Gibt es ein Diestel-Stasi-Syndrom?

Neues von der Auflösungsfront

aus telegraph 13/90
von Wolfgang Rüddenklau

Dem Ostberliner Stadtrat Krüger warf Diestel in diesen Tagen ein „Diestel-Stasi-Syndrom“ vor. Anlaß waren die in den Rathäusern der Ostberliner Stadtbezirke entdeckten Chiffrierstuben, die auf einer Anordnung des Ministerrates vom 2. November 1983 beruhten und nach der Wende ebenso weiter bezahlt wurden, wie weiter munter Nachrichten sendeten. Die Chiffrierstuben gaben ihre Meldungen, Krüger zufolge, an den Ministerrat und das Innenministerium ab. Diestel stritt ab und bezeichnete das ganze als „Köpenickiade“.

Die Büros seien die Chiffrierabteilungen des Magistrats, wie sie vergleichbar auch in Westberlin existierten. Ihre Mitarbeiter ständen auf Stellenplänen und seien dem Bürgermeister unterstellt. Krüger holte am nächsten Tag zum Gegenschlag aus und berichtete,

daß die Chiffrierbüros zum internen Nachrichtennetz der Regierung, COM, gehören, das der MfS-Abteilung XI unterstand. Sie wurden dann dem Zivilschutz, der früheren Zivilverteidigung überstellt.

Ja, die gute alte Zivilverteidigung gibt es noch, nur heißt sie seit der Neuformierung durch die Modrow-Regierung am 13. Januar 1990 „Zivilschutz“. Sie soll sich „ausschließlich und konsequent“ auf die Organisation des Schutzes der Bevölkerung und der Volkswirtschaft, der lebensnotwendigen Einrichtungen und kulturellen Werte vor den Folgen von Natur- und technischen Katastrophen“ konzentrieren (Hervorhebung nach eine Eigenwerbung der „Zivilschutzes“). Ob sie so nett ist, das wirklich „ausschließlich und konsequent“ zu tun, wissen wir nicht. Seit April arbeitet Herr Diestel an der Umstrukturierung des Zivilschutzes – und die Diestelsche Art der Auflösung von Stasistrukturen kennen wir ja.

In der Tat fanden Krügers Leute heraus, daß ein ehemaliger Offizier im besonderen Einsatz des MfS (Oibe), jetzt im Innenministerium, das COM-Netz weiter betrieb, ob mit oder ohne Wissen von Diestel ist bis dato ungeklärt. Jedenfalls aber ohne Wissen des Magistrats und der Stadtbezirke, was Diestel am Vortag frech geleugnet hatte.

Herr Diestel hat schon wirklich recht, wenn er davor warnt, sich die Welt mit Verschwörungen zu erklären. Wie wir am Beispiel der Stasi sahen, kann auch die schönste und teuerste Verschwörung oft nicht den Sturz des Regimes hindern. Andererseits könnte es durchaus gefährlich sein, den geheimen Spuren höchst realer Verschwörer nicht nachzugehen. Und deshalb sollten wir in diesem Artikel unsere Kenntnisse auf den neuesten Stand bringen.

Beginnen wir bei den oben schon erwähnten Offizieren im besonderen Einsatz des MfS. Seit einer Erstveröffentlichung im „Neuen Deutschland“ darüber hat sich mancherlei Neues ergeben. Die verdeckt in Wirtschaft, Verwaltung, Politik und Opposition arbeitenden Oibe wurden nicht, wie man damals glaubte, erst 1986 angesichts der Gefahren der sowjetischen Perestroika eingesetzt, sondern existierten bereits seit dem magischen Jahr 1968 (VVS MfS 016-373/68). Das Jahr 1986 machte nur eine Neufassung der Ordnung aufgrund des allgemeinen wirtschaftlichen Debakels notwendig. „Oibe“, die laut der Verordnung in der Lage sein sollten, „selbstständig außerhalb tschekistischer Kollektive“ zu handeln und zu entscheiden, wurden im Lande der organisierten Verantwortungslosigkeit je länger je mehr als eine Art Wunderwaffe angesehen und an allen möglichen und unmöglichen Orten eingesetzt. Ein Treppenwitz der Geschichte: Der Bevölkerung wollte man die notwendige Handlungs- und Denkfreiheit nicht geben und sah sich dann gezwungen, selbst einen geheimen Orden von relativ Freien und Verantwortlichen zu schaffen.

Die wirtschaftliche Not war so groß geworden, daß Mielke in einem internen Referat 1988 zugab, daß in etlichen Bereichen nicht einmal die einfache Reproduktion gewährleiästet sei. Selbst Honecker sprach auf dem 10. Plenum verklausuliert von „kapazitätsbedingten
Importen“.

Die Zuverlässigsten der Zuverlässigen bekamen eine solche Fülle von Aufgaben und schwollen derartig an Zahl an, daß die Konspirativität der Oibe nicht mehr gewährleistet war. Die Oibe-Strukturen wurden mit Mielke-Befehl 6/86 nur gestrafft. Unter anderem wurde bestimmt, daß die Oibes nur Informationsmaterial erhielten, das in unmittelba­ren Zusammenhang mit ihren Aufgaben stand. Mielke-Befehl Nummer 10/86 schuf eine neue Abteilung der Zuverlässigsten der Zuverlässigsten der Zuverlässigen, – die UM. Weder ist bekannt, was diese Abkürzung bedeutet, noch Durchführungsbestimmungen, noch gar Namen. Der inoffiziell-offizielle Text der Aufgabenstellung unterscheidet sich in nichts von dem der Oibe.

Aber zurück zur Gegenwart. Hinsichtlich der Letzteren, der Oibe, ist der Volkskammerausschuß zur Auflösung der Stasi immer noch im Prozeß der Prüfung. Aus Ostberlin liegt eine Liste mit 500 Namen vor, aus Erfurt eine gemischte Liste von 2000 und eine DDR-weite Liste enthält 1000 Oibe. 582 waren allein bei Markus Wolf in der Hauptverwaltung Aufklärung beschäftigt.

Immerhin ist der Volkskammerausschuß hinsichtlich Diestels Auflösungskomitee für seine Verhältnisse zu gemäßigt kühnen Schlüssen gekommen. David Gill teilte der Volkskammer mit, daß Stasi-Archivare keinen Zugriff zu den Akten mehr haben dürften. Angesichts der
Tatsachen kann das einem Beobachter nur ein müdes Lächeln entlocken. Die Zivilmitarbeiter des Auflösungskomitees werden von Stasiarchiva­ren mit Akten versorgt und sichtlich auch kontrolliert. Wenn eine Akte gar zu anstößig ist, setzt sich Diestel-Intimus Eichler darauf, ein ehemaliger VS-Leiter aus dem VDGB oder aber sein Stellvertreter mit dem audrucksvollen Namen Schmutzler, ein früherer GVV-Leiter aus dem Hauptvorstand der NDPD. Nicht daran zu denken, daß nach unseren Informationen die Poststelle des Auflösungskomitees vom früheren Leiter der Abteilung XX der Stasi betreut wird.

Ja, im Auflösungskomitee sind die Stasis und ihre Freunde dank Diestels Gnade gewissermaßen unter sich und nur die blöden Zivilisten haben nichts zu lachen. Noch erhalten sie infolge vorübergehender politischer Umstände die Akten. Sie dürfen sie aber nicht aus dem Haus tragen, auch nicht in Ablichtungen, während die Stasis damit diejenigen, die Interesse und ein Scheckbuch haben, freigiebig bedienen.

Bleibt die oft gestellte Frage, ob es denn tatsächlich noch überlebende Stasi-Strukturen gibt. Wir haben in den vergangenen Heften Antworten zu finden gesucht. Der Beweis für erheblichere Bedeutung dieser Zusammenhänge ist uns nie gelungen. Gerüchte hinsichtlich der Verwicklung von Regierungskreisen gibt es viele, aber kaum wirkliche Anhaltspunkte.

Immerhin ist es klar, daß es eine Reihe von Sprechern der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter gibt, die sich von Zeit zu Zeit bei verschiedenen staatlichen Instanzen für ihre Klientel einsetzen.
Sprecher ist beispielsweise ein uns bekannter ehemaliger Professor der Stasi-Hochschule in Potsdam, jetzt sinnigerweise Mitarbeiter des Arbeitsstabes zur Auflösung des Bezirkskomitees der Stasi in Potsdam (aber das sind wir mittlerweile ja gewöhnt). Diese Sprecher wurden nach eigenen Angaben seinerzeit bei Auflösung der Stasi gewählt („als wir noch alle zusammen waren“ – wirklich rührend). Sie könnten natürlich einen bloßen und durchaus legitimen Interessenverband vertreten. Ebenso ist aber eine darüber hinausgehende Hilfsorganisa­tion möglich, mit der zum Beispiel auch die SS nach dem zweiten
Weltkrieg ihren Mitgliedern das Weiterleben und den Neuaufstieg sicherte.

Zum anderen ist das wirtschaftliche Weiterleben von Stasi-Strukturen mehr als belegbar. Mit Hilfe Verbündeter aus der Ministe­rialbürokratie und oft auch Finanzspritzen bundesdeutscher Interes­senten konnte sich Stasi-Mitarbeiter Vermögen in erstaunlichen Größenordnungen aneignen. Dank der Fürsorge von Hans Modrow und seiner Wirtschaftsministerien Luft konnten zahlreiche Betriebe der Stasi in den GmbH-Status überführt werden.

Ein schönes Beispiel dafür ist die Brandenburgische Anlagenbau GmbH in Wilmersdorf bei Bernau, Teil des ehemaligen Fahrdienstes des MfS und des Außenministeriums. 140 ehemalige und heutige Mitarbeiter verfügen jetzt über 40 Millionen Mark Grundbesitz und Liegenschaften und einen beweglichen Besitz von 30 Millionen Mark.

Das Pilotprojekt für die GmbH-Bildung von Modrow und Luft war die Handels- und Leasing GmbH Gosen, der ehemalige Funkdienst des MfS. Das bewegliche Gut wurde im Auftrag des Auflösungskomitees verkauft und 8% einbehalten. Nachdem jeder Gesellschafter 1800 Mark eingezahlt hat, besitzen sie jetzt zusammen mit dem übernommenen Vermögen ein schönes Polster, um die marktwirtschaftlichen Herausforderungen anzugehen.

Der Ingenieurbetrieb für wissenschaftlichen Gerätebau (ein Teilbetrieb davon ist in der Freienwalder Straße in Ostberlin) ist der Nachfolger des Stasi-Institutes für wissenschaftlichen Gerätebau.

Der Betrieb, der früher Spionagetechnik für die Stasi herstellte, kann seine Produktenpalette bestens auch an neue Kunden verkaufen. Das Zeug wird gerade jetzt dringend gebraucht. Hans Modrow ist in diesem Fall immerhin so weit gegangen eine neue, zivile Leitung einzusetzen.

Zusammengenommen dürfen wir uns beruhigen: die Stasi-Frage als soziale Frage ist gelöst. Falls die Stasis nicht im Auflösungskomitee und seinen Unterabteilungen unterkommen, können sie sich vertrauensvoll an alte Kumpels wenden und werden bestens versorgt. Von denen wird bestimmt niemand kalte Füße bekommen. Was allerdings uns andere
betrifft, so ist das etwas ganz anderes … r.l.