Läßt sich mit Repression eine rechte soziale Bewegung stoppen?

von Achim Detjen
(Aus telegraph 3/4/98)

„Früher war alles anders …“ lautet ein beliebter Satz für den Grauschleier zwischen Wehmut und Nostalgie, wie ihn sonst unsere Großeltern von sich zu geben pflegen. Um noch ketzerischer zu werden: vielleicht war es früher sogar „besser“ – die Gnade der frühen Geburt, das Recht auf Unschuld und Utopie der Wendegeneration: Nach dem Herbst 1989 befand sich die DDR in einem Zustand der Lähmung. Die gesellschaftlichen Organisationen waren in Auflösung begriffen, die sozialen Kontrollorgane weitgehend ausgefallen. Damit wurden unvorstellbare Spielräume geöffnet. Während sich die Oppositionsbewegung hochgradig institutionalisierte, Perspektivdiskussionen (Dritter Weg, eigenständige DDR) von hektischen Parteigründungen überlagert wurden und ihr im Herbst 1989 gewonnener relativer Einfluß zwischen Volkskammerwahl im März und gesamtdeutscher Bundestagswahl im November 1990 quasi zur Bedeutungslosigkeit verkam, bildete sich in der gesamten DDR seit Frühjahr 1990 eine nicht weniger hektische Bewegungswelle aus. Neben ostspezifischen Einflüssen adaptierten diese Bewegungen sehr schnell und mit tatkräftiger Unterstützung und Dominanz westdeutscher Akteure, alte „klassische“ Bewegungsmuster der neuen sozialen Bewegungen (NSB) der BRD. Es entstand eine neue Hausbesetzerbewegung, eine diffuse ostautonome Szene und eine Vielzahl von alternativen, selbstverwalteten Kneipen, Jugendzentren usw. Diese 1:1 Übernahme im Westen erprobter NSB-Bewegungsmuster, der die 1990 einsetzende, emanzipativ orientierte „linke“ Bewegungswelle in der allgemeinen Aufbruchstimmung und Verunsicherung verfiel, muß aber als unreflektiert und überstürzt bezeichnet werden. Schließlich hatten sich diese doch vor dem Hintergrund einer völlig anderen gesellschaftlichen Realität herausgebildet und waren zum damaligen Zeitpunkt in der BRD im Prinzip bereits gescheitert. Folglich wurden die entstandenen Freiräume – anders als in der BRD – nicht nur von linken Gruppierungen ausgefüllt, sondern, wenn auch in einem viel geringeren Ausmaß, auch von rechtsradikalen Gruppen. Als Beispiel genannt sei nur das der Nationalen Alternative vom Bezirk übergebene und quasi „von rechts besetzte“ Haus Weitlingstraße 122 im Ostberliner Stadtteil Lichtenberg, das zum unbestrittenen Zentrum und Identifikationsobjekt der neofaschistischen Szene in der Noch-DDR wurde.

Im weiteren soll hinterfragt werden, wie es dem Rechtsradikalismus gelingen konnte, sich von einer vormals isolierten Subkultur zu einer rechten sozialen Bewegung seit Anfang der 90er Jahre zu entwickeln. Es soll geklärt werden, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen soziale Bewegungen in der BRD entstanden und inwieweit sich diese seit der Zäsur von 1989/90 grundlegend verändert haben. Was eigentlich sind soziale Bewegungen? Welche Struktur besitzt das aktuelle rechte Bewegungsphänomen? Und vor allem: welche Konsequenzen ergeben sich daraus für ein mehr als aktionistisch orientiertes antifaschistisches Engagement?

1. Neue soziale Bewegungen und das Wendetrauma

Der Begriff der neuen sozialen Bewegungen beschreibt den Protest- und Bewegungszyklus, der seit den sechziger Jahren in allen entwickelten kapitalistischen Staaten Westeuropas wirksam wurde. Die NSB machten zwischen 1975 und 1989 rund 75% der westdeutschen Protestmobilisierung aus. Die den entstehenden Bewegungen zugrunde liegende Unzufriedenheit verwies gleichermaßen auf Überfluß wie auf Defizite. Vergleichsweise „hohe“ Reallöhne und staatliche Sozialleistungen begründeten das Modell des nationalen Wohlfahrtsstaats. Die Befriedigung grundlegender materieller Bedürfnisse aufgrund der stark expandierenden Ökonomie von den fünfziger bis Mitte der siebziger Jahre, die Stillegung und Institutionalisierung des Klassenkonflikts sind allgemeine Voraussetzungen einer nachhaltigen Interessensverlagerung. Durch die Basisbefriedigung materieller Bedürfnisse war ein Potential immaterieller Bedürfnisse freigesetzt worden. Materialistische Werte wie Einkommen oder soziale Sicherheit verschoben sich zugunsten postmaterialistischen Werten wie bspw. Ökologie oder Partizipation. Seit 1980 kam es zu einem ungeahnten Aufschwung der neuen sozialen Bewegungen: Ökologie-, Friedens- und Alternativbewegung, Hausbesetzer- und Autonome Bewegung. Dominierendes und verbindendes Glied war der Punk, eine No-Future-Haltung, eine Aufbruchstimmung, die sich nicht mehr – auch von linker Politik – verplanen und instru
mentalisieren lassen wollte, sondern die Entscheidung im heute, hier und jetzt suchte. Eine materialistische Herangehensweise im Sinne einer sozialrevolutionären Perspektive trat mehr und mehr in den Hintergrund: Häuser wurden nicht mehr besetzt, um sich gemeinsam mit den alteingesessenen Bewohnern gegen Spekulation oder Kahlschlagsanierung zu wehren, sondern um Freiräume für die eigene Bewegung zu erkämpfen. Es entstand eine quasi Gegengesellschaft und damit verbunden eine Selbstmarginalisierung der Akteure: „man stieg einfach aus“ und wollte mit dem Rest der Gesellschaft nichts mehr zu schaffen haben. Hieraus resultiert eine heute fatal anmutende Blindheit gegenüber sich abzeichnenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Spätestens mit der „geistig-moralischen Wende“ der CDU/CSU-FDP-Koalition 1982/83 setzte die entscheidende Weichenstellung zur Restrukturierung des kapitalistischen Wirtschaftsmodells auch in der BRD ein: die Umstrukturierung der Wirtschaft von der Industrie- zur Dienstleistungsökonomie, die Abkehr vom Typ des fordistischen Modells der Massenproduktion und -konsumtion mit schon damals bekannten Folgen wie massenhafter Freisetzung von Arbeitskräften, einem damit verbundenen rasanten Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit und einer Marginalisierung der vom Umstrukturierungsprozeß zuerst erfaßten Bevölkerungsgruppen. Anspruch und Wirklichkeit der NSB klafften deutlich auseinander: Die Bewegungen gaben sich auf einer vordergründigen Ebene radikal antiimperialistisch und antikapitalistisch (gegen den Atomstaat und die Atomindustrie, gegen Reagan als imperialistischen Kriegstreiber usw.), im praktischen Alltag aber folgten sie einem postmaterialistischen Wertekanon, der sich gegenüber dem „Angriff des nationalen Kapitals“ auf die Gesamtgesellschaft – Selbstausbürgerung hin oder her – als blind erwies. So verwundert es denn auch nicht, daß eine der 80er Parolen wie „ES GIBT VIEL ZU TUN – NICHTS WIE WEG!“, in Anspielung auf einen Werbeslogan des Bundesverbands der Deutschen Industrie, die Nachhaltigkeit der damals einsetzenden Entwicklung unendlich selbstkarikierend zum Ausdruck bringt und die damals zentrale und provozierende Position des „sich Verweigerns“ ad absurdum führt – wer heute aussteigen will, bitte sehr, Du wirst eh nicht gebraucht, sieh zu wie Du klar kommst.

1990 bot dieses Bewegungsmuster zwar auf der einen Seite die Möglichkeit zur emanzipativen Selbstbehauptung und Selbstidentifikation angesichts einer schier unaufhaltsamen Wiedervereinigung und der von Selbsthaß geprägten Stimmung in der Noch-DDR; andererseits verbaute sie sich von vornherein den Weg zu einer auch nur ansatzweise
breiteren gesellschaftlichen Bewegung auf Grundlage einer gemeinsamen Problemdefinition in der von sozialen Bewegungsmustern „unvorbelasteten“ DDR-Gesellschaft.

Ein thematischer Zusammenhang zwischen z.B. den gerade in Ostberlin massenhaft vollzogenen Hausbesetzungen und der weit verbreiteten Furcht vor den durch die Übernahme des westdeutschen kapitalistischen Gesellschaftsmodells entstehenden ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen wurde ignoriert, bzw. zugunsten des eigenen Bewegungsprojekts zurückgestellt.

Diese Tendenz gilt für fast sämtliche, sich als emanzipativ verstehende Bewegungsansätze in Ost- und Westdeutschland seit 1990. Eine diffuse Protestbewegung, die sich angesichts epochaler Veränderungen auf identitäre und postmaterialistische Werte und Bewegungsmuster reduziert, war von vornherein marginalisiert und zum Scheitern verurteilt. Im Westen wurde allmählich realisiert, daß die Vereinigung nicht umsonst zu haben sei und im Osten waren die Anschlußversprechungen der „blühenden Landschaften“ als nicht zutreffend erkannt worden. Vor diesem Hintergrund (hohe Arbeitslosigkeit, soziale Verunsicherung, Identitätsverlust, Orientierungslosigkeit, Ausschaltung ostdeutscher Akteure, Etablierung eines Billiglohn-Sektors auf dem Gebiet der ehemaligen DDR als mustergültiges Beispiel im Kampf um Standortfaktoren im globalen Wettbewerb) standen diese Bewegungsansätze abseits der gesellschaftlichen Realität.

Das von links bestehende Vakuum einer gemeinsamen, radikalen Formulierung real immer vorhandener „materieller Interessen“ und fehlende Interventionskonzepte konnten von rechts schnell gefüllt werden: so gelang es den Rechtsradikalen, das Thema Ausländer und Asyl mit den Problemen der Systemtransformation, des politisch-sozialen Umbruchs der deutschen Vereinigung zu verknüpfen. Viele Ostdeutsche unterstellten den seit Ende 1990 in den neuen Bundesländern untergebrachten Asylbewerbern pauschal kriminelle Absichten, bzw. ihre Versorgung ohne entsprechende Vorleistung wurde als Verletzung elementarer Gerechtigkeitsnormen empfunden. Die „Ausländer/Asylbewerber“ wurden somit als die Schuldigen an allen Notständen interpretiert. Damit konnte erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Rechte eine „soziale Frage“ aufgreifen, in der sie mit weiten Teilen der Bevölkerung übereinstimmte, die wie auch einige Politiker bereit waren, die nachfolgenden Ereignisse als „Auswüchse“ eines im Grunde berechtigten „sozialen Protests“ der Ostdeutschen zu sehen. Heute ist das rechtsradikale Lager der BRD, speziell auf dem Gebiet der früheren DDR, vom politisch iso
lierten Provokateur der Vorwendezeit zur „völkischen Avantgarde“ und einer Art „nationalem Volkstribun“ mit fester Verwurzelung in nicht unerheblichen Teilen der Gesellschaft avanciert.

Bereits im Jahre 1992 konstatierte der Bewegungsforscher Hans-Gerd Jaschke: „Wir haben es heute nicht mehr, wie noch bis in die 80er Jahre, mit einer politischen Subkultur von Außenseitern und Ewiggestrigen zu tun, die auf breite Ablehnung in der Mehrheitsgesellschaft stößt und in ihrem abgeschotteten politisch-sozialen Milieu verbleibt. Verschiedene Anzeichen deuten daraufhin, daß nach der Studentenbewegung … und den neuen sozialen Bewegungen nun eine neue, von ihren Zielen gänzlich andersartige, nun von rechts kommende Bewegung ihren Anfang nimmt“.

Exkurs: Was macht eine soziale Bewegung aus?

Unter einer sozialen Bewegung sind mobilisierte Netzwerke von Individuen, Gruppen und Organisationen zu verstehen, die mittels Protest grundlegenden sozialen Wandel herbeiführen oder verhindern wollen (ohne daß bloße Einstellungen oder kollektive Handlungspraktiken unter den Bewegungsbegriff fallen würden). Das klingt nach starkem Tobak. Allerdings stehen wir vor dem Problem, spätestens an dieser Stelle eine am aktuellen Diskussionsstand orientierte Definition von sozialer Bewegung vornehmen zu müssen, damit dieser nicht (un)willkürlich mit Subkultur oder „Szene“ gleichgesetzt und somit ins Beliebige verwässert wird. Deshalb eine kurze, möglichst präzise Begriffsbeschreibung in drei Punkten:

1. Die Kategorie des Netzwerks setzt voraus, daß relativ enge kommunikative Zusammenhänge zwischen Gruppen und Organisationen

Läßt sich mit linker Repression eine rechte soziale Bewegung stoppen?
als den kollektiven Bausteinen einer Bewegung bestehen. Die auf der untersten Ebene angesiedelten Elemente einer Bewegung können einen sehr unterschiedlichen Organisationsgrad aufweisen. Das Spektrum reicht von informellen Zirkeln bis hin zu straff geführten Parteien und Verbänden. Entscheidend bleibt jedoch, daß die Verknüpfung der Bewegungselemente auf den verschiedenen Ebenen niemals den Verbindlichkeitsgrad einer alle Gruppen der Bewegung verpflichtenden Organisation erreicht. Bewegungen haben Organisationen, aber sie sind keine Organisation.

2. Das Merkmal der Protestbewegung weist daraufhin, daß es sich bei Bewegungen nicht um rein ideologische Übereinstimmungen handelt, sondern daß eine zielorientierte Handlungspraxis vorliegen muß, in der eine massive Unzufriedenheit mit bestimmten politischen Verhältnissen oder sozialen Gruppen zum Ausdruck gebracht wird. Proteste reichen von rhetorischen Bekundungen bis hin zu Gewalttaten. Die damit verbundenen argumentativen bzw. expressiven Darlegungen gegenüber Gegnern und/oder Publikum sind der lediglich äußerlich sichtbare Teil von Bewegungen, welche nach innen hin ein weitaus facettenreicheres Handlungsspektrum aufweisen.

3. Das Kriterium einer auf sozialen Wandel gerichteten Protestpraxis besagt, daß von einer Bewegung nur dann die Rede sein soll, wenn sie Grundfragen gesellschaftlicher und politischer Ordnung aufwirft. Definitorisch ausgeschlossen werden damit einzelne Protestaktivitäten, die sich lediglich auf singuläre Ereignisse beziehen (z.B. bestimmter Amtsträger/konkrete administrative Maßnahmen). Erst wenn derartige Aktivitäten einen Bestandteil wesentlich weitreichenderer Bestrebungen um sozialen und politischen Wandel darstellen und
zudem mit anderen nach grundsätzlichem Wandel strebenden Kräften verknüpft sind, können solche thematisch sehr begrenzten Protest(kampagnen) einer Bewegung zugerechnet werden.

Gemäß dieser ideologisch neutralen Definition können wir dann von einer sozialen Bewegung sprechen, wenn die drei aufgezählten konstitutiven Elemente miteinander verknüpft sind und – ganz entscheidend – in der Protestmobilisierung zusammentreffen.

2. NSB in den Neunzigern: Rechtsradikalismus als neueste soziale Bewegung

Seit Beginn der neunziger Jahre hat sich mit dem Zusammenbruch des Ostblocks der Kapitalismus nahezu grenzenlos ausgeweitet. Vor dem ideologischen Hintergrund der Globalisierungsdebatte und den damit verbundenen Sachzwängen (Sicherung von Standortfaktoren usw.) sind weitreichende gesellschaftliche Umstrukturierungen durchgesetzt worden, die eine massive Umverteilung von unten nach oben, eine Verschärfung des allgemeinen Arbeitszwangs und eine drastische Verschlechterung der Lebensbedingungen, gekoppelt mit einem Rückbau der Sozialstaatlichkeit zur Folge haben.

Vor diesem Hintergrund verschieben sich die gesellschaftlichen Konfliktlinien nicht mehr von materialistischen zu postmaterialistischen (=libertären) Werten. Die gesellschaftlichen Konfliktlinien der 90er sind eine Kombination aus der klassischen, eher ökonomisch-sozial geprägte Konfliktlinie (zwischen „Arbeit und Kapital“) mit der zwischen libertären und autoritären Wertorientierungen (Hierarchie, Paternalismus, wirtschaftliche Größe, Fremdenfeindlichkeit) als Folge des forcierten Modernisierungsprozesses. Und das hat weitreichende Konsequenzen: nicht zufällig sind die neuen sozialen Bewegungen fast gänzlich verschwunden, hat sich das klassische, an postmaterialistischen Werten orientierte Bewegungsmuster nach der Zäsur 1989/90 als von der „neuen“ gesellschaftlichen Wirklichkeit des nationalen Wettbewerbsstaats überholt erwiesen. Soziale Bewegungen entstehen nicht aus dem Nichts, sie stürzen sich auf Realentwicklungen und spitzen sie zu. Die fortschreitende und sich verschärfende soziale und materielle Verelendung von immer mehr Menschen in der Metropole BRD ist heute gesellschaftliche Realität. Große Teile der Bevölkerung sind angesichts beschriebener Umstrukturierungsprozesse massiv verunsichert. Diese Verunsicherung spiegelt sich auch in Wahlergebnissen wider, wie wir sie in den letzten Jahren etwa in Großbritannien, Frankreich oder unlängst der BRD als Erfolge für sozialistische/sozialdemokratische/grüne Parteien erlebt haben. Freilich ohne daß dem Bedürfnis nach „sozialer Gerechtigkeit“, Wohlfahrtsstaatlichkeit oder gar einer „gerechten Verteilung der Güter“ auch nur ansatzweise ein adäquates Reformprojekt dieser politischen Kräfte (sozusagen ein „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“) gegenüberstünde.

Der sich vor diesem Hintergrund vollziehende Anbruch „neoklassischer“ sozialer Bewegungen am Ausgang des 20. Jahrhunderts, also Bewegungen, die sich primär materialistisch positionieren, wird zum gegenwärtigen Zeitpunkt eindeutig von rechts dominiert.

Dieser Bewegungszusammenhang der real-existierenden rechten sozialen Bewegung ist von Politik wie Wissenschaft lange Zeit nicht erkannt worden, oder – was noch schlimmer ist – er sollte nicht erkannt werden. Über Struktur und Entwicklung der rechtsradikalen Szene und ihrer Strukturen sind neben aktuellen Zeitschriften eine Reihe hervorragender Werke in den letzten Jahren entstanden, erwähnt seien nur die beiden Bände „Drahtzieher im braunen Netz“ von 1992 und 1996, die die Geschichte der Entstehung einer neofaschistischen Szene in der DDR und ihre Transformation zum internationalen Netzwerk detailliert beschreiben. Was dagegen so gut wie überhaupt nicht reflektiert wird, ist auch hier die Bewegungsförmigkeit des aktuellen Rechtsradikalismus. Die Binnenstruktur der rechten Bewegung läßt sich grob in folgende Bestandteile gliedern:

-Rechtsradikale Parteien: vor allem die NPD mit ihrer Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten (JN) als integrative, legale Basisorganisation – die Partei versteht sich inzwischen auch explizit als (Teil der) Bewegung.

-Außerparlamentarische neofaschistische Organisationen und Netzwerke (v.a. autonome Kameradschaften aus dem Umfeld der verbotenen FAP, aber auch versch. Bildungs- Kultur- und Schulungsgemeinschaften bis hin zur „Hilfsgemeinschaft nationaler Gefangener“ (HNG) einer Art „Braunen Hilfe“).

-Neurechte intellektuelle Zirkel wie die Lesekreise der Jungen Freiheit oder Kreise nach dem Vorbild der Berliner Dienstagsrunde (hier saßen auch schon hohe Senatsmitarbeiter am Tisch).

-Rechtsradikale/neofaschistische Subkulturen wie z. B. Hammerskins.

Zentrale Themenschwerpunkte sind die Besetzung der „sozialen Frage“ von rechts im Sinne einer völkisch-antikapitalistischen Position (wie sie vom Strasserflügel der NSDAP vertreten wurde) gekoppelt mit dem Aspekt der Massenarbeitslosigkeit und „Ausländerthematik“. An Aktionshöhepunkten dieser Bewegung ist hier neben dem (vorläufig fehlgeschlagenen) Versuch, als Teil der Erwerbslosenproteste aufzutreten ist hier vor allem der 1. Mai als „Tag der nationalen Arbeit“ („soziale Gerechtigkeit gibt es nicht ohne nationale Solidarität“) zu nennen (seit 1992 Demonstrationsversuche mit wenigen Hundert Teilnehmern in Ostberlin, 1998 mehrere tausend in Leipzig). Weitere Schwerpunkte sind geschichtsrevisionistische Kampagnen, wie die gegen die Wanderausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung über die Verbrechen der Deutschen Wehrmacht („unsere Großväter sind keine Mörder“), die sog. „Anti-Antifa-Arbeit“ – die Erstellung potentieller Todeslisten von „Volksfeinden“, die neben linken Personen und Projekten auch das bürgerliche und konservative Spektrum erfaßt sowie der Ausbau der rechten Infrastruktur unter technischen (verschiedene Infotelefone, Mailboxen oder z.B. das Computernetzwerk Thule-Netz), thematischen (diverse Diskussions- und Schulungszirkel, bzw. Publikationen), praktischen (Wehrsport/Nahkampftechniken) und kulturellen Aspekten (Schaffung „national befreiter Zonen“, Ausbau von Treffpunkten wie Klubs, Diskos und Kneipen, „nationale Konzertveranstaltungen“, rechte Platten- und Klamottenläden usw).

Vielerorts besitzt die rechte Bewegung inzwischen die kulturelle Hegemonie und beeinflußt das Massen- und Alltagsbewußtsein der Bevölkerung nachhaltig. Was also will die Linke, d.h. speziell ihr Teilbereich Antifa, tun, um der galoppierenden rechten Bewegung noch Einhalt zu gebieten? Die aus den Ereignissen der letzten Wochen, Monate und Jahre erwachsene Dimension ist bedrohlich – wöchentlich durchgezogene Demonstrationen, Großkonzerte und Veranstaltungen mit oft mehreren tausend Teilnehmern sind inzwischen genauso Realität und Normalität wie „national befreite Zonen“, also bestimmte Straßenzüge, Wohnviertel, Dörfer oder Landstriche in denen die Rechte die kulturelle Hegemonie und die „Herrschaft der Straße“ besitzt. Jugendklubs und Diskos – nur für Rechte, „no-go-areas“ für alles was undeutsch erscheint – Andersdenkende fühlen sich allein gelassen, haben angesichts brauner Terrormethoden und kommunaler wie staatlicher Beschwichtigungs-, Verheimlichungs- oder offener rechter Protegierungspolitik längst resigniert und ihre Stimme verloren. Es wäre müßig und den Rahmen bei weitem sprengend, die vielen hundert Orte, die tausenden konkreten Einzelfälle und beteiligten Funktionsträger republikweit noch einmal aufzulisten. Lassen wir an dieser Stelle den Generalstaatsanwalt von Brandenburg sprechen, der im Dezember 1997 eine „Einheitsfront von stramm Konservativen bis zum autonomen Spektrum“ forderte, um dem (auch von Polizei und Staatsanwaltschaft) nicht mehr kontrollierbaren Phänomen dieser Gebiete noch Herr zu werden.

3. Antifastrategien vor dem Neubeginn

Vielleicht ist es für zukünftige Antifastrategien eine Erleichterung, die rechtsradikale Szene endlich als das zu begreifen, was sie nunmehr ist: eine soziale Bewegung mit allen daraus folgenden Konsequenzen, also auch der Tatsache, daß die bisherigen Mittel antifaschistischen Engagements sich vor diesem Hintergrund als stumpf erweisen.

Bereits aus der Definition sozialer Bewegungen dürfte deutlich geworden sein, welch komplexe Struktur eine zumindest halbwegs entwickelte soziale Bewegung ausmacht. Für die Unmöglichkeit, mit den in unseren Breitengraden üblichen, rein repressiven Mittel eine soziale Bewegung zu zerschlagen, gibt der Staat in seinem Kampf gegen verschiedene NSB der alten BRD unfreiwillig ein vorzügliches Lehrstück ab. Nehmen wir als Beispiele den Westberliner Häuserkampf von 1980-82 und den Kampf gegen die WAA-Wackersdorf 1985-88: In Wackersdorf prügelten 1985 SEK-Kommandos die Bauplatzbesetzung auseinander. Fast sämtliche Demonstrationen in den Jahren 1986/87 wurden von riesigen Polizei- und BGS-Aufgeboten brutal angegriffen, CS-Granaten aus Hubschraubern in die Menge gefeuert, tausende Menschen aus der Region Oberpfalz von Strafverfahren überzogen. Ergebnis: der Widerstand konnte weder isoliert noch gebrochen werden, der Bau der atomaren Wiederaufarbeitungsanlage wurde aufgegeben. Auch der auf dem Nährboden einer verfehlten (Kahlschlags-)Sanierung entstandene Westberliner Häuserkampf konnte durch reine Repression nicht zerschlagen werden. Trotz der Inkaufnahme von Toten (Klaus Jürgen Rattay), über 5.000 Ermittlungsverfahren und brutalen Polizeiattacken, brachten erst taktische Zugeständnisse des Senats und die dadurch ausgelöste Spaltung der Bewegung in Verhandler und Nichtverhandler allmählich den ersehnten Erfolg.

Da – wie bereits erwähnt – sozialen Bewegungen immer real vorhandene gesellschaftliche Konflikte zugrunde liegen, die diese erst zuspitzen, bedarf es zur erfolgreichen Bekämpfung eben nicht nur der „großen Keule“, die allzu leicht Ursache und Wirkung miteinander verwechselt, sondern der Isolation und Austrocknung. Das wiederum bedeutet, an den Wurzeln des „eigentlichen Problems“, das der Bewegung nämlich erst Auftrieb und Substanz verliehen hat, mit verschiedenen Mitteln zu sägen und durch eigene Argumentations- und Handlungsmuster nachhaltig zu schwächen.

Was hat nun dieses Beispiel mit Antifastrategien und dem rechten Bewegungsphänomen zu tun?

Die repressiven Mittel der antifaschistischen Gegenbewegung sind äußerst beschränkt. Es ist richtig und wichtig, rechtsradikale Strukturen und ihre Akteure physisch anzugreifen – und doch erscheint dies als ein Kampf gegen Windmühlen. Keine der diversen Großdemonstrationen dieses Jahres konnte ernsthaft verhindert werden; die Nazis immer und überall von der Straße und aus ihren Stützpunkten zu prügeln ist 1998 nichts anderes als ein frommer Wunsch.

Nach 1992/93 ist es nicht gelungen, eine antirassistische und antifaschistische „Bürgerrechtsbewegung“ aufzubauen. Und nach wie vor orientiert sich antifaschistisches Engagement vordergründig an humanistischen Werten und appelliert primär an ein schlechtes bürgerliches Gewissen, anstatt eine ernsthafte, eigenständige emanzipativ-sozialrevolutionäre Perspektive, im Gegensatz zum nationalrevolutionären, völkisch-antikapitalistischen Treiben der rechten Bewegung zu praktizieren.

Sinnbildliches Beispiel: AntifaschistInnen verlassen nach kurzer Zeit Proteste gegen Sozialabbau, weil sich dort gar keine Nazis gezeigt haben und sie scheinbar nicht von Sozialabbau betroffen sind. Der antifaschistische Recherchedienst leistet beständig hervorragende Arbeit,
durchleuchtet die gegnerischen Strukturen und erstellt aktuelle Lagebilder, tatsächlich profitiert jedoch eher der Verfassungsschutz von diesen Erkenntnissen, als daß sie praktische und strategische Konsequenzen für die eigene Bewegung haben.

Der bislang weitreichendste Versuch geht schließlich in die Richtung, gesamtgesellschaftliche Bündnisse aller fortschrittlichen Kräfte zu schmieden und den Rechtsradikalismus gesellschaftlich zu isolieren. In letzter Konsequenz bedeutet aber die bisherige Art der Herangehensweise, im Zusammenspiel von Politik, Medien und Wirtschaft in regelmäßigen Abständen durch Bündnisdemonstrationen und Lichterketten Humanismus, religiöse Toleranz und Multikulturalismus im multinationalen Standort Deutschland zu manifestieren, anstatt eben diese „Deutschland G.m.b.H.“ grundsätzlich in Frage zu stellen und Schritt für Schritt zu demontieren. Ob das reicht?

Vielleicht sollte sich die Antifa von der Funktion als „Freiwillige Feuerwehr“ unabhängiger machen und sich von der fixierten Rolle als (selbst-)marginalisierte Gegenbewegung endlich lösen. Erste wichtige Schritte in diese Richtung sind auf jeden Fall gesellschaftliche Bündnisse, wie sie etwa in Rostock und z.T. in Leipzig („Bündnis gegen Rechts“) geschlossen wurden. Mittelfristig bedeutet dies, integraler Bestandteil eines teilbereichsübergeifenden linken Bewegungsansatzes zu werden. Dreh- und Angelpunkt wäre eine emanzipative, sozialrevolutionär orientierte Strategie, die sich aus der Exklusivität des selbstbeschränkten Rahmens löst und mit allen fortschrittlichen Kräften an den sozialen Realitäten vor Ort ansetzt – sei es das Sozialamt, der Stadtteil, das Jugendzentrum oder alle sonstigen Schnittstellen gesellschaftlicher Konflikte. Die soziale Frage stellt sich für alle – auch für die Linke. Und für langfristig erfolgreiches antifaschistisches Engagement ganz besonders. Die sozialpsychologischen Deformierungen alsErklärung rechtsradikaler Einstellung werden sich so nicht lösen lassen, aber die Reduk
tion der rechten sozialen Bewegung zur politischen Subkultur wäre schon ein echter Erfolg.

Qellen:

Antifaschistisches Infoblatt, 12 Jahrgänge, Berlin.

Bergmann, Werner/Erb, Rainer (1994): Eine soziale Bewegung von rechts? Entwicklung und Vernetzung einer rechten Szene in den neuen Bundesländern, in: Forschungsjournal NSB Heft 2.

Drahtzieher im braunen Netz (1992): Der Wiederaufbau der NSDAP, Berlin-Amsterdam.

Drahtzieher im braunen Netz (1996): Ein aktueller Überblick über den Neonazi-Untergrund in Deutschland und Österreich, Hamburg.

Geronimo (1992): Feuer und Flamme. Zur
Geschichte und Gegenwart der Autonomen, 3. Aufl. Berlin – Amsterdam.

Hirsch, Joachim (1980): Der Sicherheitsstaat. Das Modell Deutschland, seine Krise und die Neuen sozialen Bewegungen, Frankfurt a.M.

Jaschke, Hans-Gerd (1993): Formiert sich eine neue soziale Bewegung von rechts? Über die Ethnisierung sozialer und politischer Konflikte, in: Institut für Sozialforschung, Mitteilungen Heft 2.

Koopmans, Ruud/Rucht, Dieter (1996): Rechtsradikalismus als soziale Bewegung?, in: Jürgen W. Falter, Hans-Gerd Jaschke, Jürgen R. Winkler (Hrsg.): Rechtsextremismus: Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, in: PVS Sonderheft 27.

Raschke, Joachim (1988): Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, >

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