Das Ende der Subkultur in Mitte

aus telegraph #3 _ 1999
von Andrej Holm

Subkultur bezeichnet, dem Begriff nach, diejenigen Teilbereiche der bestehenden kulturellen Praxen einer Gesellschaft, die von den dominierenden Normen und Wertvorstellungen abweichen und in der Regel vom offiziellen Kulturbetrieb und seinen Entlohnungsstandards ausgeschlossen sind. Subkultur wurde – jedenfalls im traditionellen Verständnis – immer eine systemoppositionelle und gegenkulturelle Komponente zugesprochen. Dennoch steht Subkultur immer in einem Wechselverhältnis zur „offiziellen“ Kultur einerseits (vor allem wenn es um Anerkennung geht) und zu den ökonomischen Grundmustern einer Gesellschaft andererseits (vor allem wenn es um die Existenz geht). Diese Reibungen bringen Subkultur als solche überhaupt hervor und reißen ihr zugleich den Boden unter den Füßen weg. Das Ende der Subkultur kann sich persönlich als Aufstieg, technologisch als Adaption der „Ökonomie der Subkultur“ und räumlich als Aufwertung ganzer Stadtteile vollziehen. In Berlin-Mitte konnten in den neunziger Jahren alle drei Formen in Reinkultur beobachtet werden. Diedrich Diederichsen, der Poppapst der linksradikalen Bohême Westdeutschlands bezeichnet die Mitte der Hauptstadt als „schwarzes Loch der Subkultur“, hier wird Subkultur jeder Art angezogen und verschwindet darin.

Der Aufstieg der Galeristen
Seit geraumer Zeit unterscheiden KulturarbeiterInnen zwischen „eigentlichen“ und „uneigentlichen“ Arbeiten. Die „eigentlichen“ sind dabei Produkte, die wirklich ernstgemeint sind, aber in der Regel nicht oder unzureichend bezahlt werden. Bei „uneigentliche“ Arbeiten hingegen wird die Selbstbestimmung abgekauft, sie dienen der Existenzsicherung. Diederichsen bestätigt eine unter Kulturschaffenden weitverbreitete „relative Integrität der Industrie und Institutionen gegenüber“. Es ist viel normaler geworden, sich und seine Kulturprodukte zu verkaufen.

Das wäre früher undenkbar gewesen. Seit die Punk-Formation The Clash beim Plattenmulti CBS unter Vertrag ging, wurde in solchen Fällen von „Ausverkauf“ gesprochen. Dabei wurde von den Hohepriestern der Wachsamkeit jedoch übersehen, dass sich auch eine saubere Haltung längerfristig in klingender Münze auszahlen kann. Je radikaler und kompromissloser das Auftreten, desto höher das erworbene Renommee. Und ein guter Ruf kann später eine ganze Menge wert sein. Das heißt, nicht nur Kultur, gerade als die Summe von Kennerschaft, Wissen, Geschmack und Legitimität, lässt sich in reales Kapital umwandeln, sondern auch die Akkumulation von subkulturellem Kapital ließ sich durch die „moralisch ethische Bestimmung“ längerfristig gut umsetzen. Vielleicht ist das sogar der eigentliche Quell von Subkultur. Die materiellen Entbehrungen der Selbstausbeutung ermöglichen nicht nur eine Selbstverwirklichung, sondern können sich vor allem in Zukunft auszahlen. Subkulturelles Rebellentum ist dabei so etwas wie unternehmerisches Risiko. So wie sich die jugendlichen Revolten der ehemaligen Politaktivisten Fischer und Trittin von heute aus gesehen deutlich gelohnt haben, lassen sich auch in der Kultur- und Galeristenszene von Berlin-Mitte Beispiele des schnellen Aufstiegs finden.
Gerd Harry „Judy“ Lybke eröffnete zu Wendezeiten seinen Berliner Ausstellungsraum eigen+art in der damals unbekannten Auguststraße, nachdem er in Leipzig seit 1985 regelmäßig Ausstellungen in den dortigen eigen+art Räumen und vorher ab 1983 in der Wohnungsgalerie am Körnerplatz organisierte. Er bot vor allem jüngeren und subversiven Künstlern der DDR die Möglichkeit, ihre Werke zu etablieren. Damals galt er als einer, der Wildes und Experimentelles ausstellte, aus heutiger Sicht war er „einer der ersten am Markt“. Seine Vorreiterrolle ließ ihn bekannt werden, heute wird er im Spiegel zu den „Saturierten des Kunstbetriebes“ gezählt. Wollte er vor Jahren noch neue Türen aufstoßen und Unbekanntes ausstellen, so ist seine Grundhaltung einer zufriedenen Verteidigung eigener Vorteile gewichen: „Wir Älteren (Lybke ist 38), die wir zuerst hier waren, haben den Finger am Colt, damit die jüngere Generation nicht zu schnell nach oben kommt.“

Auch Klaus Biesenbach wollte Nachwuchskünstler fördern und organisierte 1992 eine Ausstellung in leerstehenden Erdgeschosswohnungen der Auguststraße. Die Aktion „37 Räume“ machte auch ihn als energischen Streiter für die Interessen der jungen Kultur bekannt – und zahlte sich aus. Klaus Biesenbach ist heute ein internationaler Kunstmanager, organisiert die „Berlin Biennale“, ist Kurator im New Yorker Ausstellungszentrum PS1 und besitzt die Kunst-Werke, eine ehemalige Margarinefabrik in Mitte, die sich inzwischen als Veranstaltungsort der Hochkultur etabliert hat.

Die Adaption der Ausbeutung
Gerd Harry Lybke und Klaus Biesenbach sind Auslaufmodelle: die der Subkultur innewohnenden Tendenz einer Konvertierung in etablierte Positionen und richtiges Geld verliert an Kraft. Seit selbst von der Wirtschaft und vom Management Rebellen und Querdenker nachgefragt werden, braucht niemand mehr den Umweg über die Subkultur gehen, und wenn, dann würde er zu spät ankommen. Viele Webmaster und Werbedesigner arbeiten heute zu Bedingungen, die den Produktionsweisen der Subkultur entsprechen: improvisierte Arbeitsbedingungen, Unterbezahlung, 12-14 Stundentage und immer das Gefühl, was richtig Kreatives zu tun und Spaß daran zu haben.

Allein in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte haben seit 1990 etwa 15 Werbeagenturen, Miniverlage und Veranstaltungspromotoren ihre Büros eröffnet. Viele von ihnen waren eng verbunden mit der boomenden Clubszene Berlins. Die ersten Aufträge der jungen Firmen waren oft Flyer für Technopartys oder die Organisation von Cluberöffnungen. Auf der schmalen finanziellen Basis von Kleinstkrediten oder kleinen Wirtschaftsförderungen war vor allem Eigeninitiative gefragt. Nachtarbeit und Privatverschuldung standen für viele Firmengründer auf dem Programm, unentgeltliche Praktika in den Büros gelten für Studenten der verschieden Fachrichtungen inzwischen als normal. Aus der Sicht der Beteiligten werden die schlecht oder gar nicht bezahlten Arbeitsstunden durch das Erlebnis des gemeinsamen Arbeitens und Erfolghabens aufgewogen. Ein Jungunternehmer schwärmte kürzlich in einem Interview davon, wie toll es sei, wenn nach 22.00 Uhr das ganze Team noch Pizza bestellt und immer noch gute Ideen zusammenkommen. Obwohl weitgehend einer Verwertungslogik unterworfen, sind die meisten Akteure der neuen Branchen von ihrer Sinnhaftigkeit überzeugt. Bezogen auf die „klassische Ökonomie der Subkultur“ haben Formen der Selbstausbeutung Bestand, Selbstbestimmung (das alte Ideal vieler Projekte) jedoch wurde gegen eine scheinbare Selbstverwirklichung eingetauscht. Dabei fehlen alle politischen und auch ethischen Haltungen und Ideale, die eine Subkultur in Opposition zu den bestehenden Verhältnissen hervorbringen. Im Gegenteil, die Arbeitsrhythmen und -auffassungen entsprechen genau den Anforderungen einer neoliberalen Wirtschaftsumgestaltung: flexible Arbeitszeiten und Verzicht auf Tariflöhne, lean production und kooperative Managementformen. Im Verhältnis zu den linksradikalen TheoretikerInnen und Künstlern, Aktiven aus Jobber- und Arbeitsloseninitiativen und den progressiven Teilen der Gewerkschaften, die verkürzte Arbeitszeiten und das Recht auf Müßiggang bei gleichzeitiger Grundsicherung fordern, übernehmen die neuen Kreativbranchen die klassische Funktion von Streikbrechern. Während hinter den Existenzgeldforderungen die Vorstellung einer Gleichheit aller steht, folgen die jungen beruflichen Aufsteiger dem Ideal einer Gleichheit der Erfolgreichen. In den Büros der neuen hippen Dienstleister sieht es aus wie in der Werbung: „Wer ist denn hier der Chef?“ Der Kapitalismus hat sich dabei wieder als höchst integrationsfähiges System bewiesen und die Ökonomie der Subkultur – befreit von dem politischen Anspruch auf Selbstbestimmung – adaptiert. Subkultur ist also in der Klemme, die Gründe des Aufbegehrens – also z.B. die entfremdete Arbeit – immer wieder selbst zu reproduzieren. Gerade durch die Kreativität und das Improvisationsvermögen werden so immer weitere Bereiche dem Kommando der Verwertung unterworfen.

Die Aufwertung des Bodens
Diese Eroberung neuer Bereiche hat nicht nur eine technologische, sondern auch eine räumliche Seite. Ähnlich dem Integrationsmuster subkultureller Arbeitsorganisation in den Kapitalkreislauf, übernehmen Kultur und Politszenen Pionierrollen bei der Eroberung neuer Stadtviertel für eine spekulative Immobilienwirtschaft. Die Bedeutung von Kultur und Subkultur bei der Umgestaltung von ganzen Wohnvierteln liegt in der spezifischen Trägheit des Immobilienkapitals: einmal in der baulichen Umwelt – also den Häusern und Straßen fixiert – ist das Kapital in der Verwertungsklemme. Neue Investitionen sind kaum möglich, da ja die bereits verbauten Kosten noch nicht abgeschrieben werden können. Theoretisch würde sich eine Neubebauung nur lohnen, wenn die bereits bestehenden Gebäude nichts mehr Wert sind. Doch Wohnhäuser haben eine relativ lange Lebenszeit und Investitionen lohnen sich nur, wenn die erwarteten Gewinne z.B. durch Mieteinnahmen höher sind als der Restwert des Bestandes und den Kosten der Neuerrichtung. Kultur und Subkultur kann wesentlich zur Vernichtung der bestehenden (aus Investorensicht) unterkapitalisierten Raumnutzung und Etablierung neuerer, kapitalintensiverer Nutzungen beitragen.

Das geschieht „faktisch“ durch das Benutzen von leerstehenden Wohnungen und Fabriketagen, die den „morbiden Charme des Verfalls“ als Ambiente ihrer kulturellen Praxis bieten. Was für „normale“ Nutzer einfach kaputt, marode und gefährlich ist, wird von den jungen Künstlern und Hausbesetzern als chic, trendy und abenteuerlich empfunden. Auf die Verwertungsmöglichkeiten bezogen, waren viele Galerien, Kneipen und Ausstellungsräume ein künstlerisch – maskierter Beginn von Zweckentfremdungen und Umwandlungen bisheriger Wohnungen in Gewerberäume.

Die „symbolische“ Funktion der Subkultur für das Immobilienkapital ist die Veränderung von Raumbildern und Images bestimmter Viertel. Bereits das Bild des „Großstadtdschungels“ – mit dem die Altbauviertel der Berliner Innenstadt oft beschrieben wurden – blendet bestehende Nutzungen und bisherige Bewohner aus. Vor allem die Beschreibungen von menschenleeren Straßen, vernagelten Geschäften und grauen bröckelnden Fassaden wurden von den Medien gerne aufgegriffen. Die besetzten Häuser, provisorischen Cafés und die abenteuerlichen Kunstausstellungen konnten der bisherigen Tristesse als neues Leben entgegengehalten werden. Besetzer und Galeristen, Kneipengründer und Künstler konnten sich so als Pioniere – verstanden als Eroberer und Vorposten in der gefährlichen Wildnis – fühlen und stellten sich auch selbst so dar. Klaus Biesenbach beschrieb im Katalog seiner Ausstellung „37 Räume“ die Gegend zwischen Auguststraße und Oranienburger Straße in genau diesem Sinne: „Ende der achtziger Jahre war das Gebiet fast menschenleer und in insgesamt marodem Bauzustand. Die ersten Neuansiedler waren Hausbesetzer, die Wohnungen, Fassaden und Höfe auf ihre Art umgestalteten.“

Während der Ausstellung selbst kam es zu den ersten Konflikten um die Nutzung des Gebietes. Vor allem die traditionelle Gebietsbevölkerung fühlte sich in den Sommermonaten aus dem eigenen Kiez ausgeschlossen und überließ der Alternativ- und Kunstszene nur ungern das Feld. Aufkleber und Wandmalereien kündeten vom Unbehagen der Bewohner. In ihrem Dominanzverhältnis den Bewohnern gegenüber unterschied sich die Subkultur nicht von späteren Investoren, die das Gebiet als neue Mitte Berlins ausbauen wollten. Institutionen der Subkultur wie das Tacheles konnten ebenso wie der Immobilienspekulant Roland Ernst von Berlin-Mitte als dem „interessantesten Teil der Stadt“ sprechen. In einem angesagten und von Künstlern (nicht mehr von „Assis“) bestimmten Viertel war es für die Eigentümer und Sanierer leichter, zahlungskräftige Mieter zu finden. Plötzlich wollten ja alle hin in die Mitte, wo so viel abgeht. Fast täglich eröffneten Kneipen und Clubs, das Tacheles und die nahegelegene Volksbühne sorgten für einen Bekanntheitsgrad über die Grenzen der Stadt und des Landes hinaus und die Gegend wurde zu einer „guten Adresse“. Auf dieser Basis konnte die tatsächliche Umstrukturierung durch Sanierung, Dachgeschossausbauten und Neubebauung beginnen, die Mehrzahl der alten Mieter wurde verdrängt. Die meisten der bisherigen Bewohner haben die Mietsprünge auf durchschnittlich 15 DM/qm nicht verkraftet. Im Vergleich zu den nahegelegenen Altbauvierteln Rosenthaler Vorstadt oder auch der Gegend um die Torstraße (ehemals Wilhelm Pieck Straße) hat die Spandauer Vorstadt einen deutlichen Inselcharakter. Sowohl der Sanierungsstand (in der Spandauer Vorstadt sind bereits 80% aller Häuser saniert, in den anderen Gebieten erst ein gutes Drittel) als auch die Sozialstruktur und die gebietstypische Gewerbemischung haben eine völlig entgegengesetzte Tendenz: Hier schöner, reicher, yuppiesker, dort anhaltender Zerfall, Konzentration von Sozialfällen und außerordentlicher Gewerbeleerstand. Diese Sonderstellung verdankt das Gebiet um den Hackeschen Markt nicht zuletzt dem guten Ruf als Szene- und Kulturquartier. So hatte der Immobilienmarkt seine zahlungskräftige Nachfrage – und daran war der subkulturelle Aufbruch Anfang

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