Editorial telegraph 2/1990 ( #12 )

vom  22. Januar 1990

Wie es in letzter Zeit öfter geschieht: In letzter Sekunde, bei Radaktionsschluß, kommt eine Meldung, die alles über den Haufen wirft. Die SED steht kurz vor der Auflösung. Prominente Vertreter der Partei erklären ihren Austritt. Der Dresdner Oberbürgermeister Berghofer will sich der SPD anschließen, wie er zuerst der „Bild­Zeitung“ verriet. Ein Fähnlein von Aufrechten unter Gysi widersteht noch dem lockenden Ruf des Abgrunds.

Ansonsten haben wir uns bemüht, auf dem Stand der Zeit zu bleiben und aus den aktuellen Ereignissen das Interessanteste und Bezeichnendste auszuwählen. Manches eher Langweilige haben wir uns und euch erspart. Nicht kommentiert wird von uns beispielsweise der Parteitag der SDP/SPD. Die schönklingenden Worthülsen von solidarischer Gesell­schaft und menschenfreundlicher Bürokratie im Rahmen eines geeinten Deutschlands, die von sozialdemkratischen Rednerpulten strömen, mögen viele befriedigen, wir hätten gern etwas mehr Inhalte. Zu hoffen bleibt, daß der sehr viel realere Rechtstrend in der DDR-Sozialdemo­kratie durch den Übertritt der aus dem Domokratischen Aufbruch abgespaltenen Linken (Schorlemmer & Co) ein gewisses Gegengewicht erhält. Ähnlich sprachlos ließ uns die Gründung der marxistischen Splitterpartei DIE NELKEN, die nicht einmal eine Einigung über den Charakter des zusammengebrochen Systems erzielen können, uns aber nichtsdestoweniger in die lichte sozialistische Zukunft führen wollen.

Erwähnen müssen wir an dieser Stelle noch ein bemerkenswertes Ereignis der vorletzten Woche, das auf den folgenden Seiten zu kurz kommt. Die aus gefälschten Wahlen hervorgegangene Volkskammer hat der Versuchung nicht widerstehen können, zwei Paragraphen der Verfassung, 12 und 14a zu ändern, um joint ventures genehmigen zu können. Daß dazu die nötige 2/3-Mehrheit da war, ist bei diesem Scheinparlament kein Wunder. Sache des Runden Tisches und der Bevölkerung müßte es jetzt sein, eine Volksabstimmung über diese Änderung zu verlangen. Allein durch eine Volksabstimmung, nicht durch dieses Marionetten­theater kann auch über das neue Wahlgesetz und das neue Vereinigungs­gesetz entschieden werden.

Zum Schluß noch eine technische Bitte an unsere Leser. Leider haben wir keine Stelle gefunden, an der wir auch künftig das ziegelrote Papier für unseren Umschlag auftreiben können. Wer eine geeigne­te Connection hat, möchte sich bitte an uns wenden.

Die Redaktion

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