Der zivilgesellschaftliche Arm des Bundesfamilienministeriums oder Verfassungsschutz light

Vielerorts werden Mietproteste noch ausschließlich vom Staatsschutz betreut, in Leipzig versucht man’s eleganter. Dort ist „Kampf gegen Linksextremismus“ offensichtlich eine arbeitsteilige Mischung aus Kriminalprävention und Ausforschung von Subkulturen durch das Familienministerium. Während heute viele erfolgreiche Projekte gegen „Rechtsextremismus“ wegen Fördermittelkürzungen vor dem Aus stehen,scheint für die Bekämpfung linker Strukturen das Geld reichlich zu fließen.

Von Jenz Steiner
aus telegraph #127|128

In Zeiten des sozialen Klimawandels lässt sich der Bund den Kampf gegen Links richtig was kosten, allen voran das Bundesfamilienministerium mit der „Initiative Demokratie stärken“. Obwohl sich die Gefahr, die von der radikalen Linken ausgeht, eher auf dem Niveau von Farbbeutelwürfen bewegt, will man dennoch vorbeugen und ihr rechtzeitig den Wind aus den Segeln nehmen. In Städten wie Leipzig steigen die Wohnungsmietpreise bis 2015 um 7,1 bis 7,5 Prozent. Das ist für alle spürbar. Dennoch gelten Verdrängung und Gentrifizierung als vornehmlich von Linken besetzte Themen. Wer sich vor der eigenen Haustür dagegen einsetzt oder in linken Gruppen engagiert, zieht inzwischen nicht nur die Aufmerksamkeit des Staatsschutzes oder Verfassungsschutzes auf sich, sondern wird mit seiner Expertise und seinem Einblick in die eigene Szene auch interessant für Studien verschiedener Institutionen. Nicht immer dienen diese Studien der Wissenschaft. Mit Fördergeldern des Bundes und dem Detailwissen der Szene-Insider will der Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ nun eine Website zum Thema „Linksextremismus“ aufbauen. Auf dem Portal soll man sich über linksradikale Positionen informieren und langfristig in geschlossenen, moderierten Chats darüber diskutieren können. Ein aktuelles Fallbeispiel aus Leipzig: Eine kryptisch formulierte e-Mail erreichte Anfang des Jahres den Leipziger Stefan Lehmann, der seinen richtigen Namen nicht publik machen will. Lehmann engagiert sich im Conne Island, einem 22 Jahre alten und überregional bekannten Jugendkulturzentrum in Leipzig Connewitz.

Die Absenderin der Mail stellte sich als Mitarbeiterin des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ vor, einem 1993 gegründeten Verein, der hauptsächlich Bildungs- und Beratungsarbeit zu Nationalsozialismus, DDR-Geschichte und Rechtsradikalismus betreibt. In der Nachricht bat sie Lehmann um die Teilnahme an einem so genannten Leitfadeninterview zur Entwicklung systemisch-lösungsorientierter und online-basierter Ansätze in den Themenfeldern Linksextremismus und Gentrifizierung.

Kontakt von der Kommune
Die Kontaktadresse sei ihr „von der Kommune empfohlen“, also von der Stadt Leipzig ausgehändigt worden. Zuerst hielt Lehmann die Nachricht für die Anfrage einer Studentin, doch die schwammige Ausdrucksweise machte ihn stutzig. Er vermutete, dass der Kriminalpräventive Rat (KPR) der Stadt Leipzig Daten von politisch aktiven Leipzigern sammeln und weiterleiten würde. Lehmann schaute sich auf der Vereinswebsite „www.gegen-vergessen.de“ um und sagte umgehend ab.

Gentrifizierung als Türöffner
Im Vorstand des Vereins sitzen keine politischen No Names. Der ehemalige Bundesverkehrsminister und Ex-Bürgermeister der Stadt Leipzig, Wolfgang Tiefensee löste im vergangenen Jahr den derzeitigen Bundespräsidenten Joachim Gauck als Vorstandsvorsitzenden ab. Tiefensees Stellvertreter ist nun Berlins ehemaliger Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen. Nach Ansicht des Angefragten Stefan Lehmann sei das Thema Gentrifizierung für den Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ im Rahmen der Befragung nur ein Türöffner, um mit Aktiven der linken Szene in Kontakt zu kommen. Seiner Meinung nach sei der Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ lediglich „ein zivilgesellschaftlicher Arm des Bundesfamilienministeriums“.

Umstrittenes Förderprogramm gegen Links
Tatsächlich zieren auf der Vereinswebsite die Logos des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und der „Initiative Demokratie stärken“ die Unterseite des „Dialoge fördern“-Projekts. Unter dem Namen „Initiative Demokratie stärken“ unterstützt das Bundesfamilienministerium seit Juli 2010 mit 4,7 Millionen Euro bundesweit 41 Projekte zur vorbeugenden Bekämpfung von „Linksextremismus und islamischem Extremismus“. Seit Juli 2011 steht der „Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.“ auf der Förderliste.

Die „Initiative Demokratie stärken“ ist ein umstrittenes und viel diskutiertes Vorhaben der CDU-Familienministerin Kristina Schröder. Parteien, Gewerkschaften und Presse kritisierten sie für ihr Anknüpfen an die unwissenschaftliche „Extremismustheorie“ und das Gleichsetzen linker Positionen mit menschenverachtenden Ideologien und rechter Kriminalität und Gewalt. Ein Aufhänger für die Kritik war der erste Zwischenstandsbericht des „Deutschen Jugendinstituts (DJI)“, das die „Initiative Demokratie stärken“ wissenschaftlich begleitet, beobachtet und auswertet.

Offene Diskussionen in geschlossenen Chats
Das Programm „Initiative Demokratie stärken“ läuft vorerst bis zum Jahr 2014. In diesem Rahmen entwickelt der in Berlin ansässige Verein nun eine Website. „Dialoge fördern – Internetportal zur Auseinandersetzung mit linksradikalen Positionen heißt das Projekt“, sagte Dr. Michael Parak dem „telegraph“. Er ist seit Mai 2009 Geschäftsführer von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. Ziel des Projekts sei es, Dialoge zwischen verschiedenen Bevölkerungskreisen zu fördern. Langfristig solle das über geschlossene und moderierte Chats geschehen, in denen sich eher Linke mit eher Konservativen austauschen können. Dies sei 2013 jedoch noch nicht umsetzbar. „Mit geschlossenen Chats haben wir schon Erfahrung“, sagte Parak in Bezug auf das Webprojekt des Vereins Online-Beratung-gegen-Rechtsextremismus.de.

Anreize der Familienministerin: mehr Geld gegen Links als gegen Rechts
„Gegen Vergessen – Für Demokratie“ erhielt 2011 für die Online Beratung als Form der qualifizierten Elternarbeit 53.372,33 Euro aus Bundesmitteln. Für die „Entwicklung systemisch-lösungsorientierter und Online-basierter Ansätze im Themenfeld Linksextremismus“ bekam der Verein sogar 58.000 Euro. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE vom 4. Juli 2011 hervor (Drucksache 17/6197). Nach Recherchen der „Kontext: Wochenzeitung“ haben Projekte, die die Linke unter die Lupe nehmen, insgesamt bessere Aussichten auf Gelder aus dem Fördertopf „Initiative Demokratie stärken“ als vergleichbare Vorhaben gegen Rechts. „Während Initiativen gegen Rechtsextremismus nur gefördert werden, wenn sie einen Eigenanteil von 50 Prozent aufbringen, müssen Organisationen, die Jugendliche davor bewahren möchten, in autonome, kommunistische oder salafistische Gruppen zu geraten, gerade mal zehn Prozent selbst finanzieren“, heißt es dort im Beitrag „Extrem undurchsichtig“ des Journalisten Frank Brunner.

Mythen, Symbole und Abschottung
In der Vorbereitungsphase des neuen Online-Projekts recherchierte der Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ zum Thema „linksradikale und linksextremistische Entwicklungen“ und erstellte dazu einen Essay. Im Jahresbericht 2012 des Vereins heißt es dazu: „Typisch für extremistische Gruppierungen ist beispielsweise, dass sie in hohem Maße eine Mythenkultur und Symbolsprache entwickeln, die eigene Wirklichkeiten schafft. Im Prozess der Radikalisierung verlieren sich dann oft Bezüge zur Alltagswelt der ‚Anderen’..“ Das Thema Gewalt spiele keine vordergründige Rolle, betonte Parak. „Wir wollen gucken, entstehen da irgendwann abgeschottete Lebenswelten, mit denen irgendwann kein Dialog mehr möglich ist“, sagte Parak im Gespräch mit dem „telegraph“. Die vorbereitende Phase war laut Jahresbericht 2012 abgeschlossen.

Kein Belastungsmaterial sammeln
Doch für ein klares Bild schien die bisherige Recherche des Vereins nicht auszureichen. „Wir wollten von drei Leuten Einschätzungen kriegen, die wir aus unserem Berliner Büro nicht kriegen“, sagte Geschäftsführer Parak dazu. Eine externe freie Mitarbeiterin sei dafür über einen Werkvertrag angestellt und im Dezember 2012 mit der Interview-Akquise beauftragt worden. „Wir haben jetzt auch gemerkt, so was darf man nicht mit einer freien Mitarbeiterin machen. Das macht keinen Sinn“, sagte Parak weiter. Wie die externe Interviewerin an die Daten der von ihr kontaktierten Personen gekommen sei, die sie angefragt hatte, sei ihm jedoch nicht bekannt.

Parak ist es wichtig, klarzustellen, dass der „Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.“ nicht als privater Ermittler für Ministerien oder Stadtverwaltungen agiere.

„Wir sind nicht vom Bundesfamilienministerium und nicht von der Stadt Leipzig beauftragt worden, Belastungsmaterial zu sammeln. Es geht uns nicht darum, Leipziger zu diskreditieren.“ Parak selbst habe insgesamt sieben Jahre in Leipzig Connewitz gelebt und könne dort von einer eher positiven Entwicklung sprechen.

Doch lieber Gespräche statt Gefechte
Bereits während des Telefonats mit dem „telegraph“ kündigte er an, den Text aus dem Jahr 2010, in dem auf gegen-vergessen.de das Linksextremismus-Projekt des Vereins beschrieben wird, in Kürze gegen eine bereits aktualisierte Projektbeschreibung auszutauschen. Dies geschah schon wenige Tage nach dem Telefonat mit dem „telegraph“. Der Duktus der neuen Version unterscheidet sich deutlich vom alten Text. Aus dem Projekttitel „Entwicklung systemisch-lösungsorientierter und online-basierter Ansätze im Themenfeld Linksextremismus“ wurde nun „Dialoge fördern. Ein Internetportal zur Auseinandersetzung mit linksradikalen Positionen“. Das Kriegsvokabular ist verschwunden. Jetzt will man nicht mehr „bekämpfen“, sondern miteinander ins Gespräch kommen. In Bezug auf die Erfahrungen des Vereins mit „Rechtsextremismus“-Projekten hieß es in der alten Beschreibung: „Die Erfahrungen der bisherigen Arbeit zeigen, dass es sinnvoll ist, jedes Phänomen individuell wahrzunehmen und mit einer zielgerichteten Strategie zu bekämpfen.“ Laut der neuen Projektbeschreibung will man nun lieber Dialoge fördern – „zwischen Politik und Bevölkerung, aber auch zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen untereinander, die als sozialräumlich getrennte Milieus typischerweise kaum miteinander ins Gespräch kommen“. Der direkte Vergleich von „Links- und Rechtsextremismus“ fällt im neuen Text ebenfalls weg.

Linke als sozialer Erdbebenmelder
Nun ist auf gegen-vergessen.de nicht mehr von „adäquaten Reaktionen auf Linksextremismus“ die Rede. Stattdessen heißt es in der neuen Selbstdarstellung:
„,Gegen Vergessen’ – Für Demokratie wählt mit diesem Angebot bewusst einen positiven und konstruktiven Ansatz, der die linksradikale Szene nicht von außen her und ausschließend hinsichtlich problematischer Aspekte beschreibt, sondern ebenso hinsichtlich ihres positiven Potenzials – als ‚Seismograph gesellschaftlich relevanter Themen’ – anspricht und in einen (fiktiven, gedachten) Dialog mit anderen Personenkreisen bringt“.

In der ersten Version des Textes hieß es noch schroff: „Niemand der zu Wort Kommenden kann mehr den Anspruch erheben eine absolute Wahrheit zu kennen, doch jeder Blickwinkel erhält zugleich als Standpunkt eine gewisse Geltung“. Die Formulierung im neuen Text trägt bereits eine andere Note: „Jeder Blickwinkel werde nun ernst genommen und zugleich relativiert.“

Schröders neue Wachsamkeit
Die überarbeitete Version der Projektbeschreibung orientiert sich nicht an der Kampfrhetorik der Bundesfamilienministerin Kristina Schröder, die 2010 mit dem Fördertopf „Initiative Demokratie stärken“ einen persönlichen Feldzug der symbolischen Politik gegen linke Positionen antrat. „Aber wir müssen gegenüber sämtlichen extremistischen Tendenzen und Auffassungen wachsam sein und dagegen vorgehen, egal von welcher Seite sie kommen“, schrieb Schröder im September 2011 im Vorwort der Lehrerbroschüre „Demokratie stärken, Linksextremismus verhindern“. Das Heft wurde in einer Auflage von 25.000 Exemplaren von der Münchener Zeitbild Stiftung herausgegeben und mit 121.260 Euro vom Bundesfamilienministerium finanziert.

Skepsis statt offener Arme
Es gibt gute Gründe für das Anschlagen eines sanfteren Tons. Will der Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ mit seinem Projekt wirklich mit Linken in den Dialog treten und deren Sichtweisen ergründen, stößt er in den Kreisen mit bürokratisch-verschlüsselter Wortwahl eher auf Skepsis als auf offene Arme. Der User und Autor „sufe“ hat sich in seinem Posting „Ungute Dynamiken“ auf dem Leipziger Weblog linksextremismus.wordpress.com am 13. März 2013 ausführlich mit der alten Projektbeschreibung und der Leitfadenbefragung in Leipzig auseinandergesetzt. „Im Fall von Linken haben die „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ – Vereinsheinis offensichtlich eine vage Vorstellung, wie dieses Beschaffen sein könnte. […] Da wo Gentrifizierung zum Thema wird, da ist der Linksextremismus nicht weit. Zwar war es meist Granit, auf was die Berliner von „Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.“ in Leipzig bissen, denn irgendwie waren die angefragten Projekte, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nicht so dolle gesprächig. Das wird die Demokratiekämpfer jedoch nicht davon abhalten, irgendwann Projektergebnisse zu präsentieren“, heißt es im Blogeintrag.

Undichte Stelle unbekannt
Von welcher Stelle oder Person in der Leipziger Stadtverwaltung die vom „Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.“ beauftragte Interviewerin nun Kontaktdaten für ihre Leitfadenbefragungen erhalten haben soll, bleibt unklar.

In den relevanten Arbeitsgruppen des Leipziger Kriminalpräventiven Rats konnte niemand bestätigen, dass dort Informationen über politisch aktive Leipziger gesammelt oder gar an Dritte, also an die freie Mitarbeiterin des Vereins weitergegeben wurden.

Keine Datenhändler- und Sammler
Der Kriminalpräventive Rat wurde 1993 als „Brückenschlag zwischen Stadtverwaltung, Ordnungsamt und Polizei“ ins Leben gerufen. Im Gegensatz zu regulären Ausschüssen sitzen in diesem Rat keine gewählten Volksvertreter. Dem KPR unterstehen verschiedene Arbeitsgruppen. Etwa die gegründete Arbeitsgruppe Stadtentwicklung, die mit dem Helmholtz-Zentrum und dem Leibniz-Institut kooperiert, oder die Arbeitsgruppe Extremismusprävention, die mit der Polizei, dem Ordnungsamt und dem Kulturamt zusammenarbeitet.

„In der AG Extremismusprävention im KPR Leipzig wurden und werden keine personenbezogenen Daten gesammelt und/oder an Dritte weiter gegeben“, erklärte Elke Laganowski vom Amt für Jugend und Bildung der Stadt Leipzig schriftlich gegenüber dem „telegraph“. „Da es keine Problemlage linker Gewalt im Zusammenhang mit Stadtentwicklungsprozessen gibt, hat die Stadt Leipzig keine Konzepte oder Strategien diesbezüglich entwickelt.“ Stattdessen bezog sich Laganowski auf die vom Leipziger Stadtrat am 15. Dezember 2010 beschlossene kommunale Gesamtstrategie „Leipzig. Ort der Vielfalt. In diesem Rahmen entwickle die Stadt Leipzig Konzepte zur Bekämpfung des Neonazismus. Nach Angaben der Stadt-Website Leipzig.de vom 10. Mai 2012 fördert die Stadt mit diesem Aktionsplan 15 Projekte mit insgesamt 85.000 Euro und einen Aktionsfonds mit 15.000 Euro.

Die Macht der Farbkleckse
Polizeioberrat Frank Gurke von der Sächsischen Polizei, bis Dezember 2012 Leiter der AG Stadtentwicklung im Leipziger KPR, versicherte gegenüber dem „telegraph“: „Der Verein sagt mir nichts.“ In Bezug auf die Sammlung und Weitergabe von Daten politischer Aktivisten in Leipzig sagte er: „Ich habe so etwas weder angeregt noch durchgeführt, noch habe ich Kenntnis davon.“ Die Arbeitsgruppe Stadtentwicklung sei im Dezember 2011 gegründet worden, da man in diesem Jahr eine Steigerung von Sachbeschädigungen festgestellt habe. „Wir hatten im Jahr 2011 Sachschäden in Höhe von 800.000 Euro“, sagte Frank Gurke. Die Schäden hätten immer nur bestimmte Gebäude betroffen und wären in einem eng umrissenen Gebiet rund um das Connewitzer Kreuz aufgetreten, wie Gurke erklärte. Nach Berichten von Radio Blau, einem Freien Radio aus Leipzig, handelte es sich dabei um Farbbeutelwürfe auf Hausfassaden sanierter und neu gebauter Häuser. Um die Formen der Gewaltbereitschaft zu erforschen, habe, nach Angaben von Frank Gurke, die Arbeitsgruppe eine statistische Analyse des Stadtteils vorgenommen: Dazu hätte die AG Kriminalitätsbelastungszahlen, Mietpreisentwicklungen und Zahlen über Zuzug und Wegzug ausgewertet. Dafür hätte seine Arbeitsgruppe Zahlenmaterial des Sächsischen Landesamts für Statistik ausgewertet und mit Studierenden des Instituts für Geographie der Universität Leipzig und vom Leibniz-Institut für Länderkunde zusammengearbeitet, die ihre Abschlussarbeiten zu Themen wie Stadtentwicklung und Gentrifizierung verfasst hätten. Frank Gurke betonte, dass die Arbeitsgruppe keinen repressiven Ansatz verfolge und eher die Kommunikation zwischen den Seiten fördern wolle.

Leipzig-Connewitz: gefährdet oder gefährlich
Die Interessengemeinschaft Rotes Viertel Connewitz sprach auf ihrem Blog connewitz.noblogs.org am 22. März 2013 hingegen von „der permanenten Besetzung von Connewitz durch ganze Hundertschaften der Polizei, willkürlichen Kontrollen und stigmatisierender Überwachung des Connewitzer Kreuzes unter dem fragwürdigen Deckmantel der ‚Gefahrenabwehr’“. Auf ihrer Seite veröffentlichte sie als pdf-Datei ein wahrscheinlich internes Papier der Polizeidirektion Leipzig vom 21. Februar 2013. In Form von Präsentationsfolien wird darin die Vorgehensweise der Arbeitsgruppe Stadtentwicklung von Frank Gurke stichpunktartig erläutert. Das Dokument liegt dem „telegraph“ in Kopie vor.

Als polizeiliche Lösungsansätze werden darin folgende Punkte erwähnt: „Herausholen der Straftäter aus der Anonymität, Präsenz (uniformiert und zivil), gute Erfahrungen beim Einsatz von Videotechnik, berechenbare aber konsequente Vorgehensweise aller Behörden mit ornungspolizeilichem Auftrag.“ Auf kommunaler Ebene wird der Auf- und Ausbau eines Quartiersmanagements und einer „quartiersbezogenen Kommunikation“ empfohlen.

Gentrifizierungskritik als Sicherheitsproblem
Die Leipziger Stadträtin Juliane Nagel von der Partei DIE LINKE beschrieb die Aktivitäten der Arbeitsgruppe Stadtentwicklung auf ihrem Blog jule.linxxnet.de am 17. März 2013 folgendermaßen: „Kritik an und Protest gegen Mieterhöhungen, Gentrification oder Zwangsräumungen werden zunehmend als Sicherheitsproblem wahrgenommen, das staatlicherseits beobachtet und behandelt wird. Auch in Leipzig.
Arbeitsauftrag der AG Stadtentwicklung ist es „aktuelle Stadtentwicklungsprozesse in Connewitz zu untersuchen und Lösungsansätze für problematische Entwicklungen zu erarbeiten“. Auslöser der Beauftragung durch den Kriminalpräventiven Rat am 24. November 2011 sei „gewalttätiger Protest gegen vornehmliche Gentrifizierungsprozesse“. Die Arbeit der KPR-Arbeitsgruppe Stadtentwicklung sei bisher geheim gewesen, berichtete Juliane Nagel auf ihrer Seite. Daher habe ihre Partei nun eine Anfrage zu den Aktivitäten und Arbeitsergebnissen beim Oberbürgermeister der Stadt Leipzig eingereicht (Anfrage Nr. V/F818/13). Eine Antwort lag zu Redaktionsschluss jedoch noch nicht vor.

Quartiersmanagement aus Geldern für Projekte gegen Neonazis
Ein Kiezmanagement oder Quartiersmanagement könnte aus Mitteln des Landesprogramms „Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz“ finanziert werden, einem Förderprogramm, das eigentlich für Projekte gegen Neonazismus und Diskriminierung vorgesehen ist. Juliane Nagel befürchtet, dass dieser Fördertopf nun zum Anti-Extremismus-Programm nach Vorbild der „Initiative Demokratie stärken” werden könne.

Fazit
Dass Leipzig durchaus von Stadtveränderungsprozessen betroffen ist, die das gesellschaftliche Klima der Stadt massiv verändern könnten, belegen die im Januar 2013 veröffentlichten Zahlen der in Bad Homburg ansässigen EU-Rating Agentur Feri Euro Rating Services. Sie prognostiziere für die Stadt Leipzig für den Zeitraum von 2013 bis 2015 eine Mietpreissteigerung von 7,1 bis 7,5 Prozent und eine Steigerung der Quadratmeterpreise für Eigentumswohnungen um 9,6 Prozent. Der Kurzbericht Monitoring der Stadt Leipzig für die Jahre 2011/2012 geht in Leipzigs Altbaugebieten ebenfalls von einer Steigerung der Mieten in den nächsten Jahren aus und bezieht sich dabei auf Einschätzungen der Maklerverbände.

Ebenso liegt auf der Hand, dass Stadtentwicklungsprozesse auch in Leipzig soziale Folgen haben und die Stadtverwaltung deren Auswirkungen analysiert und kommunale, wissenschaftliche und polizeiliche Lösungsansätze sucht. Die Anfragen der freien Mitarbeiterin des Berliner Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ in Leipzig stehen jedoch in keinem direkten Zusammenhang mit den Aktivitäten der Arbeitsgruppen im Leipziger Kriminalpräventiven Rat. Unklar bleibt, wer in der Leipziger Stadtverwaltung oder in der Polizeidirektion Leipzig nun die Vereinsmitarbeiterin mit Kontaktdaten zu politisch aktiven Leipzigern versorgt hat.

Jenz Steiner ist Musiker, Autor, Radiomoderator und Betreiber des Prenzlauer Berg-Blogs: www.reifenwechsler.blogspot.com

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