Deeskalation?

aus telegraph 2/1989 (#02)

Wir hatten bereits in unserer letzten Ausgabe darüber berichtet, daß trotz massiver personeller und technischer Präsenz der Sicherheitsorgane am 9. Oktober über 70.000 Leipziger friedlich und unange­fochten demonstrieren konnten.

In den Kirchen, über Lautsprecher in der Innenstadt und über den lokalen Leipziger Sender war ein Aufruf von Profesor Kurt Masur, Dr.Peter Zimmermann, des Kabaretisten Lutz und der Sekretäre der SED-Bezirksleitung Dr.Kurt Meier, Jochen Pommert und Roland Wötzel verlesen worden.

Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns zusammengeführt. Wir sind über die Entwick­lung in unserer Stadt betroffen und suchten nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien gMeinungsaustausch über die Weiterentwicklung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb verspre­chen die genannten Leute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, daß dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.

Beobachter raten allerdings zur vorsichtigen Bewertung, da eventuell die riesigen Massen der Demonstranten die lokalen SED-Führer zu einer bloßen Beschwichtigungstaktik veranlaßt haben könnten.

In Dresden informierten sich am Abend des 9.Oktober mehrere tausend Menschen in vier großen Kirchen über die Gespräche von 20 Vertetern der Demonstranten und der Kirchenleitung mit Vertretern des Stadtrates, darunter der Oberbürgermeister von Dresden. Dem Stadtrat war ein 9-Punkte-Katalog vorgelegt worden, in dem es u.a. um die Zulassung des Neuen Forums, eine wahrheitsgetreue Berichter­stattung in den DDR-Medien, Demonstrations- und Reisefreiheit, Wahlprobleme, Zivildienst und die Freilassung der Inhaftierten ging. Oberbürgermeister Berghofer sagte zu, daß alle Dresdner Demon­stranten, die keine Gewalttätigkeiten begangen haben, noch am nächsten Tag aus dem Polizeigewahrsam entlassen werden sollten. Auch er sei dafür, daß Wahlen wieder Wahlen werden. Für eine Reihe von Forderungen sei er aber nicht kompetent, wie z.B. für die Zulassung des Neuen Forum. Der Oberbürger­meister versprach, sich für weitere Gespräche einzusetzen und die angespro­chenen Punkte pluralistisch zu lösen. Eine nächste Gesprächsrunde wurde für den 16.Oktober verein­bart.

Wie der Berlin-Pankower Superintendent Krätschell der BBC mitteilte, wurden Anfragen der Berlin‑ Brandenbureger Kirchenleitung nach ähnlichen deeskalierenden Gesprächen wie in Leipzig und Dresden nicht beantwortet. Immerhin blieben die 3.000 Gottesdienstbesucher, die sich am Abend des 9. in der Gethsemanekirche einfanden, unbehelligt. Die Sicherheitsorgane hielten sich deutlich zurück. Bischof Forck verlas einen Aufruf der Kirchenleitung und des Gemeindekirchenrats der Gethsemanegemeinde:

„Fünf dringende Bitten:
1. Alle Bürgerinnen und Bürger bitten wir dringend, ab sofort angstfrei Meinungsfreiheit auszuüben, damit das Gespräch über unsere Zukunft in Gang kommt.

2. Die Staats- und Parteiführung der DDR bitten wir dringend, umgehend deutliche und glaubhafte Schritte einzuleiten, damit eine breite Übereinstimmung für eine rechtsstaatliche, demokratische, sozialistische Perspektive der DDR gefunden wird.

3. Die Ordnungs- und Sicherheitskräfte bitten wir dringend, der Ungeduld kritischer Bürger, die sich auf den Straßen zeigt, mit größtmöglicher Zurückhaltung zu begegnen, damit nicht wieder gutzumachen­der Schaden vermieden wird.

4. Die beunruhigten Menschen unseres Landes bitten wir dringend, jetzt von nicht genehmigten Demonstrationen auf den Straßen abzusehen, damit die politisch Verantwortlichen nicht sagen können, sie ließen sich im Blick auf anstehende Veränderungen nicht unter Druck setzen.

Berlin, den 9. Oktober 1989, 17 Unterschriften“

Am 10. Oktober begannen die Behörden mit der Freilassung von Personen, die während der Demon­strationen am 7. Oktober festgenommen wurden. Auf Grund welcher rechtlicher Grundlagen die Demon­stranten über 24 Stunden festgehalten wurden, ist unbekannt. Sowohl in Dresden als auch in Berlin wurden jeweils etwa 500 Personen freigelassen. Allein in Berlin waren nach Schätzungen weit über 1.000 Menschen festgenommen worden. Es wird geschätzt, daß sich in Berlin noch etwa 200 Demonstranten in Haft befinden.

In einer Erklärung des DDR-Innenministeriums wurde den Demonstranten vorgeworfen, die Sicher­heitskräfte mit Steinen, Flaschen und Brandsätzen angegriffen zu haben. Bei den Demonstrationen seien mehr als 100 Volkspolizisten zum Teil erheblich verletzt worden. Außerdem seien 46 Demonstranten, die in der Meldung als „Rowdies“ bezeichnet wurden, zu Schaden gekommen. Daß es auch Tote gegeben hat, sei eine Erfindung der westlichen Medien.

Tatsächlich war es, unserer Kenntnis nach, zu gewaltsamen Angriffen von Demonstranten auf die Polizei nur am 3. Oktober in Dresden gekommen, als Ausreisewillige, die den Sonderzug aus Prag abpassen wollten, mit Wasserwerfern und Gummiknüppeln vom Bahnhof vertrieben wurden. Aus Dresdner Kirchenkreisen wurde die Zahl von 45 verletzten Polizisten und 45 verletzten Demonstranten genannt. Die Zahl der ingesamt während der Demonstrationen der letzten Tage in der DDR Verletzten ist unbe­kannt, dürfte aber, angesichts der Brutalität vieler Einheiten der Sicherheitsorgane weitaus höher liegen. Bekannt ist darüber hinaus, daß Ärzte, zum Teil unter Androhung beruflicher Repressa­lien, gezwungen wurden, Formulare zu unterschreiben, daß Verletzungen keine Folge von polizeilichen Einwirkungen seien. Daß es, wie aus Dresden und Leipzig gemeldet, Todesopfer gegeben hat, kann zur Zeit noch nicht bestätigt werden.

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