Historische und aktuelle Entstehungsbedingungen für rechte Bewegungen im Osten
Malte Daniljuk & Andrej Holm
(Aus telegraph 3/4 1998)
Seit geraumer Zeit verging kaum ein Tag, an dem wir keine neue Horrormeldungen von marschierenden Nazis, prügelnden Ausländerfeinden oder irgendwelchen anderen Formen der völkischen Ausgelassenheit im Osten des Landes hören konnten. Reportagen von mutigen Journalisten, die sich bis nach Rathenow und Luckenwalde, Dranske und Marzahn wagten, brachten uns die schaurigen Geschichten des Braunen Ostens auf die Mattscheiben und in die Zeitungsspalten. Es scheint die einzig legitime und akzeptierte Wahrnehmung vom Leben in den ostdeutschen Provinzen geworden zu sein, rechtsradikale Bewegungsbilder zu spiegeln. Soziale Verelendung, industrielle Verödung und die finanzielle Handlungsunfähigkeit der Kommunen ist in der Regel nur noch ein abgeleitetes Thema der Berichterstattung. Der Osten: Nazis statt Armut. Die seltenen Versuche von Erklärung bleiben meist in der sozialpädagogischen Verkürzung von Arbeitslosigkeit, Zukunftsangst und Anfälligkeiten für rechtsradikale Haltungen verhaftet, verweisen im Oberlehrerton der westdeutschen Mittelklasse auf die fehlende Erfahrung der Ostdeutschen mit den humanistischen Werten der bürgerlichen Demokratie oder stellen sich naiver DDR-Verteidigung schützend und behütend vor unsere Kinder. Eine tatsächliche politische Analyse von rechter Jugendbewegung, die ja zugleich eine Untersuchung der gesellschaftlichen Verhältnisse sein muß, die diese hervorbringt, blieb bisher aus.
Der folgende Text versucht daher, sich den Phänomenen rechtsradikaler Bewegung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR von verschiedenen Richtungen zu nähern. Zunächst soll versucht werden, die tatsächlichen Veränderungen von Werthaltungen und politischen Positionen in Ostdeutschland zu beschreiben. In einem zweiten Schritt werden historische Erklärungen für die erstarkte rechte Bewegung gesucht und am Ende werden aktuelle Entstehungsbedingungen und ihre Wahrnehmung in der westdeutschen Öffentlichkeit diskutiert.
1. Rechtsextremer Wertewandel in Ostdeutschland – Die Einheit ist vollzogen
Der Anstieg von rechtsextremen Straftaten in Ostdeutschland und auch die Verankerung von fremdenfeindlichen Werten in großen Teilen der Bevölkerung ist wohl unumstritten. Immer wieder wurden Zahlen von Umfragen präsentiert, die je nach Art der Umfrage und Auswahl der Untersuchten bei 10-30% der Befragten fremdenfeindliche Überzeugungen ausmachten. Soziologen debattierten bereits seit 1992 über einen spezifischen ostdeutschen Rechtsextremismus. Der „Bildungsforscher“ Detlef Oesterreich von der Berliner Max-Plank-Gesellschaft eröffnete damals den Reigen der immer beliebter werdenden „Ossi-These“ mit seinem Aufsatz „Leben die häßlichen Deutschen im Osten“. Dabei kam er selbst in seiner Untersuchung unter Ost- und Westberliner Jugendlichen zu etwa gleich verteilten Anteilen von rechtsextremistischen Tendenzen: 31,5% im Osten und 30,4% im Westen. Auch andere Studien können bei Einstellungsfragen nur geringe Unterschiede feststellen. Dr. Wilfried Schubarth aus Dresden kommt zu dem Schluß: „Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit sind keine spezifisch ostdeutschen Phänomene“. Was also fremdenfeindliche und rechtsextreme Grundorientierungen angeht, ist es in der DDR im Gegensatz zu den meisten anderen politischen Einstellungen (z.B. Akzeptanz des politischen Systems, soziale Sicherheit, Ökologie etc.) zu einer Normalisierung auf westdeutsches Niveau gekommen.
Unterschieden werden von dieser Angleichung muß die Entwicklung von fremdenfeindlichen Straftaten. Waren es in der BRD bis 1990 jährlich etwa 250, so stieg diese Zahl in Ost- und Westdeutschland 1991 auf 2.427 und 1992 auf 6.336 (alle Zahlen vom Bundeskriminalamt). Der größte Teil von diesen Straftaten konzentrierte sich mit über 5.000 auf den Westen. Pro Kopf gerechnet jedoch war der Anteil in Ostdeutschland höher. Nach 1993 sind die Zahlen der amtlich festgestellten Straf- und Gewalttaten deutlich zurückgegangen. Erst 1997 gab es wieder einen kleinen Anstieg.
Innerhalb von rechten Weltbildern überwiegen im Osten ausländerfeindliche und im Westen revanchistische Werte. Nazis können im Osten auf eine höhere Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber ihrer praktischen Politik rechnen – im Westen stehen ihre ideologischen Grundmuster höher im Kurs. So äußerten im Osten bezüglich ausländerfeindlicher Pogrome 15% der Befragten „Verständnis für die Leute, die solche Anschläge verüben“. Im Westen hingegen hatten 14% „eine gute Meinung“ über Hitler.
Rechtsextreme Bewegungen in Ostdeutschland haben zahlenmäßig (Anhänger, Sympathisanten und potentielle Wähler) schon Anfang der Neunziger Jahre Westniveau erreicht. Unterschiedlich jedoch sind die Bewegungsmuster und Motive von rechten Mobilisierungen. Stärker auf konkrete politische und lokale Bedingungen ausgerichtet, stehen wesentlich häufiger gewalttätige Aktionen im Vordergrund als im Westen.
Ost- und westdeutsche faschistische Bewegungen offenbaren also eine ganze Reihe von Unterschieden. Warum sich eine rechte Bewegung im Osten so deutlich entwickeln konnte und warum sie so ist, wie sie ist, muß in seinen historischen und aktuellen Bedingungen untersucht werden. Dabei muß sowohl auf die Erfahrungen aus der DDR, als auch auf die Folgen der kolonialen Situation in Ostdeutschland eingegangen werden.
2. Nazis im Osten – Erbe der DDR?
Das „Zentrum Demokratische Kultur“ veröffentlichte Anfang des Jahres eine Studie zu Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern. Bernd Wagner – Autor der Studie – hat sich in den letzten Jahren zu einem der kenntnisreichsten und bekanntesten Experten in Sachen Rechtsextremismus in DDR und Ostdeutschland entwickelt. Neben seinen Analysen, wie so eine rechte Bewegung organisiert ist, welche Motive einzelne Akteure treibt und warum eine rechte soziale Bewegung im Osten so erfolgreich ist, beschäftigt er sich mit der „historischen Entwicklung von Skinhead-, Hooligan- und Fascho-Scenen in der DDR“. Die „kollektive Annäherung an die rechtsextremen Ideen“ waren, so Wagner „geprägt durch die Erfahrungen in der DDR, die von Autorität, Vormundschaftlichkeit und Konformität bestimmt waren“. Auf diesem Boden haben sich bereits zu DDR-Zeiten die ersten faschistischen Gruppen herausgebildet. Vor allem die „entindividualisierte Unterwerfung des einzelnen unter die Gruppe“ ist ein Grund, warum sich „auch heute wieder Jugendliche in streng hierarchischen, bestimmte Normvorgaben setzende Gruppen zusammenfinden“ würden. Die „völkischen Stimmungen gegen Ausländer, die sich heute in ostdeutschen Kommunen offen und brutal artikulieren“ sind folgerichtig „keineswegs lediglich einer spezifischen Wendeproblematik geschuldet“. Mit der Konzentration auf die historische Genese von rechter Bewegung führt Wagner das Entstehen einer rechten Jugendbewegung in Ostdeutschland auf die DDR, ihr Bildungssystem und ihre staatlich vermittelten Werte zurück.
Diese historischen Reduktionen auf den Zeitabschnitt DDR greifen jedoch zu kurz und stehen einer Analyse eher im Wege. Zum einen können sie nicht erklären, warum die DDR gerade bei der Ausprägung von so genannten deutschen Sekundärtugenden (Ordnung und Disziplin) langfristige Glaubwürdigkeit haben soll, zum anderen klammern sie konsequent die aktuellen Entstehungsbedingungen von Nazis aus.
Deutlich ist, daß die DDR es nicht geschafft hat, rassistische und damit auch nationalsozialistische Geisteshaltungen endgültig aus der Gesellschaft zu verbannen. Jede Kritik daran, speziell in diesem Heft, wird jedoch vorbehaltlich der unbestrittenen Leistungen formuliert, die in der DDR auf dem Gebiet des Antifaschismus vollbracht wurden. Das heißt die Enteignung der industriellen und landwirtschaftlichen Stützen des Nationalsozialismus, die akribische Verfolgung der NS-Verbrecher, die Entwicklung einer breiten antifaschistischen Kultur und schließlich die konsequente
Unterdrückung neonazistischer Ansätze waren eine Normalität, in deren Gegensatz sich die BRD befand und befindet.
Kritik bezieht sich auf die Unvollständigkeit, sie wird also nicht gegen eine, sondern trotz einer grundsätzlich positiven Einstellung zum Antifaschismus in der DDR formuliert und weist sowohl auf die Ausnahmen hin, die es in der DDR von den obengenannten Punkten gab, als auch auf die sozio-ökonomische Begrenztheit dieses Antifaschismus.
Diese lag hauptsächlich in der schematischen Sicht auf den angeblich objektiven, hauptsächlich wirtschaftlichen Hintergrund des Nationalsozialismus. Dahinterstehende Wertemodelle, seine ideologische Kompatibilität zur Ideologie der Unterklassen, blieb von der Analyse, also auch von der antifaschistischen Politik vor 1933 und nach 1945 unberührt.
Die KPD/KOMINTERN wollte vor 1933 den Erfolg der Nazis innerhalb der Mehrheit der Bevölkerung nicht zur Kenntnis nehmen, weil sie selber befangen war in einem deterministischen Modell, nachdem die proletarische Revolution kurz bevorstand. Die Basis, die der NS auch unter den Unterklassen gewonnen hatte, wirkte sich jedoch dahingehend aus, daß die KPD vor, aber noch stärker nach, 1945 selber stark nationalistisch und zum Teil antisemitisch argumentierte.
Eine analytische Annäherung an die subjektiven und mentalen Grundlagen des Nationalsozialismus, die Voraussetzung für eine tiefgreifende gesellschaftliche Auseinandersetzung gewesen wäre und eine selbstkritische Auseinandersetzung um das eigene Bild von der deutschen Arbeiterklasse, als auch um die eigenen Wertevorstellungen innerhalb der Partei vorausgesetzt hätte, fand jedoch nicht statt.
Die Entnazifizierung, die den Rahmen für eine solche mentale Umwälzung hätte stellen müssen, blieb befangen in der aufklärerischen Vermittlung der imperialistischen Interessen und der NS-Verbrechen – und wurde darüber hinaus zugunsten des Wiederaufbaus sehr früh abgebrochen: „Strengste Bestrafung der Nazi-Verbrecher, Gerechte Sühnemaßnahmen gegen die aktivistischen Nazis, Weg der Eingliederung der Zwangs-PG´s in die demokratische Gemeinschaft.“ hieß es im Oktober 1945 in der Resolution der Einheitsfront der Parteien in der SBZ.
Die Summe der Wertevorstellungen des Nationalsozialismus stellte die Basis von strukturellem Konservatismus, die nach dem Krieg im wesentlichen unangetastet blieb.
Für die Geschichte des Rassismus ist neben den aus der Romantik kommenden Werte- und Schönheitsidealen und dem modernen Nationalismus vor allem die Arbeitsmoral als derjenige Bereich interessant, der sich aus dem Nationalsozialismus in den verschiedenen Bereichen der DDR-Gesellschaft fortsetzte. Dieses Wertesystem der Fabrik, galt ungebrochen sowohl in der aus dem Nationalsozialismus kommenden Arbeiterklasse, als auch in der Partei selber.
Für Deutschland war der NS der Prototyp des fordistischen Gesellschaftsideals, das heißt die Entwicklung nationalen Wohlstands auf der Basis einer korporierten, qualifizierten Industriearbeiterschaft und des Mittelstandes. Er war der historische Punkt, an dem eine Modernisierung (für die NS-Kriegswirtschaft) geschaffen wurde, mit der sich die Bevölkerung identifizierte. Dazu gehörte die Vollbeschäftigung, eine stabile Versorgungslage bis Kriegsende, die Einführung zentraler Wirtschaftsorganisation, der Bevölkerungspolitik, Melderegister … Diese Modernisierung bestimmte und bediente eine Mentalität (verstanden als
Werte und Vorstellungen die auf ihre Stellung im Produktionsprozeß, im Staatsapparat sowie der familiären Situation fußten), in der die Moral eng mit den Werten des NS-System korrespondierte. Ihr Ausdruck ist eine kompensatorische Arbeitsmoral, die die deutschen Sekundärtugenden – Sauberkeit, Ordnung, Pünktlichkeit, Selbstbeherrschung, Pflicht und Arbeitsehre, Respekt vor der Organisation/Rationalität, Identifizierung mit dem Arbeitsplatz – in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Identität stellte. Diese Moralvorstellungen sind sowohl vom Arbeitsprozeß erzwungen und bieten gleichzeitig vermeintlich positive Werte zur Selbstidentifikation. Ihre Funktion zur Selbstaufwertung verläuft über die systematische, rassistische Abwertung anderer. Wer den DDR-Alltag in der Produktion kennengelernt hat, wird ausreichend Beispiele für den klassischen Vorbehalt des deutschen Arbeiters, – seinen Stolz auf die eigene Qualitätsarbeit, während andere als die gesehen werden, die nicht arbeiten können – kennengelernt haben. In der DDR äußerten sie sich im wesentlichen in einem explizit antislawischen Rassismus, der sich speziell gegen „Polen“ und „Russen“ richtete. Ein anderer gesellschaftlicher Bereich in dem die Kontinuität rassistischer Ideologie, unabhängig von der offiziellen Ideologie, deutlich erfahrbar war, sind die bewaffneten Organe, speziell die NVA gewesen, wo auf unterschiedlichen Rangebenen, das Zelebrieren von Wehrmachtstraditionen inoffizielle Normalität war.
Die Differenz mit dem System DDR entstand, zumindest was die deutsche/fordistische Arbeitsmoral betrifft, aus der Nichterfüllung gemeinsam vertretener Werte durch die Partei- und Staatsführung. Klassisches Beispiel ist die Unzufriedenheit der Facharbeiter über die tatsächlich schlechte Arbeitsorganisation, die sich in der Feststellung „Hier geht´s ja zu wie bei den Russen“ äußerte. Ähnliches ließ sich auch für den, an den Maßstäben des „Originals“ lächerlichen Versuch eines DDR-Nationalismus feststellen, oder für die, aus antiimperialistischer Sicht möglicherweise gerechtfertigte, Kritik an der Politik Israels, die im nationalsozialistischen Bevölkerungskontinuum antisemitische Vorbehalte bedienen mußte.
Die Nichtauseinandersetzung mit diesem strukturellen Konservatismus als einem Teil von DDR-Realität bewirkt bis heute die Handlungsunfähigkeit der in dieser Tradition stehenden Linken, z.B. der PDS, gegenüber Neonazis. Das fehlende kritische Bewußtsein im Bezug auf rassistische Normsetzungen und Wertemodelle reicht so bis in die Gegenwart.
Wenn die DDR, als System, in die Verantwortung für die ostdeutschen Jungfaschisten genommen werden soll – und es ist sicher nicht falsch, daß auch zu tun – so vor allem indirekt als Erklärung für das unsichere und feige Verhalten der gesellschaftlichen Mehrheit. War es doch üblich, Angriffe von z.T. organisierten Faschisten auf Punks und Ausländer in der Öffentlichkeit zu verschweigen oder als „Rowdytum“ zu verharmlosen, obwohl die Formen der staatlichen Verfolgung und Bestrafung nicht zimperlich ausfielen. Der offizielle Antifaschismus schloß somit faschistische Reorganisierungen aus und versperrte gleichzeitig die Möglichkeit einer breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung, obwohl ja gerade eine konsequente und auch öffentliche staatliche Vorgehensweise die Akzeptanz der Partei möglicherweise noch einmal hätte festigen können. Die Aufdeckung von faschistischer Gewalt und auch die politische Auseinandersetzung mit Nazis in der DDR wurde einer dissidentischen Gegenöffentlichkeit und einer kleinen, z.T. verfolgten Subkultur überlassen. Daran hat sich bis heute wenig geändert – eine gesellschaftlich übergreifende Bewegung ge
gen Nazis – wie auch zu anderen Themen – ist in Ostdeutschland nicht entstanden.
Eng verknüpft mit der antifaschistisch nicht qualifizierten Öffentlichkeit muß der staatlich repressive Charakter des offiziellen Antifaschismus in der DDR gesehen werden. Die Nomenklatura des Landes bestand in ihrer Mehrheit bis zum Ende aus Kämpfern gegen und Opfern des Faschismus. Nach dem Krieg war es einerseits Konsens, eine Gesellschaft als „antifaschistische“ aufzubauen, zum anderen gab es das sicher nicht unberechtigte Mißtrauen „Hitlers willigen Vollstreckern“ gegenüber, die ja die breite Mehrheit der neuen Gesellschaft stellten. Der Antifaschismus der DDR war deshalb immer Repression und zumindest (nur) auf der Erscheinungsebene erfolgreich. Erst mit dem ordnungspolitischen Vakuum, welches sich in den achtziger Jahren entwickelte, konnten sich rechtsextreme Organisationen breiter entwickeln und öffentlich auftreten.
Das Erbe der DDR in Bezug auf eine entstehende rechte Jugendbewegung muß also einerseits auf das hilflose und naiv-unbeteiligte Verhalten gesellschaftlicher Mehrheiten bezogen werden, und andererseits auf die „untergründige“, tradierte Existenz eines strukturellen Konservatismus. In zweiter Linie begünstigte die wegfallende Repression das Entstehen von faschistischen Organisationen.
Bereits im Januar 1990 wurde von der Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front (GdNF) ein „gesamtdeutscher Aufbauplan“ verabschiedet. Die in den Osten entsendeten Kader – meist ehemalige Gefangene, die aus den Knästen der DDR freigekauft wurden – begannen in den verschiedenen Regionen ein Netzwerk von Organisationen aufzubauen. Bis heute erweisen sich diese flexiblen Zellenstrukturen als handlungsfähig, vor allem weil sie sich den wechselnden Verbotslagen faschistischer Parteien anpassen können und trotzdem relativ stabile lokale Kerne (autonome Kameradschaften) herausgebildet haben.
3. Koloniale Situation – aktuelle Entstehungsbedingung für rechte Bewegung
Neben den beschriebenen und historisch begründeten günstigen Rahmenbedingungen für die Entwicklung einer rechten Jugendbewegung muß eine gesellschaftliche Erklärung vor allem nach den Ursachen in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität fragen. Diese sind wesentlich in den Bedingungen und den Folgen des Anschluß zu finden.
Die erfahrene Entwertung individuellen Selbstbewußtseins in fast allen Lebensbereichen sowie die gleichzeitige Zerstörung der kollektiven Strukturen einer ganzen Gesellschaft führt notwendigerweise zu Reaktionen der Betroffenen, die sowohl ihre augenblickliche Situation verbessern wollen als auch ein Trauma zu bewältigen haben und sich selbst gegenüber Erklärungen für die eigene mißliche Lage finden müssen. Eine unreflektierte Flucht in die einfache Negation – also den eigenen Wert in einer kollektiven Überlegenheitstheorie aufzuwerten – erscheint vor allem angesichts fehlender Alternativen für einfache Gemüter nahezu zwingend. Sie ist nach Fanon neben dem Selbsthass der naheliegendste Reflex von Kolonisierten. Die Verlusterfahrung der eigenen Biografie (z.B. des Arbeitsplatzes, der Qualifikation etc.), des gesellschaftlichen Wertesystems und auch materieller Sicherheiten wird dabei durch die Flucht in eine imaginierte Realität kompensiert. Im konkreten Fall Ostdeutschland wird dabei vor allem auf den über die DDR hinüber geretteten Wertekanon der fordistischen Arbeitsgesellschaft (s.o.) rekuriert. Denn er bestimmte nicht nur die historisch
ungebrochen Vorstellungen ganzer Generationen, sondern kann zugleich die erfahrenen Verluste (vor allem die ökonomische und soziale Marginalisierung) in einfacher Weise abbilden. Das fordistische Versprechen von Arbeit und Konsum sind für viele also Osten genug, um darauf zurückgreifen zu können und zugleich ausreichendes Idealbild, um eine Vorstellung von einem besseren Leben daraus zu entwickeln. Dieser Bezug auf eine Wertvorstellung ohne Basis (es gibt in Ostdeutschland keine materielle Grundlage für einen industriellen Wohlstand mehr) jedoch wird zum Ausgangspunkt einer hilflosen und zum Teil aggressiven Formulierung einer normativer Selbstsetzung.
Seit der Übernahme der staatlichen und Herrschaftskompetenz durch die BRD sympathisieren große Teile der ostdeutschen Bevölkerung mit der „Wiedervereinigung“, obwohl doch gerade diese zu ihrer Krise geführt hat. Diese „Verbrüderung“ mit den Besatzern blockiert einen politischen Konflikt der massenhaft wahrgenommenen Unzufriedenheit. Statt Machtverhältnisse zu benennen, wird das Konstrukt von „Deutschland“ aufrechterhalten, zu dem sich der braune Mob auch gewaltsam Zutritt verschaffen will. Verstärkt wird diese Tendenz dadurch, daß die Kommuni-kationszusammenhänge der ostdeutschen Gesellschaft weitgehend zerschlagen sind. In dieser Lage muß das Material für die Re-formulierung ostdeutscher Identitäten verstärkt aus den in der veröffentlichten Meinung gemachten Erklärungs- und Deutungsangeboten gesucht werden, also von dem Bild anderer über einen selbst darauf geschlossen werden, wer man ist. Wenn diese Zuschreibungen sich zunehmend auf einen „Braunen Osten“ konzentrieren, wirken sie zunehmend wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen.
Ganz wesentlich begünstigt wurde eine rechte Mobilisierung durch fehlenden Alternative.
Gesellschaftliche Perspektiven in Ostdeutschland werden seit der Zerschlagung der ’89er Bewegung nicht mehr emanzipativ und sozialistisch besetzt. Die Institutionalisierung der dissidentischen Opposition war nicht nur die Basis für eine selektive Integration ostdeutscher Eliten in die neue Administration, sondern auch für einen Legitimationsverlust oppo-sitioneller Gruppen innerhalb der Gesamtge-sellschaft. Genau die Gruppen, die nach ´89 Ausgangspunkt für eine mögliche antirassitische Initiative in der ostdeutschen Zivilgesellschaft hätten sein müssen, hatten sich durch ihren Anschluß an „Deutschland“ der Basis dazu beraubt. Daß sie heute gegenüber Nazis in der DDR sprachlos geworden sind und nirgends mehr eine bedeutendere Rolle spielen, ist das konsequente Ergebnis.
Aber auch die PDS – zumindest formell und dem eigenen Anspruch nach eine antifaschistische politische Kraft – vermochte es nicht durchgehend eine konfrontative Haltung gegenüber Nazis aufzubauen. Der pauschale Verteidigungsreflex von DDR und Ostdeutschland sowie das Streben nach breiter Akzeptanz blockierte bisher die Teilnahme der Partei an der Entwicklung von sozialen Basiskämpfen und auch die Herausbildung von klaren politischen Grundsätzen. Vor allem das von Teilen des Parteivorstandes angestrebte „Ankommen in der Bundesrepublik“ und das Bemühen als PDS ein „ganz normaler demokratischer Faktor“ zu werden verhindert langfristig die Auseinandersetzung mit den Desintegrierten, Herausgefallenen und Verweigerern in Ostdeutschland.
Die bestehende Antifabewegung ist heute mindestes genau so ghettoisiert wie zu DDR-Zeiten. Als Ableger westdeutscher Jugendkulturen aus den 80er Jahren zieht sie sich selbst in subkulturelle Nischen zurück und kann mit den aus dem Ausland übernommenen Parolen und Aktionsformen auch inhaltlich keine gesellschaftliche Wirkung erzielen.
Eine wesentliche Folge der sozialen, ökonomischen und politischen Realitäten des Anschluß ist ein weitgehender Verlust von Basislegitimität des gesellschaftlichen Systems. Bei Umfragen und Wahlen: das Ostvolk überrascht immer wieder durch ungewöhnliche und unerwartete Meinungen und Entscheidungen, wie zuletzt die sturzartigen Veränderung der Anzahl von DVU-Wählern in Sachsen-Anhalt zwischen Landtags- und Bundestagswahl oder auch der anhaltende Glaube der Ostler, der Sozialismus sei das gerechtere System, medienwirksam zeigten. Dieses Mißtrauen gegenüber den neuen Herrschenden führt sowohl zu resignativer Erstarrung, als auch zu spontaneren, direkteren und auch gewalttätigeren Ausbrüchen der politischen Willensbildung. Wo in Umfragen noch 1992 davon ausgegangen wurde, daß im Osten „Gewalt als Lösungsvariante eigener Probleme und Konflikte allgemein nicht antizipiert wird“, haben inzwischen gewalttätige Tendenzen bei Protesten zugenommen. In einem soziologischen Langzeitprojekt zur „Protestforschung“ (PRODAT) wurde im Osten ein Typ des „Krisenprotestes“ festgestellt. Dieser ist im Gegensatz zu den westdeutschen „Wohlstandsprotesten“ schlechter organisiert, aber wesentlich gewalttätiger. Nach Ergebnissen dieser Studie verlaufen inzwischen im Osten mehr als die Hälfte aller Proteste gewalttätig – und die Beteiligten daran würden sich zu einem großen Teil auch erneut in einer ähnlichen Situation genau so verhalten. Im Wissenschaftszentrum Berlin – Träger der Studie – werden die Ergebnisse folgendermaßen zusammengefaßt: „Die … dominierenden gewaltfreien, demonstrativen und konfrontativen Protestformen werden … zunehmend durch gewalttätige Proteste abgelöst. Die Protestlandschaft in den neuen Bundesländern kippt in dieser Hinsicht regelrecht um, und gewalttätige Proteste überschatten fortan jede andere Protestform.“ Diese bewegungsnahen Potentiale der Gesellschaft haben sich in der Vergangenheit vielfach auch im Kontext von fremdenfeindlichen Angriffen geäußert. Die politischen Vorgaben der Bundestagsparteien in der Frage der Asylrechtsänderung wurde gerade im Osten von rechten Gruppen aufgegriffen und „in die eigenen Hand genommen“. Wenn denen da oben keine Lösungskompetenz zugetraut wird, muß man eben selbst zur Brandflasche greifen… Rechte Bewegung in diesem Sinne ist also der staatlich angeregte Reflex auf einen weitestgehende Identitäts- und Sicherheitsverlust, der in den traditionellen Werten des strukturellen Konservatismus positiv aufgehoben wird und sich zugleich spontan und eruptiv äußert. Ein Verständnis des braune Mob als „verlängerter Arm des Systems“ ist viel zu kurz gegriffen – offenbart doch gerade die Stärke der Nazis die Schwäche des Staates in Ostdeutschland.
Von den Faschisten wird diese Schwäche mit der Abwertung der BRD als „Judenstaat“ und auch mit der Errichtung „national befreiter Zonen“ – die ja auch weitgehend als „staatsfrei“ und unabhängig verstanden werden – in der eigenen Strategiebildung aufgegriffen. Die meisten demokratischen Forderungen gegen die „Zunahme rechtsextremer Gewalt“ jedoch reflektieren diese grundlegende Schwäche des Staates in Ostdeutschland nur ungenügend. Der Ruf nach einem „Polizeistaat gegen Rechts“ wirkt dabei ebenso hilflos wie die parlarmentarische Versessenheit der PDS. Durch die fehlende Verankerung des Staates in Ostdeutschland kann Antifaschismus nur dann erfolgreich sein, wenn er einen gesellschaftlicher Prozeß in Gang setzt, der durch die Entwicklung eigener Strukturen und Diskussionen im Osten getragen wird. Das kann dann auch als Chance begriffen werden.
4.Ethnisierungsstrategie: Brauner Osten – weiße(r) Westen
Inhaltlich funktional für politische Debatten und staatliche Entscheidungen der „rechten Demokraten“ doch zugleich unberechenbar in seinen Formen ist die rechte Bewegung in Ostdeutschland in den letzten zwei Jahren auch ein Problem für den Westen geworden.
Die Reaktion westdeutscher Mittelschichten ähnelt immer mehr dem Versuch, das Problem los zu werden, in dem man sich von ihm abgrenzt. Folgerichtig startete gerade die alternativ-humanistischen-Medienöffentlichkeit in diesem Sommer eine Offensive gegen Ostdeutschland, in der „Brauner Osten“ zum Ausgangspunkt einer westdeutschen Ethnisierungsstrategie wird. Nach den Berichten über wiederholte Übergriffe auf Berliner Schulklassen und Touristen in Brandenburg wurde mit der Parole „Kolonisiert den Osten“ in der taz, dem Zentralorgan der Grünen, zu bewaffneten Gruppenfahrten ins Umland und zum Boykott von brandenburgischem Gemüse aufgerufen. Nach dem NPD-Aufmarsch in Rostock-Dierkow beschrieb der westdeutsche „Jugendforscher“ Seidel-Piehlen zum wiederholten Male die mangelnden demokratischen Potentiale in Ostdeutschland (es waren nur
8.000 statt 20.000 Bürger der Stadt zu der Gegendemonstration gekommen) und forderte den „Westen auf, endlich die Hemmungen gegenüber dem Osten fallen zu lassen“. Das kann nur als Drohung verstanden werden.
Nazis im Osten werden erst ein Problem, wenn die eigenen Kinder und westdeutsche Touristen zu den Opfern zählen. Solange sich die Gewalt auf örtliche Punker und ein paar Ausländer beschränkte, war die Welt eigentlich in Ordnung.
Wenn der Osten die neue Gesellschaft nicht endlich akzeptieren will, dann muß man sie ihm wohl aufzwingen. Gerade mit der Klassifizierung als „faschistisch“ kann fast alles gerechtfertigt werden. Der „braune Osten“ ist so etwas wie der „Schwarze Peter“, der moderne Sündenbock für das Ende des Sozialstaates, für den Abbau von Demokratie, für die Verschärfung der polizeilichen Repression, für alles, was das Alternativbürgertum früher nicht wollte. Der Ruf „Gegen die rechte Gewalt im Osten“ wird letztendlich zu einem Mittel, die eigene Anteile an Herrschaft im Osten zu sichern. Wenn der Osten braun wählt, möchten die Linksliberalen die Gelder streichen und wenn er rot wählt, möchten es die Konservativen. Die dauerhafte Alimentierung erscheint im Westen zunehmend als ökonomischen Hebel zur Zwangsdomestizierung, die Zunahme von Rechtsextremismus als Legitimation für deren Anwendung. Allein die Sache mit den Nazis rückt dann ein wenig in den Hintergrund.
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