Honecker, Mielke und Mittag in den Knast? Ein Volk möchte allzu gern die Vergangenheit vergessen

aus telegraph 5/1990
vom 15. März 1990

Deutlich bemerkbar wird mittlerweile, wie nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die westlichen Medien der DDR Vorlesungen über Demokratie halten. Im Rahmen dessen liegt auch die vom „Spiegel“ eingeläutete neueste Kampagne hinsichtlich des anständigen Umgangs
mit der ehemaligen Partei- und Regierungsspitze. Natürlich geht es den Herrschaften nicht wirklich um Rechtsstaatlichkeit, sondern darum, dass ähnlich wie im Westen Angehörige der Oberschicht vorsichtshalber mit Samthandschuhen angefasst werden sollten. Es könnte
ja jemand auf die Idee kommen, dass beispielsweise Franz Joseph Strauss ein ganz normaler Krimineller gewesen ist.

Umso schlimmer, dass die bürgerlichen Schulmeister in diesem Fall Recht haben. Der alte Generalstaatsanwalt der DDR musste bekanntlich gehen, weil er der Volkskammer zu wenig Eifer in der Bestrafung der „Verantwortlichen“ zeigte. Der neue Generalstaatsanwalt parierte
wunschgemäß: Gegen eine Reihe von früheren Machthabern wurden Verfahren wegen Amtsmissbrauch, Veruntreuung und Diebstahl von Volkseigentum und Hochverrat eingeleitet. Honecker und Mittag sollen nach der neuesten juristischen Konstruktion Hochverrat durch volkswirtschaftliche Fehlplanungen begangen haben, eine bislang international wie national
einmalige Auslegung des Paragraphen.

In Wahrheit geht es beim eilfertigen Apportieren von Anklagen gegen die fuehrenden Politbürokraten für die alten Blockparteien und für die Richter-Riege um den eigenen Kopf. Das Volk fordert Rache und was liegt näher, als ihnen einige genügend fette Sündenböcke
zu liefern. Was die früheren Teilhaber an der Macht aller Couleur in jedem Fall vermeiden oder doch jedenfalls hinausschieben wollen, ist eine Gesamtuntersuchung über ihren Schuldanteil am funktionieren des poststalinistischen DDR-Regimes. Die Richter haben quer durch das
Land im Laufe der Jahrzehnte Hunderttausende von barbarischen Urteilen nicht nur gegen Regimegegner, sondern vor allem gegen harmlose Witze-Reißer und Meckerer gefällt. Die Blockparteien waren keine Agenturen des Widerstands, wie sie jetzt gern behaupten, sondern wurden von der Politbuerokratie als Federungen des Systems erhalten und erfüllten diese Rolle mit Fleiß und übrigens für Geld.

Alle diese kleinen und großen Schweine verübten aber vor allem ein Hauptverbrechen: Sie erpressten und bestochen ein durch das NS-Regime ohnehin in seinem Charakter geschädigtes Volk zu Autoritätsgläubigkeit, Heuchelei, Denunziantentum, Hass gegen die Schwachen und Liebe zu den Starken.

Das ist auch der Grund, warum die Mehrheit dieses Volkes im Grunde nichts anderes will als Sündenböcke. Eine wirkliche Untersuchung und Aufarbeitung der Vergangenheit würde ja zeigen, dass das Versagen, der mangelnde Mut jedes Einzelnen das Funktionieren des Systems erst garantierte, ja noch schlimmer, dass man sich gegen Wohlstandsgüter ganz gern Wohlverhalten abkaufen ließ, dass dieses Volk so bestechlich war, dass es die Augen davor verschloss, dass Honecker und Mittag den relativen Wohlstand der Bürger von der wirtschaftlichen und ökologischen Substanz des Landes finanzierten.

Man muss das doch mal klar aussprechen: Wir sind, rein finanziell und materiell nicht unterdrückt worden, – wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.

Statt sich mit dergleichen unbequemen Überlegungen zu beschäftigen möchte sich die Mehrheit jetzt Herren in die Arme werfen, bei denen sie gegen entsprechendes Wohlverhalten auf noch
größere Kompensationen hoffen: Gewinne nicht nur aus der Vergeudung des Erbes ihrer Enkel, sondern auch Gewinne aus der Ausbeutung der dritten Welt.

Deshalb wird Aufarbeitung der Vergangenheit immer nur als Alibifunktion betrieben werden und nie das erträgliche Maß überschreiten. Die zentrale Stasikartei soll vernichtet werden, die
restlichen Akten sollen 99 Jahre in die Archive wandern und so lange nur staatlich geprueften Historikern zugänglich sein. Deshalb wird es auch in Zukunft nichts so unpopuläres wie die Basisgruppen geben, ohne die es nie zu dieser Revolution (wenn es denn eine war) gekommen
wäre.

Was wir brauchen ist keine Verurteilung von leergebrannten Wracks wie Guenther Mittag und Honecker, sondern eine Bewältigung unserer Vergangenheit. Nur dann wird es fuer die Bevölkerung dieses Landes eine gewisse Chance auf eine Zukunft geben. Es geht nicht um
Urteile und Strafen, sondern um das Erlernen von Freiheit und Verantwortung.

r.l.

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