Verhandlungen mit dem Oberbürgermeister Dresdens

aus telegraph 5/1989
vom 22. Oktober 1989

Aus Dresden erhalten wir folgende Information über die dortigen Verhandlungen auf Stadtebene am 16. Oktober , die in starkem Kontrast zu der von uns in der letzten Nummer zitierten ADN-Meldung stehen. Der Bericht stammt von einer Lautsprecherübertragung an der Kreuzkirche. Er ist nicht vollständig, da der Lautsprecherübertragung wegen lautstarker Meinungsbekundungen schwer zu folgen war:

Pfarrer Ziemer eröffnete das Gespräch und unterstrich, daß er mit seiner Zustimmung, die Bekanntgabe in die Kirchen zu verlegen, an die Grenzen seiner Loyalität gegangen sei. Demnächst werde es so etwas nicht mehr geben, und zwar nicht, weil die Kirche sich heraushalten wolle, sondern weil Dinge, die alle angehen, auf öffentliche Plätze gehören.

Dann übernahm der Pressesprecher der „20“ das Wort. Zunächst verlas er eine Erklärung, die die „20“ am Samstag im Vorfeld des Gespräches an den OB geschickt hatten. Den Gesprächsverlauf selbst bezeichnete er als unbefriedigend. Bezeichnend sei, daß die anschließende Pressekonferenz mit 2-stündiger Verspätung angefangen habe und daß das Gespräch selbst von Seiten des OB mehrmals vor dem Abbruch stand.

Dann nannte er die Forderungen und Vorschläge der „20“. Die angehäuften Probleme sollten nach Schwerpunkten unterteilt von Arbeitsgruppen bearbeitet werden. Diese sollen in ständigem Kontakt mit der Bevölkerung bleiben. Dieser soll durch Podiumsgespräche realisiert werden. Dem stimmte der OB zu. Dagegen wollte er von einer Öffentlichkeitsarbeit über die Medien nichts wissen. Ebenso lehnte er weitere Forderungen ab:
– Anerkennung der Gruppe als Vereinigung, die den Kontakt zwischen OB und der Dresdener Bevölkerung herstellt. Der OB betrachtet die Gespräche als Dialog mit einzelnen Bürgern
– Erarbeitung und Genehmigung eines Demonstrationsrechtes nach konkreten Vorschlägen der „20“ auf Grundlage des Art. 28 der Verfassung. Der OB lehnt grundsätzlich Demonstrationen ab.
– Keine alleinige Anwendunng des §217 des StGB, da dieser aufgrund seiner Dehnbarkeit keine objektive Beurteilung ermögliche.

Lediglich können die „20“ in der Stadtverordnetenversammlung zu Wort kommen. Erste Versuche der „20“, mit der SED-Bezirksleitung ins Gespräch zu kommen, seien an der Nichtanwesenheit von Herrn Modrow gescheitert.

Dann wurden Erlebnisberichte von ehemaligen Verhafteten der ersten Oktoberwochen verlesen. Diese wurden im evangelischen Stadtjugendpfarramt gesammelt und aufgearbeitet. Die öffentliche Verlesung kam erst nach langen Diskussionen innerhalb des Stadtjugendpfarramtes zustande. Es wurden nicht nur Berichte von Betroffenen seitens der Demonstranten verlesen, sondern auch der Brief eines Bereitschaftspolizisten an seinen Pfarrer. Betont wurde die gegebene Einwilligung der Betroffenen.

Der OB hat den „20“ versprochen, daß er zur Untersuchung der Vorgänge eine Untersuchung des MdI einsetzen wird, die durch prominente Bürger der Stadt, welche die „20“ bennen können, verstärkt wird.

Eine Weiterführung der Gespräche stellte der OB in Frage. Während der Bekanntgabe in der Kreuzkirche kam es zu einem Anruf, in welchem mitgeteilt wurde, daß als nächster Termin der 27.10.89 8 Uhr vorgeschlagen wird.

Im weiteren Verlauf meldeten sich viele Bürger zu Wort. Einige wiesen darauf hin, daß das Verhalten der Staatsorgane auf Verschleppungstaktik hinauslaufe und forderte dazu auf, dem nicht zum Opfer zu fallen. Jede Woche soll freitags 18.00 eine Mahnwache vor der Kreuzkirche durchgeführt werden. Schon während der Bekanntgabe formierte sich ein spontaner Demonstrationszug. Dieser wuchs auf 20.000 Menschen an und marschierte bis ca. 24 Uhr durch die Stadt.

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