Glut“ 2002 warten, um sich im Felde bewähren zu dürfen. Zwar handelte es sich beim Feind um einen natürlichen, trotzdem konnte bei der Zerschießung des einen oder anderen Deiches praktische Erfahrung gesammelt werden. Und plötzlich hatten alle die Truppe wieder lieb. Kein Wunder beim Slogan „Retten-SchützenBergen-Helfen“. Und wo jetzt im Namen des emanzipatorischen Fortschritts auch Frauen alle Karriereleitern offenstanden.

Denn heute gehört uns …

Den ersten richtigen Krieg seit 1945 haben deutsche Truppen diesmal nicht selbst angefangen (wahrscheinlich war es deswegen lange auch keiner). Und auch nur notgedrungen mitgemacht, wegen Bündnisverpflichtungen und so. Und wegen der Verteidigung der deutschen Sicherheit am Hindukusch, der Rechte der afghanischen Frauen und Mädchen, der Hinterfotzigkeit der Talibane. Und nur so lange bis wieder Ruhe ist. Das geht nun seit über zehn Jahren so und die großen Erfolge bleiben aus, genauso wie die kleinen oder überhaupt welche. Weswegen demnächst auch wieder abgezogen wird oder auch nicht. Wenigstens dient das jährliche Ritual der Mandatsverlängerung im Bundestag als Exempel politischer Mathematik: zwei Drittel bis drei Viertel der Volksvertreter stimmen zu, während die Anteile im Volk dieselben sind, allerdings gegen Auslandseinsätze und insbesondere gegen den in Afghanistan. Und das nach zehn Jahren medialer Dauerberieselung.

Der Fall Oberst Klein

Ebenfalls geradezu exemplarisch die politische und gerichtliche Bewertung des bedeutendsten deutschen Kriegsverbrechens seit 1945. Drei Jahre nach dem Massaker von Kunduz kann nur das vollständige Versagen sämtlicher vermeintlicher politischer und rechtlicher Kontrollinstanzen festgestellt werden (wieso kommt das einem so bekannt vor?). Auch wenn es formal noch keine vollständig getrennte Militärjustiz gibt, und Soldaten eigentlich dem Zivilrecht unterliegen, wird schon mal die eine oder andere Ausnahme gemacht. Bei einem vom deutschen Oberst Klein, damaliger Kommandeur des Stützpunktes Kunduz, befohlenen Bombardement durch US-amerikanische Flugzeuge kamen über einhundert unbeteiligte Kinder, Jugendliche und Männer ums Leben. Untersuchungen der Bundeswehr selbst und von NATO-Strukturen stellten schwere Versäumnisse und die Missachtung interner ISAF-Regeln fest (von normalen moralischen Kategorien mal ganz abgesehen). Das fängt an bei falschen Angaben über Feindkontakt, geht über die Ausschaltung militärisch vorgesetzter Instanzen bis hin zur Ablehnung der Anfrage der Bomberpiloten wegen vorheriger Warnung der Opfer durch Überflug des Gebietes. Auf die von Marcel Mettelsiefen und Christoph Reuter in ihrem Buch „Kunduz, 4. September 2009 – eine Spurensuche“ aufgeworfenen Fragen etwa nach der Rolle des Kommandos der Spezialkräfte, der des MAD vor Ort, nach politischen Vorgaben der Regierung und den Verantwortlichkeiten übergeordneter Befehlshaber wird es wohl auch erst nach Ablauf diverser Sperrfristen Antworten geben. Von Anfang an wurden die wahren Hintergründe von Militärs und Politikern verschleiert, verdreht, zurechtgelogen oder ignoriert. Außer den Bauern – respektive Generalinspekteur – und Staatssekretärsopfern Schneiderhan und Wichert hat das Verbrechen für die Beteiligten keine Folgen gehabt. Der zuständige Minister musste nicht wegen seines Versagens bei der Aufklärung, sondern wegen allgemeiner Differenzen mit der Wahrheit abtreten, die Regierungsverantwortlichen haben sich zumindest teilweise über die unmittelbar folgende Wahl gerettet, und überhaupt will keiner von nichts mehr was wissen.

Oberst Klein musste sich nach seiner Rückkehr aus Afghanistan zunächst von den schweren Belastungen seines Einsatzes erholen, durfte sich später zum laufenden Verfahren nicht äußern und wurde dann vollständig absolutiert. Die Bundeswehr verzichtete „nach eingehender Untersuchung“ auf eine interne disziplinarrechtliche Verfolgung der Verfehlungen, die Staatsanwaltschaft Dresden gab die zivilrechtlichen Ermittlungen an die Bundesanwaltschaft ab und diese stellte das Verfahren am 19. April 2010 ein. Außer Spesen nichts gewesen. Klein verließ seinen Posten als Stabschef der 13. Panzergrenadierdivision Leipzig in Richtung Kriegsministerium und wird (leicht verspätet) für seine Standhaftigkeit im Feuer übergesinnter Journalisten und einer entsetzen Öffentlichkeit zum Abteilungsleiter für Personalmanagement der Bundeswehr ernannt, zunächst wie ein Brigadegeneral bezahlt und schließlich auch formal befördert. Muss nur noch ein wenig Gras wachsen. Wem es nicht aufgefallen sein sollte: Oberst Klein ist dann für das Personal der Bundeswehr, also für Soldatinnen und Soldaten und Zivilbeschäftigte, verantwortlich. Der richtige Mann am richtigen Ort.

Werben fürs Sterben

Damit General Klein in den nächsten Jahren auch noch was zu verwalten hat und weil immer mehr traumatisiert aus den Einsätzen zurückkehren, wird die Werbetrommel für die Rekrutierung neuen Kanonenfutters immer eifriger gerührt. Den

lebensund berufsperspektivorientierten Anzeigen kann sich kein Bahnfahrer, Fernsehzuschauer oder Leipziger Stadtfestbesucher entziehen. Damit das Zielpublikum erreicht wird, wird schon mal über das Ziel hinausgeschossen: die Jugendzeitschrift BRAVO wirbt ungeniert und leider auch ungehindert für „Adventure-Camp und Team-Challenge“ am Meer und in den Bergen. Für den ungehinderten Zugang zu Schulen und Universitäten hat die Bundeswehr in fast allen Bundesländern unter Mittäterschaft der Kultusministerien Kooperationsvereinbarungen geschlossen. Damit werden speziell zugeschnittene Grundlagen für einseitige Indoktrination geschaffen und bestehende Regelungen wie der Beutelsbacher Konsens weiträumig umgangen. In der Praxis sieht das dann so aus: in den eineinhalb Jahren der Vereinbarung wurden in Sachsen 791 schulpflichtige Veranstaltungen mit Jugendoffizieren verzeichnet. Dabei wird der Beutelsbacher Konsens eingehalten, weil es so im Lehrplan steht und die Lehrer darüber zu wachen haben. Nichteinhaltung nicht bekannt. 59 Schulklassen nahmen am Seminarprogramm Politik und internationale Sicherheit (Polis) teil. Falls die Zahlen Verwirrung stiften: jeden Schultag zwei Besuche, jede Schulwoche ein Seminar – nur in Sachsen. Dazu kommen vier Fortbildungsseminare für sächsische Lehrer. Die Frage nach der Präsenz der Bundeswehr bei der Lehrerausbildung wurde bei der zitierten Beantwortung der Kleinen Anfrage des Landtagsabgeordneten der Linkspartei Volker Külow geschickt umgangen.

Macht denn da keiner was dagegen?

Es regt sich schon Einiges an Widerstand gegen die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft. Nur gilt auch da: allein machen sie dich ein. Mehrfrontenkriege zersplittern die einsetzbaren Kräfte. Und der Gegenwind wird stärker. Bei der angemeldeten und genehmigten Mahnwache gegen die Präsenz der Bundeswehr auf dem Leipziger Stadtfest wurde den Protestierenden durch den Veranstalter die gewaltsame Entfernung angedroht, die Durchführung wurde dann doch bleiben gelassen. Ansonsten wird strikt gewaltfreier Widerstand kriminalisiert und wenn irgend möglich erschwert und unterbunden. Das jüngste Beispiel für die Beugung und Aushebelung von Verfassung, Versammlungsgesetz und Meinungsfreiheit findet sich in Sachsen-Anhalt. Da wurde versucht, ein Camp gegen das Gefechtsübungszentrum Altmark im Vorfeld zu verhindern. Da das (noch) nicht so einfach geht, wurde die in der BRD bisher größte Versammlungsverbotszone installiert. Besucher des Camps und Einwohner der umliegenden Dörfer oder auch des Weges kommende Wanderer wurden weiträumigen Personenkontrollen unterzogen, mehrere tausend Polizisten sicherten das von Rheinmetall formal privatwirtschaftlich betriebene und an die Bundeswehr und andere Armeen vermietete Gelände ab bzw. versuchten es wenigstens. Hat nicht so richtig funktioniert. Wer sich gern gut behütet fühlt, war auf den schließlich nach Einlegung von Rechtsmitteln zugelassenen Veranstaltungen gut aufgehoben. Dabei sollte eigentlich darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Bundeswehr auf dem Übungsplatz die Brechung (noch) geltenden Rechts vorbereitet: den Einsatz im Inneren. In der Übungsstadt Schnöggersburg soll der Einsatz in urbanen Gebieten mit Elendsvierteln, vornehmen Wohnbereichen, U-Bahn, Schulen und Einkaufszentren trainiert werden. Also in Bereichen, die es so in den derzeitigen Einsatzgebieten gar nicht gibt. Wohl aber im zunehmend kriselnden Europa oder in der Bundesrepublik selbst. Honni soit qui mal y pense.

Fazit: Längst ist die Bundeswehr von einer ehemals propagierten Truppe von „Bürgern in Uniform“ zu einer staatlich finanzierten und keiner weiß wie gelenkten Söldnertruppe mutiert, die international und im eigenen Land ungestraft außerhalb der sonst verbindlichen rechtlichen Normen agieren darf und sich ihr Handeln von der Legislative, der Judikative und den politisch Verantwortlichen voraus oder nacheilend gehorsamst sanktionieren lässt. Und wenn es noch nicht ganz so weit sein sollte, sind wir auf dem schlechtesten Weg dahin.

Torsten Schleip ist Lehrer für Mathematik, Physik und Französisch. Seit Wendezeiten aktiv in der Initiative für eine Vereinigte Linke, Friedensweg Leipzig, Friedenszentrum Leipzig und DFG-VK.

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