Aufruf zum Wahlboykott

aus telegraph 5/1990
vom 15. März 1990

Wir haben die Krise in unserem Land verursacht.
Sie ist nicht vorwiegend eine politisch/wirtschaftliche, sondern eine existentiell/moralische.
Nur wir können über sie hinauswachsen!

Dazu brauchen wir Zeit für Wahrhaftigkeit und Weitsicht. Alle Parteien und politischen Gruppierungen erliegen jedoch kurzschlüssi­ger Wähler- und eitler Macht-Politik. Ihre sich wandelnden Antworten auf die Erfordernisse der Zeit sind nicht Ausdruck ganzheitlicher Vernunft, sondern einzig gewissenloser Füllstoff für die fehlgeleite­ten Bedürfnisse von Mehrheiten.

Nicht die Kopie des „bürgerlichen Parlamentarismus“
in „freiheitlich demokratischer Grundordnung“ schafft mehr Gerechtig­keit. – Das Gegenteil ist der Fall! Die „freie“ (entfesselte) Macht des Kapitals hat die Erde zur materiellen, geistigen und seelischen Müllkippe gemacht. Ein Ausdehnen westlicher Produktions- und Konsum­mechanismen auf den Osten würde in den „Unterentwickelten“ weitere hunderte Millionen Opfer bringen und die Welt in wenigen Jahrzehnten vollends ruinieren.
Wer glaubt, sich am 18. März an freien Wahlen zu beteiligen,
betrügt sich selbst! – Das Kapital mit all seinen politischen und ideologischen Handlanger läßt in der DDR wählen! Und für welche Partei wir uns auch entscheiden, wir „wählen“ immer das JA zur Freigabe von Absatzmärkten, billigen Arbeitskräften und Rohstoffquel­len des Ostens. Die Multis und Großbanken wissen: Wer die Sowjetunion hat, hat das nächste Jahrhundert. Was wir wissen sollten: Wenn das zutrifft, dürfte es unser letztes sein. Deshalb appellieren wir an alle vernünftigen Bürger unsewres Landes:

Boykottiert die Wahlen zur Volkskammer!

indem Ihr sie für Euch und auf Euren Stimzetteln als UNGßLTIG erklärt! Delegiert nicht wieder moralische Verantwortung an Parteien ab, die diese nicht tragen können!
Wehren wir uns gegen westliche Kapitalbeteiligungen
in den Betrieben, gegen den Verkauf von Grund und Boden und unserer Arbeitskräfte, gegen alle „gesamtdeutschen“ Konzepte, die an Kapital und Kredit hängen! Versuchen wir den Konsum westlicher Produkte und Waren zu verweigern! Bewahren wir unseren gesunden Menschenverstand gegenüber den „Gehirnwäschern“ der Medien!
Bereiten wir die Alternative vor, indem wir uns bewußt und coragiert der Zusammenarbeit mit den Kapitaeignern entziehen. Lernen wir, das gesellschaftliche Leben von unten her vielfältig und in eigenständigen, selbstverantworteten Zellen neu zu formieren. Entscheiden wir sorgsam und gewissenhaft über unsere wirklichen Bedürfnisse. – Nicht immer perfektere Techno­logien und wachsende Produktionskennziffern führen uns aus der Krise, sondern eine neue Íkonomie der Vernunft, die dem menschlichen Leben dient und es nicht zum Objekt degradiert!
Der Weg dorthin ist mühsam, aber es gibt keinen anderen!

Gruppe WIDERSPALT

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