NICHT DIE NAZIS SIND DAS PROBLEM, SONDERN DER KAPITALISMUS IST ES

oder: Was uns Ostdeutschland wirklich lehren könnte
von Hans-Jochen Vogel
(Aus telegraph 3/4 1998)

1. Kürzlich noch schien der Aufstieg der neuen Nazis zwischen Werra und Oder unaufhaltsam. Inzwischen ist der erste Schreck verflogen. Davon haben zwar jene nichts, die in von braunen Schlägern dominierten und terrorisierten Gegenden oder Ortschaften diesen unangenehm ins Auge stechen. Aber die Mehrheit haben schließlich nun doch anders gewählt. Ein Phänomen, das es nicht gibt, muß nicht untersucht werden. Auch wenn hier und da im Dschungel dieser unübersichtlichen Welt genau dies weiter passieren wird, daß nämlich per erfinderischer Analyse erst geschaffen wird, was beklagt werden soll. Tatsächlich mögen etliche Wähler noch bis zuletzt geschwankt haben, welcher der „Protestparteien“ sie ihr Kreuzchen geben sollen, DVU (bzw. NPD, Rep) oder PDS. Es mögen auch eher mehr als weniger die PDS aus Gründen gewählt haben, die dieser peinlich sein müßten. Dennoch haben sie am Ende die PDS angekreuzt und nicht die Schwarzweißrotbraunen.

2. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus, Tribalismus, Nationalismus, (Neo-) Faschismus, Rechtsradikalismus, Rechtsextremismus… . Wie viele Bezeichnungen haben wir noch aufzureihen vergessen? In der Medizin nennt man komplexe Krankheitsbilder, die erst einmal nur als Bündelung verschiedener Symptome bestimmbar sind, Syndrome. Das Wort kommt aus dem griechischen und ist mit „Zusammenlauf“ übersetzbar: Verschiedene Symptome laufen zu einem in sich geschlossenen und kohärenten Krankheitsbild zusammen. So scheint es sich auch mit den oben aufgeführten Erscheinungen zu verhalten. Symptome eines komplexen Krankheitsbildes. Allen einzelnen Vokabeln lassen sich einigermaßen klar abgrenzbare Bedeutungen zuordnen. Teils allerdings überlappen sie sich, teils schließen sie an einander an. In der außersprachlichen Wirklichkeit kommen die bezeichneten Tatbestände meist miteinander kombiniert vor (jedoch nicht immer: es gibt eine rassistische und faschistische „Internationale“). Umstritten bleibt jedoch, inwiefern die ins Auge fallenden und von der „demokratischen Öffentlichkeit“ mißbilligten Erscheinungen nur Ausdruck oder Auswuchs, Folge oder Bestandteil von gesellschaftlichen Tendenzen und Realitäten sind, die allgemeine Akzeptanz genießen und als normal betrachtet werden. Lassen sie sich – eben womöglich noch mit „normalen“ Sachverhalten zusammen – zu einem Gesamtbild vereinen, für das es dann auch einen Sammelbegriff geben müßte, der präziser wäre als das Pauschaletikett „rechts“ ? Oder kommen bei näherem Hinsehen und genaueren Nachdenken gar Fragen nach unserer bisherigen Wahrnehmung dessen auf, was sich gegenwärtig in unserer Welt und in diesem Lande abspielt? Fragen, die auch unser Selbstbild, unser Bild von der Rolle, die wir spielen, unsere Ziele und Engagements berühren? Sollten wir es uns vielleicht doch zu einfach machen, wenn wir uns nur als „Linke“ zusammenschließen und gemeinsam Front machen gegen „rechts“?

3. Ostdeutschland stellt gegenwärtig so etwas wie ein gesellschaftliches Laboratorium dar. Dies ist das genaue Gegenteil dessen, was sich viele seiner Bewohner vorgestellt hatten, als sie 1990 „keine neuen Experimente“ wollten und deswegen konservative Parteien wählten. Mit Rasanz vollzog sich hier eine Entwicklung, die nicht nur in ihrer Zeitraffer-Wirkung und hemdsärmeligen Brutalität manches von den der Gesellschaft zugrunde liegenden Mechanismen deutlicher hervortreten ließ als im Westen, sonder sie traf hier auch auf eine Bevölkerung, die gerade eben noch in anderen Verhältnissen gelebt hatte und vergleichen konnte – nicht nur ihre Erfahrungen als neue Gesamtdeutsche mit denen als DDR-Bürger, sondern auch ihr Bild vom Westen zu DDR-Zeiten mit ihren neuen „West“-Erfahrungen, ihr Selbstbild mit dem Bild, das sich Westdeutsche, die über administrative und ökonomische Mittel verfügten, dieses Bild auch als normatives durchzusetzen, von ihnen machten. Schließlich das Bild der Westdeutschen von sich selbst mit den Erfahrungen, die sie nun mit ihnen machten.

Durch den „Anschluß nach Artikel 23 GG“ hatten zwei Gesellschaften schlagartig fusioniert, die bisher über Jahrzehnte dazu angehalten worden, ja darauf trainiert waren, sich als wechselseitig antagonistisch zu verstehen. Plötzlich wurden offizielle Gegner, ja Feinde, ein „einig Vaterland“. Von westlicher Seite wurde einfach unterstellt – und viele Unzufriedene im Osten sahen es zuerst nicht anders, daß hier ohnehin nur endlich vollzogen wur
de, was immer schon feststand: „Wir sind ein Volk“, und daß hier ein „widernatürlicher“ Zustand sein Ende gefunden hatte. Daß der Anschluß eine Kapitulation war, mußte dabei nicht einfach geleugnet werden, Kapitulation ja, aber die der SED, des „Systems“, der „Bonzen“, der Stasi usw. Inzwischen hat sich herausgestellt, daß die DDR nicht in eine immer schon zum Westen gehörende Bevölkerung und eine dieser aufgezwungenen Führung aufzuteilen war, sondern eben ein Staat – mit allen seinen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen und seiner Lebenswirklichkeit, die den Alltag seiner Bewohner bestimmte. Daß auf die Zerstörung aller dieser Zusammenhänge mit -wenn schon nicht Widerstand- doch mit Ressentiments und Irritationen reagiert werden und so etwas wie eine posthume DDR-„Identität“ entstehen würde, war abzusehen. Auch daß der Frust sich autoritär und „fremdenfeindlich“ äußern könnte, war zu ahnen, vollzogen sich doch Enteignung und Entmächtigung für die Ostdeutschen als Bevölkerung insgesamt unter liberal-demokratischem Markenzeichen, und pflegt sich doch bei lang eingeübter und wieder abverlangter Untertänigkeit die Wut der Untertanen für gewöhnlich an Sündenböcken zu entladen und nicht an den Verursachern ihrer Unbill.

Dennoch: ein schlüssiges Bild von einer insgesamt nach „rechts“ driftenden Gesellschaft ergibt sich aus alledem nicht, eher die Frage, ob und wie denn dem, was da an Konfliktstoff entstanden ist, eine andere Deutung gegeben und eine andere Richtung gezeigt werden kann.

4. Erst in unserer Zeit hat sich der Kapitalismus als das die ganze Welt durchdringende und sich ihrer total (fast?) bemächtigende System durchgesetzt, als das es Marx im vorigen Jahrhundert beschrieben hat. Der Spätkapitalismus hat jene merkwürdige Gesellschaft zum Verschwinden gebracht, die wir u.a. Realsozialismus nennen, und die wir noch immer nicht ausreichend beschrieben und charakterisiert haben. In Zeit und Raum stellten sich die „realsozialistischen“ Länder unterschiedlich dar, wie auch der „freie Westen“ etwa zwischen BRD und Haiti eine breite Palette an Variationen bot. Die Ostdeutschen hatten die ganze Zeit des Bestehens der DDR hindurch vor ihren Augen eine Art Musterland des Kapitalismus. Dies war kein Zufall, sondern (wie jetzt immer klarer auch von westlichen Historikern beschrieben wird) Absicht: im Gefolge eines radikalen Kurswechsels der US-Politik in den 40er Jahren sollte, wenn schon nicht ganz Deutschland, dann doch wenigstens der Teil, der von den Westmächten besetzt war, möglichst schnell wieder wirtschaftliche (und militärische) Stärke, sowie politische und soziale Stabilität erlangen, um eine wichtige Rolle im Kampf gegen den Kommunismus zu spielen. Die Spaltung Deutschlands war der Preis, der dafür zu zahlen war. Die Rechnung ging auf: bald konnten sich die Verursacher der Teilung als Verfechter ihrer Überwindung („Einheit in Freiheit“) profilieren, und die schwächere Seite mußte immer verbissenere
Anstrengungen unternehmen, ihre Bevölkerung davon überzeugen, daß sie die bessere war, und ihnen das Bleiben im Lande durch eine Mauer zwingend gestalten.

Was sich zeigte, als die Stunde der Wahrheit kam (ohne das die Wahrheit sich zu ihrer Stunde auffällig in den Vordergrund geschoben hätte), war, daß der Versuch der DDR, kapitalistische Verheißungen und Wertvorstellungen auf sozialistischem Wege zu verwirklichen, in der Bevölkerung ein Bewußtsein erzeugt hatte, das diese für allerhand Täuschung anfällig machte. Als sie („Leistung muß sich wieder lohnen“ = West-Losung; „Ich leiste was, ich leiste mir was“ = DDR-Losung) Leistungsbereitschaft zeigen wollten, wurden den Ostdeutschen die Betriebe dichtgemacht und sie auf die Straße gesetzt. Der Belagerungszustand an der Staatsgrenze West hat heute dem an der Staatsgrenze Ost Platz gemacht; die Reisefreiheit und die freie Wahl des Wohnortes (erinnert sich noch jemand an diese Forderung) erweisen sich als Größen, die in direkter Beziehung zum Geldbeutel stehen. Ohne Ortswechsel fanden sich viele Ostdeutsche auf einmal als Fremde wieder in einem Land, das sie noch so sehr als eigenes betrachtet hatten, als jetzt nachträglich enteignet und fremdbestimmt. (Ich denke z.B. an den Arbeiter, der mit eigenen Händen an einem Betriebsferienheim gebaut hat, das inzwischen als „herrenloses“ Volkseigentum einem Westhotelier geschenkt oder dem Verfall preisgegeben wurde.) Als eine Zwangsmaßnahme mußte es auch wirken, als die fünf “ Neuen Länder“ (was ist an diesen Ländern so neu?) in den Verteilerschlüssel für die Verarbeitung von Asylbewerbern einbezogen wurden. Weder gab es hierzu eine gründliche Vorbereitung der Bevölkerung, noch wurde etwas unternommen, um durch die Art der Unterbringung und begleitende Maßnahmen eine Integration der Immigranten und eine sinnvolle Kommunikation mit ihrem deutschen Umfeld zu gewährleisten. Die Art, wie die Regierung in Bonn handelte, legt die Vermutung nahe, sie habe von vornherein Mißtrauen und Feindschaft organisieren wollen und von den Ostdeutschen geradezu Hilfe zur Abschreckung unerwünschter Einwanderer erwartet. Während einerseits Asylrecht abgeschafft und gegen die „Ausländerflut“ gehetzt wurde, wurden jährlich „interkulturelle Wochen“ zelebriert und über die „multikulturelle Gesellschaft“ diskutiert. Menschenketten mit Prominenten und Sonntagsreden über Toleranz einerseits und Abschiebeknäste andererseits: eine Flut von sich widersprechenden Signalen, nach deren innerem Zusammenhang zu fragen den Menschen jedoch alles andere als leicht gemacht wurde.

5. „Die ideale Form der Ideologie dieses globalen Kapitalismus ist natürlich der Multikulturalismus, die Einstellung, die gewissermaßen aus einer leeren globalen Position heraus jede lokale Kultur so behandelt, wie der Kolonisator die Kolonisierten behandelt – als ,Eingeborene`, deren Sitten sorgsam studiert und ,respektiert` werden müssen. Das Verhältnis zwischen traditionell imperialistischer Kolonisierung und der globalen kapitalistischen Selbstkolonisierung ist also genau das gleiche wie das Verhältnis zwischen dem westlichen Kulturimperialismus und dem Multikulturalismus: Wie der globale Kapitalismus das Paradox der Kolonisierung ohne den kolonisierenden Nationalstaat beinhaltet, so beinhaltet der Multikulturalismus die herablassende eurozentrische Distanz und/oder den Respekt für lokale Kulturen ohne die Verankerung in einer bestimmten, eigenen Kultur. Der Multikulturalismus ist, anders gesagt, eine verleugnete, auf den Kopf gestellte, selbstbezügliche Form von Rassismus, ein ,Rassismus auf Distanz` – er ,respektiert` die Identität des Anderen, indem er den Anderen als eine in sich geschlossene, ,echte` Gemeinschaft begreift, der gegenüber er, der Multikulturalist, eine Distanz hält, die ihm seine privilegierte universelle Position ermöglicht. Der Multikulturalismus ist ein Rassismus, der seine eigene Positionen von allem positiven Gehalt entleert. Der Multikulturalismus ist kein direkter Rassismus, er hält dem Anderen nicht die besonderen Werte seiner eigenen Kultur entgegen, sie aber nichtsdestotrotz als privilegierte Leerstelle der Universalität aufrechterhält, aus der man besondere andere Kulturen erst richtig würdigen (und entwürdigen) kann – der multikulturalistische Respekt für die Besonderheit des Anderen ist die Form, in der die eigene Überlegenheit sich bestätigt.“ (Slavoj Zizek. Das Unbehagen im Multikulturalismus, Das Argument 224, 1-2, 1998 )

Multikulturalismus ist kein Internationalismus, heißt das. Das Engagement für Flüchtlinge und für Minderheiten kann das Engagement gegen den Kapitalismus und für eine sozialistische Gesellschaft (in weltweiter Dimension) nicht ersetzen.

Es gibt offensichtlich jedoch nicht nur einen immanenten Widerspruch des kapitalistischen Globalisierungsprozesses, demzufolge die weltweite Unterwerfung unter ein Regime mit seinen vielen Vernetzungen und Interaktionen neben allen möglichen zerstörerischen Wirkungen auch die möglicherweise erfreulichste besitzt, daß so auch der Widerstand globale Tendenzen annehmen und eine Alternative wirklich als Menschheitsprojekt gesucht werden kann. Vielmehr scheint ja gerade auch ein Teil der (ehemals) Linken gar nicht mehr so viel Wert auf diese letzteren Aspekte zu legen, sondern sich mit den angenehm-konsumistischen Seiten des Kapitalismus angefreundet zu haben, ohne noch an einer Änderung inter
essiert zu sein, die eher Angst vor Verlust bereitet. Wenn also jemand gegen „rechte“ Dumpfheit, Fremdenfeindlichkeit, usw. kämpft oder redet und sich dabei als Linker definiert – was meint er/sie damit wirklich? Verteidigt er/sie am Ende nur die „Segnung“ eines Weltzustandes, die er/sie selbst zu genießen in der Lage ist, gegen jene, von denen er/sie eine Bedrohung für den eigenen Status ausgehen spürt? Nimmt er/sie die Kolonisierung im eigenem Land vielleicht nur nicht wahr und entledigt sich der Pflicht, am Aufbau einer länderübergreifenden Solidarisierung der Kolonisierten mitzuarbeiten, dadurch, daß er/sie die sich (glücklicherweise) „rechts“ artikulierende Opposition einfach zum Nennwert nimmt, die Menschen, die sich da artikulierten, als „Rechte“ einordnet und im Schulterschluß gegen sie mit allen Demokraten für Toleranz und gegen „rechts“ Mahnwachen hält?

Die Frage ist doch wohl, warum Verunsicherte und Frustrierte, Unzufriedene und Wütende von den Formulierungsangeboten der Rechten Gebrauch machen. Doch wohl auch, weil sie keine „Linke“ sehen und weil das, was als „Linke“ in der Öffentlichkeit präsentiert wird, weder ein Bewußtsein der Probleme erkennen läßt, die und wie sie der „kleine Mann/die kleine Frau“ erfahren, noch glaubwürdige Alternativen zeigen und zum Kampf für diese Alternativen mobilisieren würde.

6. „Wir vermuten also, daß die heutzutage sich durchsetzende Problematik des Multikulturalismus (die hybride Koexistenz verschiedener kultureller Lebenswelten) die Erscheinungsform ihres Gegenteils ist, nämlich der massiven Präsenz des Kapitalismus als universellem Weltsystem. Sie bezeugt die beispiellose Homogenisierung der heutigen Welt. Tatsächlich ist es, als habe die kritische Energie in einer Zeit, wo der Gedanke an ein mögliches Ende des Kapitalismus den Horizont der sozialen Phantasie überschreitet – wo sozusagen jeder stillschweigend akzeptiert, daß der Kapitalismus bestehen bleibt – ein Ersatzventil im Kampf für die kulturellen Differenzen gefunden, der die grundlegende Homogenität des kapitalistischen Weltsystems intakt läßt. So kämpfen wir unsere politisch korrekten Kämpfe für das Recht der ethnischen Minderheiten, der Schwulen und Lesben oder abweichender Lebensstile etc. pp., während der Kapitalismus seinen Triumphzug fortsetzt.“ Zizek, ebenda

Als die traditionelle Linke immer tiefer in die Krise geriet, sah es für eine Weile so aus, als sollte sie von dem beerbt werden, was man „Neue soziale Bewegungen“ oder „Zivilgesellschaft“ nennt. Auch da gab es allerdings zwei konträre Tendenzen: Einmal gab es die Vorstellung, die Zeit der Utopien und radikaler Alternativen sein nun zu Ende und es komme darauf an, die bestehende kapitalistische Gesellschaftsordnung bürgerrechtlich zu zivilisieren und ökologisch zu bändigen. Zum anderen sah man in den neuen
Bewegungen, die ja oftmals inhaltlich punktuell ansetzten oder Anliegen von Minderheiten artikulierten, so etwas wie eine Keimzelle oder Bausteine für ein sich darin neu herausbildendes linkes Projekt mit einem weiter gesteckten Anspruch.

Sowohl die ökologische Krise, die spätestens seit den 70er Jahren Publizität erlangte, als auch die Frage des atomaren Wettrüstens, in dem das „sozialistische Lager“ seine wirtschaftliche Zukunft und seine Attraktivität als gesellschaftliche Alternative endgültig verspielte, trugen zur Delegitimierung der traditionellen Linken bei.

Der große Teil der Arbeiter- bzw. sozialistischen oder kommunistischen Bewegung hat seine Wurzeln in den Widersprüchen des Kernbereichs des Kapitalismus nie ausreichend problematisiert. Leider sind viele der Schriften von Marx, die seine differenzierte, undogmatische Sicht der Probleme zeigen, erst seit den 30er Jahren dieses Jahrhunderts an die Öffentlichkeit gelangt, haben also gerade für die Herausbildung und einen großen Teil der Geschichte einer sich auf Marx beziehenden linken Bewegung keine Bedeutung gehabt. So wenig es zu bestreiten ist, daß es in der Geschichte der Menschlichkeit bestimmte Tendenzen und Entwicklungslinien gibt, bestimmte „Fortschritte“ gemacht werden, bestimmte „Aufgaben“ in einer gegebenen geschichtlichen Situation stehen, so wenig war Marx von einem quasi mechanischen Determinismus des Geschichtsablaufs überzeugt, so wenig auch sah er die Geschichte als linearen Aufstieg vom Niederen zum Höheren, als einen fortlaufenden Fortschrittsprozeß. Bei ihm steht einer positiven Bewertung der Rolle des Kapitalismus, als einer Gesellschaft der Entfesselung gewaltiger Produktiv- und Emanzipationskräfte eine radikal negative gegenüber: als Klassengesellschaft mit ihren Funktionsmechanismen verwandelt der Kapitalismus die Produktivkräfte zwangsläufig in Destruktivkräfte, die Emanzipationspotentiale in Versklavungspotentiale.

Die Arbeiterbewegung hat sich, je stärker sie zahlenmäßig zunahm und je stärker sie in der Gesellschaft Präsenz zeigte und Einfluß gewann, eher mit dem Fortschrittsdenken des Bürgertums, mit dessen Wissenschafts- und Technikglauben linearem Geschichtsdenken verbündet, aus dem naturwissenschaftlichen Positivismus entstand, die „wissenschaftliche Weltanschauung“. Dem entsprach die Ein
bindung der linken Bewegung in bürgerliche Parteistrukturen und die Demokratie, ihre Wendung zum Reformismus, zu Sozialpartnerschaft und ihre Beteiligung am nationalen Projekt des Imperialismus (der „Sündenfall“ von 1914).

Zwangsläufig muß eine Linke, die sich derart tief in das kapitalistische Projekt verstrickt hat, und deren „realsozialistischer“ Flügel ja ebenfalls keine bleibende Alternative dazu darstellte, sondern eine Gesellschaft der nachholenden Industrialisierung auf staatskapitalistischer Grundlage war, mit in die Krise geraten, wo sich abzeichnet, daß der Kapitalismus durch die technologische Entwicklung und die Verwandlung der ganzen Welt in einen Markt selbst an eine innere Grenze stößt.

Wir stehen heute an einem Punkt, an dem zwar fast alles machbar ist – nur eben für wen und für welchen Preis und mit welchen Folgen, für die dann wer aufkommt? Die „Grenzen des Wachstums“ erreichen endgültig den Geldbeutel eines jeden, und damit die realen Lebenschancen.

Es wird deutlich, daß der Markt keine Menschen auf Dauer in eine Gesellschaft integrieren kann. Wenn ihm einmal alles zum Fraß vorgeworfen worden ist, was Menschen bisher zusammengeführt und -gehalten und ihrem Leben miteinander Sinn und Form gegeben hat, bleibt nichts sonst übrig, schon gar nicht für die Verlierer des Marktgeschehens. Sie haben die Wahl zwischen Selbstzerstörung oder Abgeräumt-werden.

Eben an dieser Stelle aber erhebt sich noch einmal die Frage. Sollen wir auf eine bunte Vielfalt der Minderheiten im zivilgesellschaftlich-demokratisierten Kapitalismus setzen oder auf Klassenkampf, d.h. einen Kampf, der auf breiter Front und mit -notwendig!- weiter gesteckten Zielen stattzufinden hätte. Aber wo findet sich denn nun das Subjekt für ein solches Unternehmen mit längerem Atem und höherem Anspruch? Nicht mit neu zu erfindenden Menschen sind Veränderungen zu erkämpfen, sondern mit den existierenden (die sich ändern können und werden, wenn sie beginnen, etwas ändern zu wollen). Und da sind wir wieder bei jenen, die ihre Unzufriedenheit, ihren Frust, ihr Unglück (und das muß nicht nur materielle Bettelarmut sein!), ihre Ängste leider nicht nur politisch korrekt artikulieren – und denen wir dabei natürlich nach Kräften widersprechen und entgegentreten müssen, um sie aber im nächsten Augenblick ernster zu nehmen, als sie sich selbst nehmen.

„Auf streng homologe Weise funktioniert die gegenwärtige, politisch korrekte` liberale Haltung, die sich (als ,in Weltbürgertum` ohne Verankerung in einer besonderen Gemeinschaft) die Beschränkung ihrer ethnischen Identität überwinden sieht, in ihrer eigenen Gesellschaft als ein enger, elitärer Kreis von Leuten aus der oberen Mittelschicht – im deutlichen Gegensatz zur Mehrheit der gemeinen Menschen, auf die man herabsieht, weil sie in den engen Grenzen ihrer Ethnie oder Gemeinschaft gefangen sind.“ (Zizek, ebenda)

Aus diesem Kreis müssen wir heraus. Die Vielfalt der Kämpfe der Minderheiten und für sie, der Kämpfe für oder gegen bestimmte lokale oder aktuelle punktuelle Anliegen, darf nicht die Frage nach den ökonomischen und politischen Machtverhältnissen insgesamt und nach Alternativen zum Verschwinden bringen.

„Die Sphäre der Vielfältigkeit besonderer Kämpfe mit ihren fortwährenden Verdichtungen und Verschiebungen wird gerade durch die ,Verdrängung` der Schlüsselrolle des ökonomischen Kampfes aufrechterhalten – die linke Politik der ,Äquivalenzenketten` in der Pluralität der Kämpfe ist das genaue Gegenstück zur stillschweigenden Preisgabe der Analyse des Kapitalismus als eines globalen ökonomischen Systems und zur Hinnahme seiner ökonomischen Verhältnisse als einem hinterfragbaren Rahmen.“ (Zizek, ebenda)

Aus den besonderen Kämpfen hätte sich vielmehr ein Subjekt tiefgreifender Veränderungen zu entwickeln. Gegen die Gleichschaltung unter dem Diktat des Profits ist ein neuer Universalismus zu stellen, der in Lage ist, die wesentlichen Unterschiede zwischen Ausbeutern und ihren Opfern zu artikulieren.

„Es ist deshalb kein Mehr an Toleranz, an Mitgefühl und multikulturellem Verständnis nötig, sondern die Wiederkehr des eigentlichen Politischen, d.h. die Rehabilitierung der Dimension des Antagonismus, der die Allgemeinheit keineswegs negiert, sondern ihr gleichkommt. Darin liegt das entscheidende Element der wirklichen linken Haltung gegenüber der rechten Bejahung der je besonderen Identität: in der Gleichsetzung des Universalismus mit der militanten, trennenden Position dessen, der sich im Kampf befindet. Die wirklichen Universalisten sind nicht diejenigen, die das weltweite Tolerieren von Unterschieden und die allumfassende Einheit predigen, sondern die, die sich im leidenschaftlichen Kampf für die Wahrheit engagieren, die ihnen am Herz liegt.“ (Zizek, ebenda)

7. Kommen wir jedoch noch einmal auf die Krise der traditionellen Linken zurück. Wir hatten ihre enge Beziehung zum Kapitalismus als ihrem Nährboden und ihrem Aktionsrahmen, zunehmend auch ihres „Partners“ schon als einen Grund für ihren Bedeutungsverlust bzw. ihre Kapitulation benannt. Das Auftauchen der Neuen sozialen Bewegungen erklärt sich ja gerade auch daraus, daß deren Anliegen (gerade da, wo sie legitim waren) nicht in die Programme und die Praxis der traditionellen Linken integrierbar schienen. Diese schien auch wo sie noch ernsthaft etwas verändern und sogar eine neue Gesellschaft schaffen wollte, in ihren Zielen und Wünschen, in ihren Strukturen und Methoden,
immer noch so stark in Bestehendem (Industrialismus, Fortschritt, usw.) verhaftet, daß sie gerade für jene, die ein tieferes Verständnis der über uns hereinbrechenden Probleme (z.B. der ökologischen) gewonnen hatten, nicht attraktiv und glaubwürdig war.

Es ist also mit einer Entscheidung für einen Kampf auf breitester Front und mit weiter gesteckten Zielen gerade keine Entscheidung gegen die Minderheiten und gegen die sozialen Bewegungen an sich getroffen. Denn in der Tat besitzen wir gegenwärtig weder schon ein Subjekt, das die gewünschten Veränderungen mit einiger Aussicht auf Erfolg anschieben könnte, noch eine genaue Vorstellung davon, wohin die Reise gehen soll. Insofern muß mit denen und bei denen begonnen werden, die heute schon ihr Ungenügen artikulieren und sich in Bewegung setzen.

Wechseln wir die Perspektive. In erdgeschichtlichen Dimensionen ist die bisherige Geschichte der Menschheit sehr kurz. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, müßte sie ihre längste Zeit noch vor sich haben. Finden wir ein Leben als Menschen auf diesem Planeten sinnvoll, erfreulich, der Mühe wert, schön und gut? Selbst wenn wir es nicht täten, hätten wir kein Recht, andere daran zu hindern, sich ihres Lebens zu freuen. Wenn es aber dafür in Zukunft Raum geben soll, dann müssen wir von Vorstellungen eines quantitativen Wachstums und linearen Fortschreitens Abschied nehmen.

Das Ziel muß eine über längere Zeit überlebensfähige Gesellschaft sein, die stabil genug ist, um einen Rahmen für das Leben der Menschen zu liefern, aber auch flexibel genug, um mit möglichst vielen Herausforderungen fertig zu werden. Es geht nicht einfach darum, alle „Fortschritte“ wieder rückgängig zu machen, sondern darum, Kriterien zu entwickeln dafür, was wir wo, wofür, wozu brauchen und nutzen wollen und welche Lösungen für die Probleme unseres Lebens sinnvoll sind. Wirtschaft muß wieder ein Teil des Lebens der Gesellschaft sein, nicht ihr Alles, dem sich das übrige einzufügen hat, nur ihr Teil zu werden. Neue Strukturen müssen von „unten“ entstehen. Statt alles einem „Weltmarkt“ zu unterwerfen, werden Kreisläufe unterschiedlichster Reichweiten entwickelt werden: lokal, regional…in ausgewählten Bereichen auch global. Eine Rückgewinnung von Gemeinschaften wirklicher Menschen, die miteinander arbeiten und leben, als primärer Bezugsgrößen für unser Handeln wird mit einer Rückeroberung menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten und einer Neubestimmung unserer Wünsche und „Bedürfnisse“ Hand in Hand gehen, müssen und können.

Wenn diese Annahmen stimmen, dann wird es nötig sein, eine neue Form von Gesellschaft praktisch und theoretisch zu erfinden, die auch auf vieles zurückgreift, was der Kapitalismus nieder gewalzt hat. Es wird keine einförmige und gleichgeschaltete Gesellschaft sein, sondern eine Plurale. Allerdings werden wir fast alle die Konzepte und „Wertvorstellungen“ mit denen sich die bisherige Gesellschaft so erfolgreich über sich selbst betrogen hat, wegwerfen müssen.

„Engels sagt…:`Nicht zu vergessen, daß das recht ebenso wenig eine eigene Geschichte hat, wie die Religion.`Was von diesen beiden gilt, das gilt erst recht, auf eine entscheidende Weise, von der Kultur. Die Daseinsform der klassenlosen Gesellschaft uns nah dem Bilde der Kulturmenschheit zu denken, wäre widersinnig“ (Walter Benjamin).

Die Frage ist also: Welche unserer Vorstellungen, Gewohnheiten, Wünsche, Ziele, Ansprüche lassen sich nur realisieren, wenn die
gegenwärtigen, von uns als im Kern als verderblich erkannten, Zustände noch weitergeschleppt werden? Ich meine: eine Gesellschaft, in der die Veränderung stattfinden oder stattgefunden haben, die wir für notwendig und erstrebenswert halten (sollten), wird einen anderen Menschentyp (und nicht nur einen!) hervorbringen, Menschen die sich von jenen unterscheiden müssen, die wir selbst heute noch (mehr oder weniger gern) sind, sein möchten oder zu sein vorgeben. Dabei werden wir vermutlich auch auf sehr altmodische und von der traditionellen Linken zu ihrem eigenem Schaden leider übersehene Fragen stoßen, die sich m.E. jedoch hinter vielen verstecken, was sich gelegentlich pseudopolitisch ausgedrückt und eben auch in den Rechten rumort. Da ist z.B. das Problem der Zugehörigkeit (manche sprechen von Identität, was nicht ganz das gleiche ist und für mich eine problematische Bezeichnung).

Menschen müssen irgendwo zugehören. Welche Möglichkeiten (auch mehrere komplementäre) gibt es dafür jenseits von Kleinfamilienidylle im eigenem Häuschen und „Volksgemeinschaft“? Wie können Zugehörigkeit solidarisch und kooperativ über den eigenen Tellerrand hinaus ausgeweitet werden? Wie kann Regionalismus, kultureller, sozialer, lokaler Widerstand der kleinen Gruppen, Gemeinden, „Stämme“ zum „internationalistischen“ Netzwerk für eine geschwisterliche Welt werden? Wie kann daraus ein neues Subjekt von grundlegenden Veränderungen werden? Vor Jahren-als ich noch DDR-Bürger war- diskutierte ich einmal im Souterrain einer WG in Frankfurt/M mit einem jungen Mann aus Argentinien, religiöser Sohn jüdischer Eltern mit einem sehr berühmten Namen, die vor den Nazis über den Atlantik geflohen waren. Er sagte damals einen Satz, den ich noch heute für bedeutenswert halte: „Vielleicht ist die Frage nach einer gerechten oder guten Gesellschaft eigentlich eine religiöse Frage“. Hier aber verschärft sich noch einmal unsere Fragestellung: Muß unter den Menschen, die auf der Suche nach einer anderen Gesellschaft sind (weil eine solche andere Gesellschaft zur Überlebensbedingung geworden ist), muß dann in einer solchen Gesellschaft selbst nicht mit einigen sehr menschlichen Problemen produktiv und kreativ umgegangen werden? Ich denke dabei etwa an das Bedürfnis nach Anerkennung, nach Akzeptanz und Achtung, oder an die Last von Schuld und die sich aus scheinbar unvereinbaren Ansprüchen ergebende Unüberwindlichkeit von Konflikten; oder alle die Folgen die sich aus unserer Begrenztheit und Sterblichkeit ergeben, nicht zuletzt auch die Vielfalt im Gelingen und Scheitern der Beziehungen der Geschlechter und der Generation.

Kürzlich im Krankenhaus sah ich gelegentlich, ohne Ton, mit, was mein Bettnachbar im Fernsehen anschaute: westdeutsche Filme aus den 50ern. Vor der `68 Generation- und vielleicht mehr deren Vorspiel und Voraussetzung, als uns lieb ist- gab es die Wirtschaftswunderkinder. Muntere junge Gymnasiasten, die sich mit List und Frechheit gegen die verstaubte Moral und autoritäre Verklemmtheit ihrer alten Pauker auflehnten. Jugend, Freiheit, Aufmüpfigkeit- aber in Wirklichkeit ging es darum, nach der Aufbauphase mit dem eng geschnallten Gürtel nun den
Konsum anzukurbeln, und dazu braucht es ein neues Lebensgefühl, eine neue Ideologie.

Wir sind heute gefragt, eine andere Kultur zu entwickeln. Wir sind dabei nicht die einzigen und nicht die ersten, die daran arbeiten. Wir können, jenseits von Elitedenken an vieles anknüpfen, was bei den Leuten rings um uns-trotz allem- vorhanden ist. Lesen wir manche Äußerungen, die uns nicht gefallen, AUCH als Signal, das die Brüchigkeit von Verhältnissen anzeigt, die wir so auch nicht mehr wollen, und das Bedürfnis nach Änderung, nach einem befriedigenden und erfüllenden Leben. Verteidigen wir nicht die falschen Dinge, das, woran wir selbst nicht mehr glauben!

Ein neues emanzipatorisches Projekt muß mehr im Blick haben, als wir es meist hatten. Wir dürfen aus lauter Blindheit, Denkfaulheit und Trägheit die vielen unsicheren Menschen nicht in die alten tödlichen Sackgassen rennen lassen, und vor allem: selbst nicht hineinlaufen.

Mag auch der Geist einiger noch nicht aus dem Labyrinth des Kalten Krieges herausgefunden haben, so gilt doch inzwischen: Kein Mißstand, keine Katastrophe kann mehr mit dem Ost-West-Konflikt entschuldigt werden; an keine Kritik paßt mehr die Aufforderung „Geh doch rüber“ oder die Anklage, im Dienste des Feindes zu stehen. Insofern sind die Verhältnisse heute klarer; es kann ohne Umschweife und Rückversicherung zur Sache gehen.

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