Wahlkampf 90 in der DDR

aus telegraph 5/1990
vom 15. März 1990

Wahllosigkeit der Mittel, Beliebigkeit des Inhalts
Ist Wolfgang Schnur ein Stasi-Spitzel?

Natürlich ist zur Zeit in der Frage der angeblichen Spitzeltätigkeit des Chefs des Demokratischen Aufbruchs, Schnur, noch keine endgültige Aussage möglich. Deshalb entspricht auch der folgende Beitrag nicht der Meinung der gesamten Redaktion, sondern ist eine Anregung zur Diskussion:

Mit der Spitzelanschuldigung gegen Rechtsanwalt Schnur hat der Wahlkampf 1990 in der DDR einen neuen perfiden Höhepunkt erlebt und Ungeahntes wird möglich. Nicht, daß ich nichts gegen Rechts­anwalt hätte. Aber Wahrheit muß Wahrheit bleiben.

Er war vielleicht nicht einmal ein guter, aber fast der einzige Anwalt der politisch Verfolgten und hat, fromm, warmher­zig, zäh und treu immer wieder aussichtslose Plädoyers vor verhärteten Richtern gehalten. „Wenn ich in den Knast komme“, sagte mir einmal ein Oppositioneller, „dann nehme ich Schnur. Weil du als Verhafteter in der DDR keinen Rechtsanwalt brauchst, sondern einen Seelsorger“. So sah sich Schnur auch selbst, als Rechtsanwalt mit seelsorgerischem Anliegen.

Aber ab der Zionsaffäre im November 1987, als er durch die öffentliche Solidarität erstmals Verhandlungsdruck gegen die Staats­anwälte in die Hand bekam, scheint Wolfgang Schnur zunehmend Ge­schmack an der Macht bekommen zu haben. In der Luxemburg-Affäre im Januar 1988 begann er, im Verein mit der Berlin-Brandenburgischen Kirchenleitung, bereits auf dem Rücken der Oppositionellen mit der Macht zu spielen. Jetzt scheint er, als Chef des Demokratischen Aufbruch, jegliches Augenmaß dafür verloren zu haben, daß er die Menschen verrät, für die er ein Leben lang gekämpft hat – er hilft, sein Land, das sich von den alten Machthabern befreit hat, an noch mächtigere Fürsten zu verkaufen.

So weit so gut, aber das, was ihm jetzt vorgeworfen wird, ist ziemlich unwahrscheinlich. Wolfgang Schnur ist autoritäts- und staatsgläubig, aber immer ein gerader Mensch und sich selbst treu gewesen. Die Stasiakte, die das Rostocker Bürgerkomitee entdeckt hat, ist, soweit uns bekannt ist, bereits vor Monaten der „Berliner Zeitung“ und dem „Neuen Deutschland“ zugespielt worden. Beide Chefredakteure haben die Akte für Spielmaterial der Stasi gehalten und in den Panzerschrank gesperrt.

Daß Schnur überhaupt Kontakte zur Staatssicherheit gehabt hat, ist natürlich nicht ausgeschlossen. Im Stasi-Staat DDR konnte sich kein politischer Anwalt aus Kungeleien mit der Staatsanwalt­schaft, die eben ein Organ der Stasi war, heraushal­ten. Das furchtbare an Geheimdiensten ist ja gerade, daß sie jeden Nerv der Gesellschaft durchdringen und zum Schluß auch die Opposition für ihre Zwecke instrumentalisieren: Ohne Opposition gibt es keine Aufklärung, daher ist der Geheimdienst in gewissemn Sinne auf die Opposition angewie­sen, notfalls spielt er sie selbst. Aus der Geschichte ist ja bekannt, daß Oppositionsbewe­gungen immer von den Geheimdiensten durchwachsen waren. Der aufsehener­regendste Fall war die Entlarvung des Chefs der Terrorabteilung der russischen sozialrevolutionären Partei, Jewno Azew, im Jahre 1912, der einerseits Großfürsten in die Luft sprengte, anderer­seits Genossen an die russische Geheimpolizei verkaufte, einer­seits sich von dieser Geld geben ließ, anderer­seits die Kasse der Sozialrevolutionären Partei bestahl. Bekannt ist auch, daß einer der Väter der Sozialdemokratischen Partei, Schweitzer, diese im Auftrag Bismarcks als Kampfmittel gegen die Liberalen führte. Aber Wolfgang Schnur ist kein Azew und kein Schweitzer, dazu ist er zu einfach gebaut, dazu ist er zu wenig intelle­gent, zu warmherzig. Wahrscheinlich hat er im vermeintlichen Interesse seiner Klienten im Austausch gegen Anklage- und Hafterleichterungen Informa­tionen gegeben. Tatsächlich meinte er ja immer: „Jeder Hafttag länger ist ein Tag zuviel“. Aber warum traut er sich nicht, das zu sagen?

Interessanter ist die Tatsache, daß jetzt mit solcher Art von Denunziationen „Argumentation“ betrieben wird. Das Rostocker Bürger­komi­tee hatte ja, wie alle anderen, Schweigepflicht hinsichtlich solcher Fragen. Daß eine solche Anschuldigung als öffentliches Argument dient, ist kennzeich­nend für das Klima der Wahllosigkeit der Mittel und der Beliebigkeit der Inhalte, das diesen Wahlkampf auszeichnet. Es geht eben nicht mehr um die besten Lösungen und die klügsten Argumente, es geht nur noch darum, wer am lautesten schreit. Nur in einem solchen Klima konnten sich charakterlose Dummköpfe wie bei­spielsweise ein Eppelmann und ein Ebeling durchset­zen.

Selbstverständlich tragen die bürgerlichen Parteien von der SPD bis zur DSU daran die Hauptschuld, indem sie kein finanziel­les Angebot und keine brüderliche Hilfe aus der BRD abschlagen und so diesem Wahlkampf sein Profil von Unfairnis aufdrücken. Wie fern sind doch jene Zeiten, als der Parteivorstand der damaligen SDP sich weigerte, das in Westberlin eingefrorene Parteivermögen der Ost-SPD zu übernehmen. Besonders widerlich ist die DSU, die es wagt, den SPD Vorsitzenden Böhme, der zweimal wegen seiner ßberzeugung im Knast war, wegen seiner früheren SED-Mitglied­schaft anzuzählen. Ganz auf dieser Linie liegt es, daß die DSU als Ordner zum Teil Nazi-Skins verwendet. Aber auch auf CDU- und SPD-Wahlveranstaltungen werden friedliche politische Gegner verprügelt (siehe unsere Berichte). In der Argumentationsweise gegenüber anderen Parteien greifen alle Bürgerlichen am liebsten zur Denunziation und zur willkürlichen Verdrehung.

Demgegenüber argumentieren die Bürgerbewegungen und anderen Nachfolgeorgani­sationen der alten Oppsition bisher im allgemeinen anerken­nenswert rational. Im Unterschied zu den Parteien beschränken sich deren Anhänger auch auf Gewalt gegen Sachen wie Zerreißen von Wahlplakaten, Buttersäure gegen Wahlquartiere und dergleichen. Aber das „neue Denken“, die Wahllosigkeit der Mittel ist auch bei der Linken stark im Kommen. Angefangen von jenem Redner, der im November die ersten mit BRD-Fahnen für die Wiedervereinigung Demonstrierenden mit „Ihr Nazi-Votzen“ be­schimpfte, bis zu jenen bekannten Aufschrif­ten auf Häuserwänden wie „Kill a Nazi-Skin!“ oder „Bildet Banden, tötet Nazis!“. Ein Getränkehändler im Prenzlauer Berg geriet, übrigens völlig unschuldig, in den Verdacht ein Nazi zu sein. Sein Schaufenster wurde zweimal zerschlagen. Als er dann eine Presspappe­platte einsetzte, wurde dort aufgesprüht: „Kauft nicht bei Nazis!“ Ich schäme mich immer, wenn ich diese Aufschriften lese.

Jeder, der nur ein wenig nachgedacht hat, wird wissen, daß eben diese Intoleranz, dieser Unwille, den politischen Gegner am Leben zu lassen nazistisch (oder eben stalinistisch), jedenfalls aber faschi­stoid ist. Natürlich, diese jungen Leute sind verzwei­felt. Weil sie permant von Nazi-Skins zusammengeschlagen werden, ohne daß die Íffentlichkeit davon Notiz nimmt, weil sie ihr Land und ihre Identi­tät durch gewissenlose Geschäftemacher und Karrieristen verlieren.

Aber das sollte doch nicht das Gefühl für Differenzen verloren­ge­hen lassen. Eine Eskalation von Gewalt auf der Straße und eine Eskalatation von Denunziationen in den Versammlungen schafft ein politisches Klima, in dem wirklich nur noch Irratio­nalismen zählen. Dies nutzt nur der äußersten Rechten, der DSU und den Republikanern, die ohnehin der Sprache der Argumente nicht mächtig sind.

Auch ich werde mir jetzt eine Spray-dose mit CS-Reizgas anschaf­fen, ganz einfach, weil ich keine Lust habe, nachts um 3 Uhr irgendwo auf der Straße von einer Horde irgendwie politisie­render Jugendlicher krankenhausreif geschlagen zu werden. Wenn wir uns schon nicht auf Fairnis im Wahlkampf einigen können, sollte doch unter Menschen, die den Anspruch auf Zivilisiertheit erheben, das eine möglich sein: Daß eine Vereinbarung zwischen allen Parteien und Organisationen ge­schlossen wird, daß Angriffe gegen Leib und Leben tabu sind und solche Gewalttäter unnachsich­tig verfolgt werden. Oder ist es auch dafür zu spät?

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