Das Neue Forum am Scheideweg

aus telegraph 5/1990
vom 15. März 1990

Läßt sich die Bürgerbewegung durch den Wahlkampf zerreißen?

Wenn es ein Organ der Revolution in der DDR, überall im Land vor Ort gab, dann war das das Neue Forum. Die Parteien, die nach und nach entstanden, waren sekundäre Erscheinungen. Sie organisierten die Bewegung nicht, sie versuchten sie auf ihre Mühlen zu leiten und der Bevölkerung ihre Themen aufzudrängen. Das gelang ihnen im Verein mit den Medien nur allzu gut, zuletzt beim Sturm auf die Berliner Stasi. Alle diejenigen, die mit ihrer Unentschlossenheit am Runden Tisch garantiert hatten, daß „die Firma“ schön langsam die Akten verschwin­den lassen konnte, empörten sich, daß das Neue Forum, mit (pfui!) revolutionären Mitteln die heilige Ruhe und Ordnung mit dem Sturm auf die Normannenstraße störte.

Aber statt die Kläffer aus den Parteizentralen zurückzuweisen, nahmen die Gruppen der Bürgerbewegung deren Parolen auf und spalteten sich dabei. Wochenlang wurde darüber debattiert, ob das Neue Forum ebenfalls eine Partei werden solle, nicht zu denken über das hin und her um Themen wie pro und contra Wiedervereinigung und Marktwirt­schaft. Dabei versäumten sie die notwendige Diskussion von Fragen, die wirklich die Zukunft bestimmen könnten, den Selbstfindungsprozeß, Modelle für eine politische und wirtschaftliche Demokratie.

Im Einzelnen gab es mancherorts gute Arbeit, z.B. in Dessau, wo das Neue Forum, ohne sich um Genehmigungen zu kümmern, Kommunalwahlen durchführte und die Waffen der Stasi vernichtete. Ebenso wie in Bad Kösen regieren sie nun als gewählte Vertreter im Stadtparlament (was die Berliner Regierung natürlich empörend und illegal findet). Vom Ansatz her ist das Neue Forum immer noch eine basisdemokratische Bürgerinitiative. Es bestand quer durch die Strömungen Einigkeit darüber, daß vor den Volkskammerwahlen die Kommunalwahlen stattfinden müssen und daß eine demokratische Struktur von unten nach oben aufgebaut werden muß (Die Parteien hatten natürlich ein umgekehrtes Interesse). Die kommunale Orientierung schlägt sich auch im Statut nieder, nach dem 75% der Einnahmen in der Region bleiben sollen, während nur je 12% für die Landes- und Staatsebene der Organisation übrigbleiben (Bei „Demokra­tie jetzt“ bleiben 50% in der Zentrale, bei der SPD sieht es noch schlimmer aus). Einigkeit bestand auch darin, daß die -nderung auf der kommuna­len Ebene bei Sanierung von Klein- und Mittelbetrieben ansetzen sollte (während die Regierung Modrow bis dato entweder nichts tut oder internationale Konzerne ins Land holt, die unsere Klein- und Mittelbetriebe kaputtmachen werden).

Aber entgegen diesen guten Vorsätzen läßt sich das Neue Forum an den meisten Orten viel zu sehr von allgemeinen Stimmungen und den Kampagnen von Parteien und W­estmedien mitreißen, als daß es die Inhalte selbst bestimmt. Chancen wurden verpaßt, als das Neue Forum zu den Wahlen kein breites Bündnis mit deutlichen sozialen Aussagen und klaren Inhalten schuf, die es von den Mitte- und Rechtsparteien unterschieden hätte. Nahegelegen hätte ein Bündnis auch mit dem Frauenverband und der Vereinigten Linken. Statt inhaltliche ßberein­stimmungen zu überprüfen wurde der Frauenverband als „Emanzen“ und die „Vereinigte Linke“ als „linke Spinner“ im Vorfeld abgetan. Im Gefolge des Wahlgetümmels glaubt man sich Seriösität durch die Anwerbung von allerlei Professoren und sonstigen Fachleuten geben zu müssen. Die Intellektuellen, die sich zunehmend in Fachaus­schüssen des Neuen Forums breitmachen, fühlen sich nicht mehr den Vollversamm­lungen verantwortlich, sondern handeln unter Berufung auf ihr Expertenurteil eigenständig und ohne Absprache. So konnte es dazu kommen, daß selbsternannte Experten am Runden Tisch für das Neue Forum ein Wirtschaftspapier vorlegten, das vorher niemand gelesen, geschweige denn diskutiert hatte. Zwei Tage später begannen die Hamsterkäufe. Andererseits treten auch zunehmend mehr Delegierte mit persönlichen Motiven an, Profilierung, geschäftliche Interessen und anderem.

Weil im Lande die Stimmung gegen Links zu stehen scheint, werden linksverdächtige Sprecher unter Beschuß genommen und abgelöst. Weil die allgemeine Stimmung für Wiedervereinigung scheint, werden Vereinigungsgegner zurückgepfiffen. Unter Berufung auf die Wahlen werden Diskussionen unterbunden und wird ein parteiartiges Einschwö­ren auf eine Linie betrieben. Der linksverdächtige frühere Sprecher Reinhard Schult wurde aufgefor­dert, ein „eindeutiges Bekenntnis zur Marktwirtschaft“ abzugeben. Ingrid Köppe wurde vor einer Fernsehsen­dung in Rostock vom dortigen NF-Sprecher Gauck aufgefordert, nichts gegen die Sozialdemokraten zu sagen, weil im Norden das Neue Forum ein Bündnis mit der SPD anstrebe.

Um diesen landesweiten Verfall des Neuen Forums zu einem parteiartigen Gebilde (und damit seine Auflösung) zu verhindern, haben sich die Linken, darunter viele Grün­dungsmitglieder, zur Fraktion „Aufbruch 89“ zusammenge­schlossen. Durch das Thesenpapier der Fraktion soll im Neuen Forum endlich wieder eine inhaltliche Diskus­sion angestoßen werden. Allerdings geben auch die Inspiratoren zu, daß dies kaum vor Ende des Wahlkamp­fes geschehen kann. Typisch für die gegenwärtige Mentalität ist, daß der Landessprecherrat das eigenständige Auftreten der Fraktion vor der Presse verhindern wollte.

„Das Neue Forum“, meint Reinhardt Schult von Aufbruch 89, „wird bei den Wahlen nicht allzuviele Prozente erhalten. Das wird es davor schützen, eine Heirat mit der Macht einzugehen – das beste was einer Bürgerbewegung passieren kann.“ Die Linken hoffen, daß im Laufe der Zeit bei vielen DDR-Bürgern ein Bewußtsein dafür wächst, daß sie in der DDR in 40 Jahren trotz der SED etwas geschaffen haben, das erhaltenswert ist und nicht unter Preis verkauft werden darf. Das schlechteste, was passieren könnte, wäre die einfache ßbernahme der Bundesverfassung. Demgegen­über schlagen sie vor, daß zunächst die Wertvorstellungen der DDR-Bürger in einer eigenen Verfassung formu­liert werden. Wichtig ist ihnen auch, daß die Wiederver­einigung nicht durch einfachen Parlame­ntsbe­schluß erfolgt, sondern der Bedeutung dieses Akts gemäß durch eine A­bstimmung des ganzen Volkes in Ost und West erfolgt.

Aber auch wenn dies nicht gelingen sollte“, meint Reinhard Schult, „wichtig ist, daß Organisationen überleben, die die gesell­schaft­liche Selbstverteidigung organisie­ren.“ Und Bärbel Bohley nennt Aufgaben: Die Schaffung einer europaweiten Vernetzung von sozialen und ökologischen Initiativen, die Erarbeitung einer Lösung für die absehbaren sozialen Probleme, die sich mit der Wiedervereinigung abzeichnen, der Aufbau einer Kulturpolitik als identitätsstiftendes Element.

r.l.

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