Das Neue Forum und die Verfolgten

aus telegraph 3/1989 (#03)

Wie der Westberliner Sender RIAS am 13. Oktober erklärte, habe die Sprecherin des Neuen Forum, Bärbel Bohley in einem Interview ausgeführt, nach der Freilassung der zum 40. Jahrestag festgenommenen Demonstranten sehe sie eine erste Vorbedingung für Gespräche zwischen der Staatsführung und unab­hängi­gen Gruppen erfüllt. Als Zeichen einer glaubwürdigen Dialogbereitschaft müsse jetzt die Zulas­sung des Neuen Forums sowie anderer Reformgruppen als gleichberechtigte Gesprächspartner folgen.

Die Redaktion des „telegraph“ wollte von Bärbel Bohley wissen, wie sie dazu kommt, ungeprüft Behauptungen der Generalstaatsanwaltschaft der DDR als Tatsachen zu nehmen und deren „Gewalttäter“‑ Definition zu akzeptieren. Außerdem wollten wir wissen, ob sie auf die Freilassung der übrigen während der Leipziger und Berliner Wahl- und China-Demonstrationen Verhafteten verzichten will.

Leider konnten wir Bärbel Bohley nicht antreffen. Stattdessen antwortete auf unsere Fragen der Sprecher des Neuen Forums, Jens Reich:

Der Beginn eines Dialogs mit dem Staat, so Jens Reich, ist nur möglich, wenn alle Haftstrafen, Ermittlungsverfahren, Strafbefehle und Ordnungsstrafen im Zusammenhang mit den Demonstrationen der letzten Monate kassiert werden. Dies sei keine Vorbedingung, sondern eine grundsätzliche Position des Neuen Forums. Von der Äußerung Bärbel Bohleys wollte sich Jens Reich nicht direkt distanzieren, stimmte aber zu, daß in Zukunft vor öffentlichen Erklärungen Informationen genauer überprüft werden müssen.

Auf die Frage, warum es, abgesehen vom Leipziger Neuen Forum, keine Solidaritätserklärung mit den Inhaftierten und der Mahnwache gegeben habe, erklärte Jens Reich, er habe bei einem Plattformge­spräch in der Gethsemanekirche eine entsprechende Äußerung gemacht. Außerdem habe erst vor zwei Wochen das Neue Forum eine Erklärung für die Inhaftierten abgegeben; zu einer neuen bestehe kein Anlaß. Konkrete Nachfrage allerdings ergab, daß es sich dabei nicht um eine Erklärung der Berliner Vertreter, sondern des Neuen Forum Magdeburg handelt.

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