Kolumne

HÖPPNER ZÜNDET ATOMBOMBE – HAUSER ENTGLEIST BEI CELLE
aus telegraph #2-98
Hans-Jochen Vogel

Im Westen war noch der Weizen golden,
blaugrün verdämmerte der Kohl… 
(R.M.Rilke)

Die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und ihre Nachwehen haben wieder einmal gezeigt, daß Deutschland 1998 doch etwas anderes ist als die alte Bundesrepublik (West-) Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik seligen Angedenkens (?) zu einem vereint oder eins in´s andre hinein aufgelöst. Der Zusammenbruch der DDR und mit ihr des ganzen Ostblocks war zugleich Folge, Bestandteil und Ursache von Entwicklungen, die längst vorher begonnen hatten und sich danach fortsetzten. Sie genau zu beschreiben und in Begriffe zu fassen, scheint gegenwärtig noch nicht möglich. Das Schlagwort „Globalisierung“ bezeichnet nichts anderes als den gegenwärtigen Stand einer Dynamik, die Karl Marx vor 150 Jahren untersucht und gedeutet hat; es fügt keine wesentlichen neuen Inhalte hinzu. Man hatte gelegentlich vergessen, daß Marx keine „wertfreie“ Theorie ökonomischer Gesetze entwickeln, sondern hinter einer solchen, die er schon vorfand, ein empörend primitives und, auf längere Sicht kontraproduktives, also destruktives Muster von gesellschaftlichen Herr- und Knechtschaftsverhältnissen erkennbar machen wollte.

So weit, so richtig. Und der Landtag von Sachsen-Anhalt, die Atombomben Indiens und Pakistans, Herr Hauser und das Eisenbahnunglück, was haben sie damit zu tun? Wir haben es hier mit Indizien für Entwicklungen zu tun, die wohl der Dynamik des Kapitalismus entspringen und entsprechen, die jedoch weder nur auf das nackte kapitalistische Funktionsschema zu reduzieren sind, noch in eine Zukunft weisen, die durch eine quasi fatalistische Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ schon hinreichend charakterisiert wäre – wenigstens wenn man diese Losung mit dem Inhalt füllt, der von der sozialistischen Bewegung traditionell mit ihr verknüpft worden ist.

Was ist in Sachsen-Anhalt geschehen? Die seit 1982 in Westdeutschland und seit 1990 auch im Osten auf Bundesebene regierende CDU mit ihrem ewigen Kanzler, die auf die Macht im Staate abonniert zu sein schien, ist von den Wählerinnen und Wählern dieses Ost-Bundeslandes in einem Ausmaß zur Bedeutungslosigkeit zurückgestutzt worden, das für einen Stimmungsumschwung größeren Stils in Deutschland, vor allem aber für erhebliche neue Ost-West-Verwerfungen im „einig Vaterland“ symptomatisch zu sein scheint. Zwei mehr oder weniger sozialdemokratische Parteien mit stark ostdeutschem Stallgeruch, die jedoch offiziell nicht koalieren dürfen, verfügen über eine respektable Mehrheit, um im Sinne dessen, was sie verbindet, gemeinsam „Politik zu machen“. Die B90/Grünen haben einmal mehr demonstriert, daß ihr peinlicher Versuch, durch immer mehr „Realismus“ immer mehr zur Übernahme sogenannter „Verantwortung“ geeignet und an der Ausübung „wirklicher“ Macht beteiligt zu werden, sie in den verdienten Untergang führt. Wer so seine Kompatibilität beweist, macht sich überflüssig.

Ja, und die DVU, das Partei-Phantom mit auf Anhieb 13% Stimmenanteil! 11 000 Wählerinnen und Wähler sollen direkt von der PDS zur DVU abgewandert sein, wobei die absolute Stimmenzahl der PDS zugenommen hat, allerdings sollen auch 24% der DVU-Wählerinnen und Wähler ihre Erststimme der PDS gegeben haben. Endlich also ist er aus seiner Kyffhäuser-Höhle hervorgekrochen und hat sich zu erkennen gegeben: der Ossi: schon in der Kinderkrippe seelisch verstümmelt, aufgewachsen(?) im Mief und Plüsch kommunistisch drapierter Kleinbürgerlichkeit, bzw. (wechselweise) in der Zwangsjacke der stalinistischen Diktatur, dem menschenverachtenden Totalitarismus: verordneter Antifaschismus hier, erzwungener Internationalismus da, parteilich gegängelt und entmündigt, sozial verhätschelt, verbogen von Brigadefeiern und Zwangs-Opernbesuchen – ein fremdes Wesen; Irrläufer der Zivilisation; Kaspar Hauser…Hauser. Hauser? Nein, gehört nicht hierher!

Doch, Spaß beiseite! Seit fast drei Jahrzehnten wird von den „Grenzen des Wachstums“ gesprochen. Wir haben selbst erlebt, wie ganze Regionen und Länder deindustrialisiert wurden, wie Produktionsziffern abstürzten und Märkte zusammenbrachen. Die eben noch zähnefletschenden „Tiger“ Südostasiens winseln, Japans Wirtschaft schrumpft, Hongkong wartet erstmals mit Minuswachstum auf. Wir wissen zudem, daß viele noch als solche ausgewiesene Gewinne in Wirklichkeit, daß heißt bezogen auf die Befriedigung der Bedürfnisse des größten Teils der Menschen, als Verluste angesehen werden müssen. Dabei findet das fromme Lied „Geld ist genug da. Man muß den Reichtum nur anders verteilen“ immer noch redliche Mitsänger. Das wäre doch so schön: Wir machen hier in Deutsch- oder Euroland so weiter wie bisher, nur verteilen wir eben hier, unter uns, alles ein wenig gerechter. Dann könnten wir ohne schlechtes Gewissen genießen. Wer spricht da von der Ausbeutung billiger Arbeitskraft und billiger Ressourcen anderswo und von der ökologischen Zerstörung?

Die Frage erhebt sich, ob nicht die viel geschmähte Tristesse der DDR, ihr Mief, das Kleinkarierte, Enge und Langweilige an ihr, ihre Biederkeit, ihre Ruheunordnung und ihr Autoritarismus auch der Tatsache geschuldet waren, daß wir hier immer mit weniger auskommen mußten, aber, festgeklemmt im Modell des Industrialismus (gar noch in der Form, wie er sich bei der nachholenden Industrialisierung Rußlands herausgebildet hatte), sowie in den wirtschaftlichen und kulturellen Zwängen von Weltmarkt und „wissenschaftlich-technischen Fortschritt“ auch nicht Alternatives erfinden konnten, keine andere Gesellschafts – und Lebensform.

Wenn es nun so wäre, daß sich die „Grenze des Wachstums“, statt daß sie als Herausforderung für partizipatorische planende Politik angenommen würde, jetzt – wie es im Kapitalismus offenbar nicht anders möglich ist – „naturwüchsig“ durchsetzte? Wenn sich nun an den Problemen, mit denen wir heute kämpfen, vor allem zeigen würde, daß das gegenwärtige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell (oder: Wirtschaftsgesellschaftsmodell) an eine ökologische, quasi „äußere“, aber auch an eine „innere“ Grenze seiner Reproduktionsfähigkeit stößt und auch an die Grenzen dessen, was Menschen sich und einander zumuten können, und was eine Gesellschaft aushält, ohne zu zerfallen?! Wird man sich dann noch über 13% Wählerinnen und Wähler einer braunen Chaospartei wundern dürfen? Oder nicht vielmehr darüber, daß immer noch so viele Menschen überhaupt wählen gegangen sind und die gängigen Vereine gewählt haben? Schenken doch die etablierten (wie lange noch?) Parteien dem Wahlvolke (zu dem schon einmal einige Millionen Leute gar nicht gehören dürfen) weder über den Stand der Dinge reinen Wein ein, noch können sie eine Perspektive vorweisen, die über ein paar ökonomische Rechenexempel hinausgehen.

Die Wahlergebnisse von Sachsen-Anhalt sind eine dringliche Aufforderung, darüber nachzudenken, was wir nun wollen und mit wem, wenn der Kapitalismus offenbar seine lustigen Seiten verliert und wir uns viele seiner angenehmen by-products langsam abschminken können. Sind nicht auch unsere Vorstellungen von Freiheit, Befreiung, Menschenrechten und menschlicher „Verwirklichung“ im Kapitalismus gewachsen und haben dort ihre konkrete Gestalt bekommen? Sind sie wirklich so unschuldig, wie wir meinten, als wir sie noch als leuchtendes Banner vor uns hertrugen? Haben wir uns, als wir mehr Freiheit wollten, nicht nach der Freiheit der Unterdrücker gesehnt, die nur um den Preis von Unterdrückung anderer Menschen zu haben ist.

Die Übernahme der DDR ist nicht zum problemlosen Triumph der politischen „Elite“ der BRD geworden. Aus sehr unterschiedlichen Gründen reagieren eine Reihe von Politikern, ihre Sprachrohre und die veröffentlichte Meinung, besonders im Westen, mit Irritation und Konfusion auf ostdeutsches Verhalten und ostdeutsche Wahlergebnisse. Wer vom Tugendpfad des „Einheitsdenkens“ abweicht, wird diffamiert. Was dabei auffällt, ist der Kulturverlust, der sich da ausdrückt. Geistige und moralische Minderwertigkeit tobt sich im erschreckendem Ausmaße aus. In der ganzen Breite der Gesellschaft herrschen Lähmung oder Regression: internationale Gremien bescheinigen den Schulen in Deutschland Dürftigkeit in ihren Ergebnissen, Kultur ist ein lustloser Marktvorgang (ohne zu viel echten Markt allerdings), die Castor-Behälter sorgen für strahlende Zukunft, die Bahn wird aufgepeppt und abgespeckt bis zum Crash.

In wie bescheidenem Umfang auch immer Reinhart Höppner sich über die Tabus eines katatonen Westestablishments hinwegsetzt – daß er es überhaupt tut, gewinnt in diesem Deutschland schon fast revolutionäre Züge. Daß aber derlei im Osten geschieht, trägt den Verschiebungen Rechnung, die sich insgesamt vollziehen.

Aber auch im globalen Maßstab ist die einzige verbliebene „Supermacht“ nicht in der Lage, ihren Triumph auszukosten und der Menschheit eine pax americana aufzudrücken. Die Atombomben in Südasien sprechen eine deutliche Sprache. Daß die Inder irgendwann ihre Bombe zünden würden, war zu erwarten, nachdem der selbstgefällige bisherige Club der Nuklearmächte immer noch nicht reinen Tisch gemacht und statt dessen auf seine Privilegien beharrt hat. Obwohl die südasiatischen Kernversuche im Kontext eines lang andauernden regionalen Konflikts stattfanden, liegt ihre politische Sprengkraft doch eher darin, daß damit demonstrativ der Monopolanspruch der fünf (plus eins – was ist überhaupt mit der Atommacht Israel ?) „offiziellen“ Atommächte gebrochen und der Vorstellung von der unipolaren Welt unter Führung der USA ein Haltesignal gesetzt wurde. Damit wird auch der „Mythos Weltmacht“ noch mehr von seiner hypnotischen Wirkung verlieren.

Vor einigen Jahren machte der US-amerikanische Schnelldenker Francis Fukuyama mit der Hegel (und, im Vertrauen gesagt, der Bibel) entlehnten These vom nunmehr erreichten „Ende der Geschichte“ kurzfristig Furore. Er wollte damit ausdrücken, daß die Menschheit nach Jahrtausenden durch viele trials and errors jetzt endlich ein prinzipiell nicht mehr verbesserungsfähiges gesellschaftliches Steuerungsmodell gefunden habe. Daß damit die Welt etwas trauriger und langweiliger werde, das müßte nun in Kauf genommen werden. Demgegenüber möchten wir aus dem, was um uns her geschieht, eher ableiten, daß sich die Geschichte zurückmeldet, und zwar durchaus als Geschichte von Kämpfen. Wieder einmal (immer noch)! sind wir gefragt, wo wir uns – als Täter, Opfer, Zuschauer – plazieren wollen. Wieder einmal können wir uns die Zeit und die Umstände nicht aussuchen, ja nicht einmal unsere Verbündeten und Genossen, auch nicht unsere Gegner, und setzen uns der Gefahr aus, später gefragt zu werden, warum wir uns denn nicht gleich für die richtige Seite – die der späteren Sieger – entschieden haben. Was wir zu tun und zu lassen haben, läßt uns, wenn wir das überhaupt wollen, oftmals nur wenig Spielraum zwischen Können und Müssen.

Vieles ist offen, viele sind in Bewegung. Es scheint, als müßte die Gesellschaft neu erfunden werden. Wenn es darum geht, haben wir einen Ostvorteil.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph