`Lebenslaute statt Bombengetöse‘

Aufruf zum Einmischen für die FREIe HEIDe

aus telegraph 2/3 1996
von Jens Wittneben

Die Protestierenden versammeln sich regelmäßig in ihren Kirchen. Nach der Andacht schultern sie ihre Transparente und Fahnen, um ihren Protest in die Öffentlichkeit zu tragen. Sie nennen es ‚Protestwanderung‘ und sie wehren sich gegen eine Besatzungsmacht – seit 1992 kämpft die BI FREIe HEIDEe für die zivile Nutzung des Bombenabwurfplatzes zwischen Rheinsberg und Wittstock in den westlichen Ausläufern der Mecklenburgischen Seenplatte, den nach dem Abzug der Roten Armee nun die Bundeswehr begehrt.

Dieses Ansinnen quittierten im August 1992 4.500 BürgerInnen auf einer Demonstration mit ‚Nein‘. Sie gründeten die BI und erklärten mit Unterstützung von Bürgermeistern und Pfarrern ihrer Gemeinden: „Wir werden niemals hinnehmen, daß die militärische Zernutzung unserer Region – ein Relikt des Kalten Krieges und ein Gewaltakt der früheren Besatzungsmacht gegenüber den Einwohnern – nun fraglos vom eigenen demokratischen Staat für rechtens erklärt und weiterbetrieben wird.“ Sie wähnen Minister Rühe in Stalins Fußstapfen und wehren sich heute in ihrer Heide gegen die Vorbereitungen der Auslandseinsätze von morgen.

Nach Bombeneinschlägen neben Wohnhäusern, vom Himmel hagelnden Geschoßhülsen und bis zu 450 MiG-Einsätzen pro Tag haben sie genug vom Krieg. Sie wollen ihre Wälder und Wiesen zurück, die die Herren der Roten Armee, der Stasi und der DDR-Nomenklatura ihnen seit 1952 ohne weitere Erklärungen vorenthielt. Das Dorf Gadow direkt am Rand der 142 Quadratkilometer riesigen, zerbombten Heidelandschaft verlor so die meisten seiner BewohnerInnen.

Mit monatlichen Protestwanderungen und 20.000 Unterschriften betrieben die BürgerInnen rund um den Platz einen aktiven Widerstand, der heute, nach 34 Protestwanderungen, auf eine ansehnliche Geschichte zurückblickt.

Auf dem Platz stellten sie an der zerbombten Straße zwischen Wittstock und Neuruppin einen Gemarkungsstein auf und bekräftigten damit den Willen und die Notwendigkeit ziviler Nutzung. Regelmäßig verschlägt es Ministerpräsidenten, Landtagsabgeordnete und Bischöfe vor die Mikrophone der Kundgebungen an der Schießplatzgrenze. Ihnen hören dann neben einfachen BürgerInnen auch die letzten aktiven Bürgerbewegten der Ex-DDR zu. Sie alle prägen dem Charakter der Kampagne: Mahnsäulen von KünstlerInnen und HandwerkerInnen der Gegend halten die kleine aber feine Bewegung im Alltagsbewußtsein. Chöre und Orchester geben den Kundgebungen festlichen Charakter, die auch von Familien mit Kindern besucht werden.

Die ersten Tornados flogen 1994 über die Dächer der Widerständigen. Unter diesem Druck legten sie sich noch mehr ins Zeug. Mit Unterstützung der Berliner Gruppe freuten sich 1994 nach dem Ostermarsch 5.000 Leute über ‚Woodstock für Wittstock‘, in den Sommermonaten der letzten Jahre mobilisierte die Berlin/Potsdamer Gruppe junge Aktive von überall her zu den Sommeraktionstagen, zum Gedenken an die Opfer eines Angriffs auf einen Flüchtlingstreck 1945 errichteten Aktive eine Mahn- und Gedenkstätte, die Gruppe ‚Lebenslaute‘ konzertierte zur Einweihung eines Klangspiels. Das Kunstwerk steht unter dem Motto: „Energie für die FREIe HEIDe“

Und die scheint den Aktiven nicht auszugehen: Mit 5.000 und 3.000 TeilnehmerInnen fanden 1995 und 1994 die größten Ostermärsche in Fretzdorf statt. Der Boden für eine starke Kampagne vieler Bevölkerungsgruppen ist also beackert. In diesem Sommer wird gesät: Im Juni wandert der ‚Arbeitskreis Ökologie und Frieden Berlin/Brandenburg‘ aus der preußischen Metropole in die FREIe HEIDe. Die ‚Friedensreiter‘ setzen ihre in der DDR-Tradition stehenden Sommerausflüge hoch zu Roß rund um den größten Bombenplatz der Bundesrepublik fort. In der letzten Juliwoche hält die Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen ihr Bundestreffen vom 1. bis 4. August ab und schließlich plant das Komitee für Grundrechte und Demokratie vom 3. bis 6.10. einen „out of area“-Kongreß in Wittstock. Interessierte sind zum Kongreß eingeladen. Dieser soll die argumentative Basis von BI und bundesweiter Friedensbewegung stärken. Denn nur wenn es gelingt, die Kritik der neuen Bundeswehrplanungen allgemeinverständlich zu fundieren und sie auf die Problematik des Bombodroms zu beziehen, wird eine langfristige Verbindung der lokalen BI und der bundesweiten Friedensorganisationen möglich.

Die Zusammenarbeit mit Auswärtigen ist notwendig, weil die Bundeswehr langfristig juristische Auseinandersetzungen um den Platz wahrscheinlich für sich entscheiden wird. (Man denke nur an das Tiefflug-Urteil, das Gemeinden jeglicher juristischer Widerstandsmöglichkeiten gegen die rasenden Bomber beraubte.) Aufgabe auswärtiger AktivistInnen ist es, die BI bei denjenigen Aktionen zu unterstützen, die die Bundeswehr weiterhin von der Wiederinbetriebnahme des sowjetischen Bombodroms abhält. Erste Teilerfolge hat die BI bereits geschafft: Trotz der Wiederaufnahme des Flugbetriebs blieben Bombeneinsätze bislang aus.

Im Gerichtssaal wollen sie nun erstreiten, daß die Tornados wieder verschwinden. Vor dem Prozeß im Mai berichten die Aktiven von deutlich sinkenden Überflügen. Die Bundeswehr ist vorsichtig.

Die Schritte zu weiteren Erfolgen müssen erarbeitet werden. Sollen die UnterstützerInnen wochenends anreisen und die Grundstücke der Gemeinden auf dem Platz von Munition, Schrott und Altlasten säubern? Geld spenden für eine Schafherde in dem Gebiet, wo heute erst Büsche und Gras wachsen? Oder doch Blockaden?

An Ideen mangelt es nicht. Wichtiger wird es sein, diejenigen Aktionsformen zu finden, die die Bundeswehr weiter delegitimieren oder sogar Tornado-Flüge erschweren und dabei die bisherige Beteiligung vieler Menschen weiterführt.

Nach dem Ostermarsch könnte es am neunten Mai in der ersten Instanz zu einem Erfolg der FREIen HEIDe in Potsdam kommen, wenn die Bürgermeister vor Gericht das Eigentum ihrer Gemeinden einklagen. Doch danach muß mit einer Revision oder Berufung der Hardthöhe und auf über 80.000 DM steigende Prozeßkosten gerechnet werden. Die BI wartet auf Spenden. (KtoNr s.u.) Und wer lieber arbeitet statt Geld auszugeben, wendet sich zwecks Plakatieren für den Ostermarsch an:

FREIe HEIDe Berlin/Potsdam, c/o A-Laden, Rathenower Str. 22, 10559 Berlin, Tel/Fax 030 / 394 61 67, Spenden-Kto. Nr. Verein Freunde der direkten Aktion 4897 67 107, Post Berlin BLZ 100 100 10.

BI FREIe HEIDe, c/o Helmut Schönberg, Tannenstr. 12, 16909 Schweinrich, Tel/Fax 033966 / 60246, Spenden-Kto. Nr. 168 00 00 167, Sparkasse Ostprignitz-Ruppin BLZ 160 502 02

Termine für FREIe HEIDe 1996
7. April Ostermarsch um 14.00 in Fretzdorf
9. Mai Prozeß in Potsdam
7.-9. Juni Sommerlager der Evangelischen Jugend in Netzeband
Juni Wanderung Spandau – Wittstock des ‚Arbeitskreis Ökologie und Frieden Berlin/Brandenburg‘
Sommer Friedensreiter zur FREIen HEIDe
1. bis 4. August Bundestreffen Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen
3. bis 6.10.96 „out of area“-Kongreß
sowie diverse Protestwanderungen

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