Zur Geschichtsdebatte in der PDS
aus telegraph 2/98
von Michail Nelken
Der Aufruf der Geschichte in der politischen Alltagsauseinandersetzung ist in der ideologiegeladenen politischen Gesellschaft Deutschlands eine beliebte Waffe im Parteienkampf. Die Vorhaltungen aus unterschiedlichen politischen Lagern, die PDS müsse sich mehr mit ihrer Geschichte auseinandersetzen, solle endlich konsequente Geschichtsaufarbeitung betreiben, sind in aller Regel nur denunziatorische Floskeln aus parteipolitischem Kalkül. Die sie vortragenden Kolporteure gehören meist zum geschichtslosen Politkader konkurrierender Parteien und sind auf jeden Fall uninformiert.
Die PDS ist mit Sicherheit die politische Partei in Deutschland, die sich am ausgiebigsten mit Fragen der jüngeren Zeitgeschichte auseinandersetzt. In Konferenzen, Vorträgen, Publikationen, Diskussionsforen, Leserbriefdebatten stritten und streiten die PDS-Mitglieder und ihr Umfeld heftig und mit Hingabe vor allem über Themen der DDR-Geschichte und des Weltkommunismus seit 1917. Dies sind keine reinen Fachdebatten von professionellen und Laienhistorikern, sondern diese Diskussionen ergreifen nahezu alle Mitglieder. Der Grund dafür liegt in dem Umstand, daß für keine Partei ihre politische und geistige Identität so an die Bewertung jüngster Geschichte gebunden ist und daß die Mitglieder keiner Partei in ihrer Masse im Selbstwertgefühl von einer solchen Positionierung derart betroffen sind.
Auseinandersetzungen mit bzw. um geschichtliche Ereignisse sind in der PDS natürlich keine wissenschaftlichen Diskurse, sondern Parteidebatten. Eine Partei ist kein wissenschaftliches Seminar, eine Parteidebatte kein erkenntnisorientierter Theoriediskurs. Die Geschichtsdiskussion in der PDS hatte von Beginn an primär einen ideologischen Charakter und eine politische Funktion. Es ging und geht um historische Identität, aktuelle ideologische Verortung und die Orientierung künftiger Politik. Daraus folgt nicht, daß sie keine geschichtswissenschaftlichen, soziologischen oder politiktheoretischen Erkenntnisse hervorbringen kann, sondern nur, daß dies nicht ihre eigentliche Funktion ist. Deshalb folgen ihr Verlauf und ihre Dynamik anderen Regeln als denen des wissenschaftlichen Diskurses. Ihr Verlauf wurde und wird nicht von einem wie auch immer gearteten Fortschreiten in der Erkenntnis bestimmt, sondern einerseits von äußeren gesellschaftlichen Druckwellen gegen die PDS und andererseits von den Aufwallungen innerer politischer und geistiger Richtungskämpfe.
1. Gründung der PDS. Kontinuität und Bruch.
Die Gründung der PDS aus der SED auf dem außerordentlichen Parteitag der SED im Dezember 1989 und ihre Stabilisierung in den folgenden Monaten war ein geschichtsgesättigter Vorgang. Da die SED nicht aufgelöst wurde, aber die treibenden Kräfte dennoch gewillt waren, eine neue sozialistische demokratische Partei zu schaffen, war der Dualismus von Kontinuität und Bruch politisch-geistig wie moralisch zu bewältigen. Die Gründung der PDS war weit mehr von einer Stellungnahme zur Geschichte als von einer neuen politischen Strategie geprägt.
Der außerordentliche Parteitag der SED proklamierte den Bruch mit dem Stalinismus als System. Michael Schumann hielt das politisch-historische Referat zur Auseinandersetzung mit dem autoritären, administrativ-bürokratischen Sozialismus. Der Begriff „Stalinismus“ stand für das zusammenbrechende politische System der DDR, für Bürokratismus, Zentralismus, Administrieren, Willkür, für fehlende Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, uneffektive Kommandowirtschaft, Gängelei des geistig-kulturellen Lebens, für das Fehlen von Pressefreiheit, Redefreiheit, Reisefreiheit usw.. Der Bruch mit dem Stalinismus beinhaltete den Anspruch auf andere sozialistische Traditionen als identitätsstiftenden und legitimatorischen geschichtlichen Bezug. Von Bernstein und Kautsky, über Levi und Trotzky, bis zu Havemann und Harich – die PDS suchte nach neuen Traditionen und Wurzeln. Nicht nur die Tatsache, daß auf einmal viele bislang unbekannte bzw. in der DDR nicht öffentlich diskutierbare Ereignisse der Geschichte des Sozialismus/Kommunismus und der DDR zu verarbeiten waren, führte zu einer Geschichtslastigkeit in den innerparteilichen Debatten, sondern auch der Umstand, daß die Auseinandersetzung mit der Geschichte der SED zum entscheidenden Feld des innerparteilichen Richtungskampfes wurde.
Im Verlauf des Jahres 1990, nach Volkskammer- und Kommunalwahlen, nahm die Auseinandersetzung mit den Grundlagen, Quellen und Triebkräften des stalinistischen Realsozialismus in der PDS-Diskussion einen herausragenden Platz ein. Gysi nannte die SED auf der Klausurtagung des Parteivorstandes im Mai eine „reaktionäre Partei“. Sowohl die „Erneuerungskonferenz“ als auch die Stalinismuskonferenz waren von Auseinandersetzungen um die Bewertung des Realsozialismus bestimmt. In der Eröffnungsrede zur Stalinismuskonferenz betonte Klaus Höpcke, daß der Stalinismusdiskussion eine Schlüsselfunktion in der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zukommt und damit für die Erneuerung der Partei. Für die Aktivisten der Parteierneuerung war die Geschichtsauseinandersetzung ein überaus wichtiges Instrument zur Sicherung und zum Ausbau ihrer ideologischen Hegemonie in der PDS. Auf dem Feld der politischen Programmatik waren derartige Differenzierungsprozesse kaum möglich, weil es für die neuen gesellschaftlichen Aufgaben- und Fragestellungen noch keine ausdifferenzierten Politikkonzepte in der PDS gab.
Als nach dem Finanzskandal vom November 1990, der die alten Apparatstrukturen vollends desavouierte, meist jüngere PDSler auf eine radikalere Erneuerung drängten, kam es zu einem zugespitzten Konflikt um das politische Profil der PDS. Vor der 2. Tagung des 2. Parteitages im Juni 1991 bildete sich die sogenannte Erneuerungs-Strömung, die massiv gegen die in ihren Augen einsetzende Stagnation der Erneuerung ankämpfte. Dieser Bewegung standen einerseits die Bemühung führender PDS-Funktionäre und Parlamentarier um eine neuerliche Konsolidierung der zerbröselnden Partei und anderseits eine sich allmählich in der Partei ausbreitende DDR-nostalgische Trotzmentalität entgegen, die von der westdeutschen „Kolonialisierung“ und Totalnegation gefördert wurde. Auf zwei Fragen spitzte die Strömung den Konflikt zu, das Oppositionsverständnis und die Geschichtsaufarbeitung. Mitglieder der AG Junge GenossInnen ergänzten das über dem Präsidium des Parteitages angebrachte Parteitagsmotto „Wer Zukunft will, muß die Gegenwart verändern“ um die Worte „und sich der Vergangenheit stellen„.
Die Geschichtsdebatte war auch hier zentraler Bestandteil der politischen Richtungsdebatte. Für die linksoppositionelle Strömung war der zunehmend inkonsequente Umgang mit der SED-Geschichte, das Geschichtsbild des „Ja-Aber“…(Ja, aber es gab doch den Kalten Krieg. Ja, aber es gab auch große soziale und kulturelle Errungenschaften. Ja, aber es war nicht alles schlecht…) Ausdruck für das Scheitern der Erneuerung der PDS zu einer radikaldemokratischen, emanzipatorischen linkssozialistischen Partei. Den Reformsozialisten in der Parteiführung wurde der Vorwurf gemacht, daß sie auf einem nostalgischen mainstream surfend versuchten, die Partei zu konsolidieren, statt sie umzukrempeln.
Der Parteitag beschloß, auf seiner nächsten Tagung einen Schwerpunkt der Geschichtsdiskussion zu widmen. Dieses Vorhaben wurde später auf ein offenes Geschichtsplenum am Vorabend der 3.Tagung gestutzt. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte stagnierte. Und inhaltlich wurden allenthalben restaurative Bewegungen und Bestrebungen unübersehbar. Die rechten, nostalgischen, konservativen Kräfte, die nicht nur auf die Kommunistische Plattform zu reduzieren sind, ergriffen nun ihrerseits die Geschichtsdebatte als Instrument im Angriff auf die Hegemonie der reformsozialistischen Mitte. Eine alternative Politik hatten sie nicht vorzuweisen. So blieb ihnen nur das Feld von Geschichtsverständnis und Dogmatik.
Die hier skizzierte Entwicklung war untrennbar verbunden mit Veränderungen im gesellschaftlichen Klima: mit der breiten öffentlichen Diskussion über ein Tribunal zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte 91/92, mit der Öffnung der MfS-Archive Anfang ´92, mit dem Wirken der Enquetekommission zum „DDR/SED-Unrecht“ und der ausufernden Debatte über den „Unrechtsstaat DDR“. Diese meist undifferenzierte ahistorische ideologische Abrechnung mit der DDR zwang die PDS verstärkt in die Rolle des Anwalts der Ostdeutschen und ihrer Geschichte. Was nicht nur konservative Kräfte in der PDS wollten, sondern auch viele außerhalb von ihr erwarteten. Hinzu kam eine spürbar stärker werdende Bewegung in der Gesellschaft der ostdeutschen Länder, die sich gegen die sozialen Ungerechtigkeiten in der Folge des kolonialisierenden Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik wandte.
Vor diesem Hintergrund wurden vormals radikal kritische Bewertungen der untergegangenen DDR-Gesellschaft zunehmend relativiert. Eine offene und schonungslose Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte kollidierte mit dem Parteiinteresse an einer breiten ostdeutschen Sammlungsbewegung. Die Analyse des repressiven, zentralistischen, antidemokratischen Gesellschaftssystems wurde im PDS-Geschichtsdiskurs verdrängt durch die „Verteidigung der Legitimität des Versuchs“, die Bewahrung der positiven „Errungenschaften und Erfahrungen“, die Würdigung des „selbstlosen Einsatzes von Millionen“ DDR-Bürgern für die Errichtung einer „sozialistischen Alternative“ usw. usf..
Einige am rechten Rand der PDS gingen gar noch weiter. So artikulierten K.Goßweiler, H.H.Holz oder S.Wagenknecht einen neostalinistischen Geschichtsrevisionismus, der die Anfänge des Niedergangs des Sozialismus im Sieg des sich antistalinistisch gebärdenden Revisionismus und Opportunismus auf dem XX.Parteitag der KPdSU erblickte. So marginal diese Extrempositionen sein mögen, so war ihr offenes Hervortreten Ausdruck für eine Verschiebung im politisch-geistigen Klima in der PDS.
Nachhaltige Wirkung hatte diese tendenziell restaurative Phase auf die Programmdebatte des Jahres 1992. Unter Stalinismus begreift das Programm letztlich nur noch Verbrechen und Terror in der Sowjetunion der Stalin-Ära. Vom Stalinismus als System ist im Grunde nicht mehr die Rede. Hinsichtlich der Darstellung und Bewertung der DDR und ihrer Geschichte findet die Lesart des von der KPF eingebrachten Programmentwurfs letztlich Eingang in das Parteiprogramm: Da wird die Legitimität des Versuchs einer sozialistischen(?) Alternative(?), für den man sich nicht zu entschuldigen bräuchte, ebenso betont wie das ehrliche Engagement von Millionen aufrechter Bürger für den Aufbau eine gerechteren sozialistischen Ordnung und die positiven Erfahrungen und Errungenschaften.
2. Remobilisierung eines antistalinistischen Geschichtsdiskurs
Die Thesen der Historischen Kommission der PDS zur 1.Tagung des 3.Parteitages schildern die eingetretene Situation Ende 1992 recht realistisch. Sie sind Zeichen einer neuerlich Gewichtsverlagerung in der Geschichtsdebatte der PDS. Die reformsozialistische Mehrheit des Parteizentrums sah sich offensichtlich nunmehr zur Wahrung ihrer politischen und ideologischen Hegemonie im Inneren und der Politikfähigkeit nach außen zur Gegenwehr gezwungen. Der Artikel von Sarah Wagenknecht „Marxismus und Opportunismus“ in den Weißenseer Blättern war Auslöser oder Aufhänger der lange überfälligen Auseinandersetzung. Zwar standen Sarah Wagenknecht und ihr Artikel im Zentrum der Auseinandersetzungen, aber für alle Beteiligten war wohl klar, daß es hier nicht nur um den Wagenknechtschen Artikel und die sehr außenseitige Position vom aufsteigenden Revisionismus von Chruschtschow bis Gorbatschow und schon gar nicht um eine Relativierung der Verbrechen der Stalin-Ära ging. Vielmehr hatten die reformsozialistischen Kräfte der Parteiführung sich in ihrer Bedrängnis der Schlüsselfunktion der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Realsozialismus (Stalinismus) für die politisch-geistige Konsolidierung einer demokratisch sozialistischen Reformpartei erinnert.
Die 1.Tagung des 3.Parteitages im Januar 1993 offenbarte, daß die Zugeständnisse an die DDR-nostalgische, konservative und bisweilen restaurative Grundstimmung in der Programmdebatte offensichtlich übertrieben waren, denn sie wurden nur von wenigen Delegierten geteilt. Es existiert überhaupt ein bemerkenswertes Mißverhältnis zwischen der eher kleinen Anhängerschaft des orthodoxen spätstalinistischen Parteikommunismus in der PDS und der dogmatischen Verstaubtheit ihrer Debattenbeiträge einerseits und der relativ großen Aufmerksamkeit, die ihnen geschenkt wird und dem maßlosen Kraftaufwand, mit der sie bekämpft werden, anderseits. Das liegt vielleicht daran, daß hier „Verstand und Vernunft“ der Partei mit dem eigenen Unterbewußtsein und der verunsicherten Psyche großer Teile der Mitgliedschaft im Streite liegen.
Bis zum Herbst 1993 lief eine breite Debatte in Broschüren, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln sowie Diskussionsrunden, in deren Zentrum der Stalinismusbegriff stand. Sie ebbte mit Anlauf des Bundestagswahlkampf ab. Aber im Herbst 1994 entzündet sich der Konflikt an Publikationen von K.Gossweiler und S.Wagenknecht aufs neue. Unmittelbar nach der für die PDS erfolgreichen Bundestagswahl spitzte die Parteiführung, gestärkt durch das gute Wahlergebnis, den Konflikt zu. Zunächst wurde in Thesen zum 4. Parteitag die antidemokratische Politik der SED wieder als stalinistisch gekennzeichnet. In einem wenige Tage vor der 1. Tagung veröffentlichen Standpunktpapier von Bisky, Gysi und Modrow werden dann sogar „stalinistische“ Auffassung für unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der PDS deklariert. Die Zurückweisung des poststalinistischen Geschichtsrevisionismus à la Gossweiler, Wagenknecht oder Holz, der zweifellos den öffentlichen politischen Handlungsspielraum der PDS beschädigt, war nur das eine Ziel dieser Zuspitzung. Das wichtigere Anliegen war m.E. die Festigung der politisch-programmatischen Hegemonie der reformsozialistischen „Realpolitik“. Dieser Versuch eines „antistalinistischen Befreiungsschlages“ mißlingt beinahe. Nicht wegen eines konservativen Widerstandes, sondern wegen der handstreichmäßigen und erpresserischen Art und Weise, in der er vorgetragen wird. Die Idee, den Stalinismus per Parteitagsbeschluß aus der PDS auszugrenzen, hatte aber auch einen genetischen Defekt. „Wie soll es in einer Partei, die sich aus einer stalinistisch/poststalinistischen Partei herausgebildet hat, unter Ihren Mitgliedern keine stalinistischen Auffassungen geben? Sind die alle mit der Wende von 1989 gelöscht worden?“, so fragten Berliner Delegierte in einem Änderungsantrag.
3. Geschichte verliert an Stellenwert im innerparteilichen politischen Richtungskampf
Wahrscheinlich nicht unbeeindruckt von den zugespitzten Debatten um den Januarparteitag bildete sich 1995 das sogenannte „Marxistische Forum“, in dem sich eher traditionalistische Marxisten-Leninisten zusammenschlossen, um die Politik der PDS kritisch zu begleiten. Obgleich das Forum auch Fragen der DDR-Geschichte und des DDR-Bildes behandelt und die Vorstände und Fraktionen latent in Verdacht hat, aus politischer Anpassungsbereitschaft („ankommen“ wollen und anerkannt werden wollen) inakzeptable Zugeständnisse an die DDR-Verteufelung zu machen und nicht konsequent gegen die politische und soziale Verfolgung und Ausgrenzung ehemaliger Staats- und Parteifunktionäre anzukämpfen, – so gilt doch das Hauptinteresse des Forums und seiner Aktivisten aktuellen politischen Fragen. Dieser Umstand und die Tatsache, daß das Forum im Unterschied zur KPF innerparteilich kaum fraktionell agiert, sondern sich um die Beeinflussung des Meinungsbildungsprozesses und um Politikberatung bemüht, ging von den hier angesprochenen geschichtlichen Themen bislang keine innerparteiliche politische Polarisierung aus. Dies war aber auch eine allgemeine Erscheinung. Die Geschichtsauseinandersetzung verlor seit 1995 zunehmend ihre Bedeutung in den Parteidebatten um die politische und gesellschaftsstrategische Orientierung der PDS.
Die im November ´95 veranstaltete historisch-politische Konferenz zu 5 Jahre PDS – Herkunft und Selbstverständnis war eher ein Nachklang und ein vorläufiger Abschluß einer Phase der parteitaktisch und ideologisch aufgeladenen Geschichtsauseinandersetzung in der PDS. Die Partei hatte inzwischen eine gewissen Festigkeit in der Ausprägung des Selbstverständnisses erreicht und zugleich waren die Probleme der praktischen Politikgestaltung in den Vordergrund des innerparteilichen Diskurses getreten und damit selbst zum Gegenstand der politischen Differenzierung geworden. Die Debatte um Geschichte und ihre Aufarbeitung geht zwar weiter, ist aber nicht mehr im früheren Ausmaß Achse innerparteilicher Polarisierungen und Richtungskämpfe. Auf den Bundesparteitagen der Jahre 1996 bis 98 spielten ideologiegeladende Geschichtsdebatten bzw. geschichtsgesättigte Ideologiedebatten kaum eine Rolle.
Nunmehr bestimmen vor allem äußere Anlässe den Gang der Geschichtsdebatte in der PDS: Jahrestage wie insbesondere 50 Jahre SED („Zwangsvereinigung“) oder 35. Jahrestag des Mauerbaus oder die justizielle Verfolgung von Verantwortungsträgern der DDR (Politbüroprozeß, Grenzer-Prozesse etc.) oder das Wirken der Bundestagsenquetekommission zur Aufarbeitung des „DDR-Unrechts“. Solche „äußeren Ansprachen“ geschichtlicher Themen erfahren in der PDS zwar unterschiedliche, auch widerstreitende Reaktionen, aber die Meinungsunterschiede führen nicht mehr wie in den Jahren davor zu innerparteilichen politischen Formierungsprozessen. Bei konkreten Anlässen, etwa einer Presseerklärung zum 17. Juni oder die Errichtung einer Gedenkstätte im ehemaligen Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, gibt es innerparteiliche Aufwallungen, aber schnell wird wieder zur praktischen Tagespolitik zurückgegangen.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte bleibt aber nach wie vor ein wichtiges Element der politischen Kultur innerhalb der PDS. Durch die tendenzielle Herauslösung aus den tagesaktuellen Richtungskämpfen gewinnt der Diskurs auf Konferenzen und in Parteipublikation an Qualität. So haben die Tagungen zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution (März ´97) und zur „Realsozialistischen Kommunistenverfolgung“ (Juni ´97) ein beachtliches Niveau. Allerdings findet durch das Auflösen der unmittelbaren Verknüpfung mit der Politikdebatte zugleich auch eine tendenziell zunehmende Abkoppelung der historischen Fachdebatte von den Inhalten der Basisgespräche über zeitgeschichtliche Themen statt.
4. Weltgeschichte und Identität
Das historisch-politische Selbstverständnis der Mitglieder wie der Gesamtpartei spielt in der PDS eine sehr große Rolle. Das resultiert zunächst aus dem Bedürfnis und dem Erfordernis, den Zusammenbruch des Staatssozialismus zu verarbeiten. Die Geschichte soll eine Antwort darauf geben, wo und wie die „Gute Sache“ vom Wege abgekommen ist, damit der Sozialismus die „Gute Sache“ bleiben kann. Hinzu kommt eine zweite Quelle für die große Bedeutung, die die Geschichte für das Selbstverständnis und die Politikbildung in der PDS besitzt. Dies ist das aus der DDR-Sozialisierung erworbene „historisch-materialistische“ Weltbild der Masse der Mitglieder. Die Legitimation des eigenen politischen Handelns aus der Weltgeschichte, der Glaube, sich in eins mit dem Lauf der Weltgeschichte (dem Gang der Dinge) zu befinden, gewann angesichts des totalen Zusammenbruchs noch weit größere Bedeutung, als zu vor. Das Streiten für die welthistorische Legitimität des „sozialistischen Versuchs“ (Sowjetrußlands wie der DDR) und die Beschwörung, daß der derzeit obsiegende „Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte“ sei, sind zwei Eckpfeiler dieser weltgeschichtlichen Selbstversicherung. Die Folge ist aber, daß trotz einer Etablierung der PDS im politischen System der BRD und trotz der Festigung des Selbstverständnisses die Auseinandersetzung mit der jüngeren Zeitgeschichte, mit der Geschichte der sozialistisch-kommunistischen Bewegung und insbesondere mit der Geschichte der DDR in der PDS diesen außergewöhnlich hohen Stellenwert einnimmt und immer wieder nervöse und gereizte Kontroversen auslöst.
Dabei suchen die dominanten Politikpraktiker, den Gemüts- und Befindlichkeitslagen großer Teile der Mitgliedschaft nicht zu nahe zu treten und den Erwartungen, etwa an die Verurteilung der politschen Strafverfolgung von Funktions- und Amtsträgern des SED-Staates, gerecht zu werden, ohne sich in eine rechte DDR-nostalgische Ecke abdrängen zu lassen. Die Vorstandserklärungen zum Politbüroprozeß wie zur Verurteilung führender DDR-Militärs waren aber stets Gradwanderungen, die Proteste vom linken Erneuererflügel wie vom rechten altdogmatischen Flügel auslösten. Insbesondere die hartnäckige und juristisch sehr zweifelhafte justizielle Verfolgung von Funktions- und Verantwortungsträgern belebt die nostalgischen Trotzkräfte und schwächt die Bemühungen um eine konsequent kritische Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte.
Die Abkoppelung der Auseinandersetzungen über Politik und politische Strategien von den durch Befindlichkeiten beherrschten Kontroversen zur jüngeren Geschichte war für die Reformsozialisten und Pragmatiker die Basis ihrer innerparteilichen Hegemonie und des politischen Erfolges der Partei. Es ist aber nicht auszuschließen, daß die Auseinandersetzung um die Geschichte demnächst wieder zum Instrument innerparteilicher Formierungsprozesse und Richtungskämpfe werden wird, wie in den Jahren 1989 bis 95. Dabei kann der Geschichtsdiskurs sowohl zum Motor sowohl der weiteren Erneuerung wie zum Instrument einer konservativen Blockade werden.
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Nachbemerkung: Die vorstehende Betrachtung der Geschichtsdebatte in der PDS ist ein Draufblick, ein Blick auf die Bundesebene der Partei und ein Blick auf die Geschichtsdebatte als Ausdruck des historisch-politischen Selbstfindungsprozesses der PDS. Die Auseinandersetzung mit Geschichte findet in der Partei aber auf allen Ebenen statt. So haben die parteinahen Stiftungen unzählige Diskussionsveranstaltungen zu geschichtlichen Themen durchgeführt. Diese gehörten stets zu den besser besuchten. Auch Kreisverbände und Basisgruppen der PDS führen immer wieder Diskussionsrunden zu den Themen der jüngeren Geschichte des Sozialismus durch. Diese Seite des Themas konnte hier ebensowenig analysiert und bewertet werden wie das Niveau dieser Debatten. Die Feststellung, die Sonja Striegnitz nach dem Besuch zahlreicher Diskussionsveranstaltungen in der PDS anläßlich des 80. Jahrestages der russischen Oktoberrevolution trifft, daß in diesen Diskussionsrunden die Bereitschaft, „neue“ Erkenntnisse anzunehmen und kritisch theoretische Grundfragen des Sozialismus zu diskutieren, sehr gering gewesen sei, entspricht auch meiner Wahrnehmung. Aber bereits 1991 habe ich in der Geschichtsdebatte festgestellt, daß der Anspruch, der Mitgliedschaft ein neues Geschichts- und Gesellschaftsbild verpassen zu wollen, selbst stalinistischen Geist atmet. Umerziehung ist wahrlich keine Option eines demokratischen Sozialismus. Nostalgische, verklärende, verschrobene Geschichtsbilder von PDS-Mitglieder sind deren Privatsache, solange sie nicht versuchen, sie als die PDS-Position vorzustellen und zu verbreiten.
Entscheidend für den Fortgang der Geschichtsaufarbeitung in der PDS wird sein, ob auf der Ebene der Fachleute und der jüngeren Reformer neue, ausstrahlende Impulse in die Geschichtsdiskussion eingebracht werden können. Angesichts der Entstellung und Verzerrung der realen geschichtlichen Zustände und Abläufe in der DDR durch die offizielle und akademische Geschichtsschreibung stellt sich die Aufgabe einer linke Gegenkultur, die mit einer ideologisch unverstellten Geschichtsanalyse von unten versucht, die Geschichte der DDR wahrhaftiger zu erzählen. Gelingt dies nicht, werden nachfolgende Generationen es schwer haben, sich ein Bild vom Staatssozialismus und der DDR zu machen.
Anhang: Literaturliste.
* Der Stalinismus in der KPD und SED – Wurzeln, Wirkungen, Folgen. Konferenzmaterialien. Hrsg. d. Historischen Kommission der PDS. Berlin 1991
* Lothar Bisky/Uwe-Jens Heuer/Michael Schumann (Hrsg.): Rücksichten. Politische und juristische Aspekte der DDR-Geschichte, Hamburg 1993. (Konferenzmaterial)
* Lothar Bisky/Uwe-Jens Heuer/Michael Schumann (Hrsg.): „Unrechtsstaat“? Politische Justiz und Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Hamburg 1994 . (Konferenzmaterial)
* Jochen Czerny / Dietmar Keller / Manfred Neuhaus (Hrsg.): Ansichten zur Geschichte der DDR. Band V. Bonn Berlin 1994 (Konferenzmaterialien; enthält Gesamtinhaltsverzeichnis der Bände I bis IV).
* Lothar Bisky/Jochen Czerny, Michael Schumann (Hrsg.): Die PDS – Herkunft und Selbstverständnis. Eine politisch-historische Debatte, Berlin 1996. (Konferenzmaterialien).
* „Realsozialistische Kommunistenverfolgung. Von der Lubjanka bis Hohenschönhausen.“ Konferenzmaterial in „Utopie kreativ“ Heft 81/82 und Sonderheft.
* „Die Russische Revolution 1917. Wegweiser oder Sackgasse.“ Hersg. Von W.Hedeler, H.Schützler, S.Striegnitz. Dietz Berlin 1997.
* „Geschichte – ja, aber …“ Mit Beiträgen der linken Erneuerungsströmung zur Geschichtsdebatte der PDS 1991/92. (Reihe: controvers. Heft Nr. 22.
* „hefte zur ddr-geschichte“. Bisher 49 Hefte(!) erschienen. Hrsg. „Helle Panke“, parteinaher Bildungsverein, Berlin.
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