Kommentar: BELLEN STATT BEISSEN

aus telegraph 2/1989 (#02)

Diesen Eindruck mußten am 10.Oktober die Leser von DDR-Zeitungen gewinnen, wenn sie die ganzseitigen Tiraden über die Randalierer, die die Volksfeste stören wollten, gelesen haben.

Noch einmal wurde das sattsam bekannte Propagandavokabular der fünfziger Jahre aufgefahren, man wußte von „Mordhetze“, von Sprüchen, die Polizisten aufzuhängen und von westlichen Heißluftballons, die Flugblätter in die DDR trugen zu berichten. Doch dies scheint angesichts der Meldungen über Signale der Dialogbereitschaft eine Art Abgesang für eine liebgewordene, aber nun auch für die Uneinsichtig­sten nicht mehr durchhaltbare, Politik sein zu sollen.

Hatte man für den Montagabend in Leipzig schwerste Zusammenstöße befürchtet, so passierte nichts und 50000 -70 000 Menschen konnten durch die massiv bewachte Innenstadt demonstrieren. Über Lautsprecher wurden Verlautbarungen von Mitgliedern der SED-Bezirksleitung und örtlichen Größen, wie Gewandhausdi­rektor Prof. Kurt Masur, die zu Dialogbereitschaft und Veränderungen aufriefen, verbreitet.

In Dresden hatte man die Zehntausenden schon nicht mehr auf der Straße, sondern verteilt auf vier Kirchen, wo sie lauschen durften, was 20 Bürger, darunter 5 Demonstranten, in einem unter Kirchen­obrigkeitsvermittlung mit dem Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer besprochen hatten. Es waren schönklingende Worte vom Oberbürgermeister; er wolle auch, daß Wahlen wieder wirkliche Wahlen werden und das alle inhaftierten Dresdener Demonstranten, die keine Gewalt angewendet hatten, entlassen würden. Aber er erklärte sich inkompetent in Sachen Zulassung des „Neuen Forum“. In Leipzig wurden von Kirchenvertretern Gespräche angekündigt und ebenso in Berlin.

Es drängt sich die Frage nach dem Motiv des plötzlichen Kurswechsels auf. Bei Beibehaltung des brutalen Vorgehens gegen Demonstranten wären die Folgen bei einer Auseinandersetzung mit 50 000 bis 70 000 Menschen verheerend gewesen. Insofern blieb den politisch Verantwortlichen nichts weiter übrig um die hausgemachte Situation zu entspannen. Jetzt scheint man um jeden Preis eine Situation beenden zu wollen, in der Tausende regelmäßig auf die Straße gehen. Jedoch außer den recht spärlichen Gesprächsangeboten hat die Führung des Landes noch keinen Schritt zur Entspannung getan. Polizei und Sicherheitskräfte stehen Gewehr bei Fuß, die teilweise seit Wochen einsitzenden namhaft gemachten politischen Gefangenen befinden sich nach wie vor in Haft, Urteile die per Strafbefehl und Schnell­verfahren ergangen sind wurden nicht kassiert.

Ohne in Abrede zu stellen, daß jedes Gespräch besser ist als gewalttätige Auseinandersetzungen, so ist doch noch bei weitem nicht der Stand erreicht, an dem die friedlich gebliebenen Demonstranten oder die Oppositionsgruppen mit Rücksicht auf den „Dialog“ auf ihren Protest verzichten oder diesen leiser vortragen sollten, nur weil an einem Tag der Polizeiapparat einmal nicht brutal dreingehauen hat. Daran ändern in praktischer Konsequenz auch noch so ehrlich gemeinte schöne Worte vom Dresdener Oberbürgermeister oder den Bezirksleitungsmitgliedern in Leipzig nichts.

Die Appelle, Protestverzicht zu üben, die von Kirchenvertretern nun allenthalben zu hören sind, sind ein Schlag ins Gesicht all jener, die sich in den vergangenen Wochen mit den Inhaftierten solidari­siert hatten.

Außerdem hakt sich die offenbar immer noch vor der Realität die Augen verschließende Staatsführung in letzter Not institutionell an der Kirche fest. Diese steigt darauf ein und bindet das Gespräch an sich oder macht sich zumindest zum Mittler und damit auch Auswähler der Dialogpartner. Das ist aber, wenn überhaupt, nur ein der Situation überhaupt nicht angemessener Ansatz; der Dialog mit der rebellisch werdenden Gesellschaft ist es jedenfalls nicht, ganz zu schweigen von der Opposition, deren Existenz anzuerkennen offenbar immer noch nicht vorgesehen ist.

Es ist nicht die Zeit mit der Einmischung in eigene Angelegenheiten nachzulassen.

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