Das Ende des aufrechten Ganges?

von Wolfgang Rüddenklau
aus telegraph 5/1996

Umwelt-Bibliothek Berlin
Redaktion telegraph
Schliemannstr. 22
10437 Berlin

Pressemitteilung

Angesichts des offiziellen Tschingderassa zum 17. Juni im Allgemeinen und zum von Bärbel Bohley und ihren Freunden an diesem Tag feierlich eröffneten Verein möchten wir darauf hinweisen, daß die Wirklichkeit ein wenig anders aussieht. Diejenigen Vereine, Archive und Forschungsverbünde, die im Unterschied zur redefreudigen Bürgerrechtlerin wirklich und seit Jahren arbeiten, stehen just zu diesem Zeitpunkt vor dem finanziellen Aus. Näheres im folgenden Artikel der neuen Nummer unserer in dieser Woche erscheinenden Zeitschrift „telegraph“.

Die Archive, Verbände und Forschungsorganisationen der Opfer der DDR-Staatsrepression stehen bald vor dem finanziellen Aus

Kein Zweifel: wenn man nicht gänzlich vernagelt ist, gibt es, je älter man wird, das Problem der unterschiedlichen Loyalitäten. Als Linker kann ich nicht scharf genug den zunehmenden Rechtstrend in den Organisationen der Opfer des DDR-Staatsterrors verurteilen. Aber als einer vom damaligen Regime zum Staatsfeind Erklärter und Insasse immerhin einiger zahmerer Haftanstalten in den achtziger Jahren verstehe ich sehr gut den Haß, den die damals Verfolgten gegen die damals regierenden Kommunisten empfinden. Zumal, wenn sie nicht in den Achtzigern, sondern in den fünfziger und sechziger Jahren vier, acht oder gar längere Jahre die stumpfe Brutalität des damaligen Gefängnisregimes und seiner Kerkermeister ertragen mußten. Nach spätestens vier Jahren einer solchen Haft ist man für sein Leben gezeichnet und viele von denen, die noch längerer gesessen haben, brauchen lebenslange psychotherapeutische Behandlung. Die Realisierung und Finanzierung der Betreuung dieser Opfer ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit einer Gesellschaft, die auch nur halbwegs das Attribut „menschlich“ verdienen will. Nicht zu reden von den Archiven und Forschungsinstituten, die die Untaten eines solchen Regimes erst aufdecken und die Kriterien einer Rehabilitierung der Opfer recherchieren können.

Aber in der Welle der gegenwärtigen Kürzungen in kulturellen, sozialen und Jugendprojekten zeigt sich, was die Herrschenden von der Idee einer Zivilgesellschaft halten. Und wie nützlich Kommunistenhasser für die CDU auch immer als politisches Werkzeug gewesen sein mögen – zu den Objekten der gegenwärtigen Streichungswelle gehören natürlich auch die Opfer staatlicher Willkür in der DDR und ihre Verbände, Archive und Forschungsverbunde. Einzig die Berliner Gedenkbibliothek, ein Lieblingskind der CDU und der rechten Politsekte VPM (Verein zur Förderung psychologischer Menschenkenntnis), erhielt von Anfang an die institutionelle Förderung, die für viele vergleichbare Vereine in Westdeutschland Normalität ist. Auch die Skandale um die Rehabilitierung einer KZ-Aufseherin und Privatisierung von Spendengeldern bewogen das Berliner Abgeordnetenhaus nicht zu einer Beendigung der Förderung. Ebenfalls für den in diesem Zusammenhang zwischenzeitlich vom Berliner Stasibeauftragten entlassenen Schriftsteller Siegmar Faust wurde gesorgt. Er wird jetzt sächsischer Stasibeauftragter (damit ist der nächste Skandal mit diesem Strohkopf allerdings vorgebucht).

Wer dagegen nicht mit der VPM kungelt, ist im Stande der Ungnade. Nicht einmal die vielbesprochenen Zusammenkünfte zwischen Bärbel Bohley und Gesinnungsgenossen mit dem Kanzler des neuen Deutschlands führten bisher zu handgreiflicheren Ergebnissen als einer privaten Alimentierung für Frau Bohley, die jetzt in der Adenauer-Stifung ihre Bilder ausstellen darf. Helmut Kohl konnte sich als der große Vater der HeldInnen des Jahres 1989 darstellen, aber von einem Beratungsbüro für Opfer oder sogar von einer erörterten Stiftung für die Opfer des DDR-Regimes gibt es immer noch keine Spur. Im Gegenteil: im Mai novellierte der Bundestag, weitgehend von der Öffentlichkeit ignoriert, mit den Stimmen von CDU, CSU und natürlich auch der SPD das Stasiaktengesetz, so daß jetzt beispielsweise kein Einblick mehr in die Personalunterlagen von Spitzeln und Geheimdienstlern vor dem Jahre 1963 mehr möglich sind. Für viele, die die besonders harte Repression des DDR-Staates in den vierziger, fünfziger und Anfang der sechziger Jahre zu fühlen bekamen, ist das ein harter Schlag. Hintergründe und Verantwortlichkeiten werden nur noch schwer zu klären sein. Rehabilitierungen und ohnehin minimale Entschädigungen werden noch komplizierter. Und für die Historiker wird die gerade in Konturen erkennbare Frühzeit des SED-Staates für weitere vierzig Jahre nebulös bleiben. Aus dem Hause der Kohl-Vertrauten Bohley und ihrer Freunde war kein Wort der Kritik zu hören. Offensichtlich beabsichtigt man, wie aus einem neuerlichen Treffen mit dem Kanzler im April ersichtlich wird, so lange weiter zu kratzen, bis die Herren der Bundesrepublik vielleicht doch Erbarmen zeigen.

Die Chancen dafür sind gering. Als erstes mußte das Berliner „Bürgerkomittee 15. Januar e.V“, seinerzeit Ostberliner Vortrupp des Kampfes gegen den DDR-Geheimdienst, daran glauben. Trotz der umtriebigen politischen Scharwenzeleien des Vorsitzenden Hans Schwenke liefen die ABM-Stellen aus. Mittel für die weitere Haltung der Räume sind nicht in Aussicht und ein Versuch, in der fast leer stehenden und verfallenden ehemaligen Stasi-U-Haftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen Platz zu finden, scheiterte am Widerstand des Berliner Senats. So ist wahrscheinlich in zwei bis drei Monaten auch die ehrenamtliche Fortführung der Arbeit für die Mitglieder des Bürgerkomitees nicht mehr möglich und die historische Zeitschrift „Horch & Guck“ wird ohnehin nicht mehr finanzierbar seín.

Der Berlin-Brandenburger Bund Stalinistisch Verfolgter (BSV), hauptsächlich in der Betreuung von Opfern der staatlichen Repression tätig, erhält derzeit immerhin noch Geld. Aber die Arbeitsförderungsmaßnahme nach § 249h läuft am 31.10. aus und hat wenig Aussicht auf Verlängerung. Laut Auskunft von Servicegesellschaft und Stadtbezirk werden die in Berlin Lichtenberg laufenden Maßnahmen bis auf 30% reduziert, von den 30 übrigbleibenden Maßnahmen sollen letztendlich nur 13 bleiben. Bei diesen sollen die Mittel pro Person

von 36000 auf 28000 Mark einschließlich Sachmitteln gekürzt werden, so daß auch für Akademiker nur 16-17000 Mark brutto im Jahr bleiben.

Das baldige Ende ist auch für die Finanzierung der Historiker gekommen, die sich im Unabhängigen Historikerverband zusammengeschlossen hatten und in den letzten Jahren eine ganze Serie von aufsehenerregenden Untersuchungen über DDR-Geschichte publiziert hatten. Leute wie Armin Mitter, Stefan Wolle, Bernd Florat und Rainer Eckert kamen von der Akademie der Wissenschaften der DDR und waren im Rahmen des Wissenschaftler-Integrationsprogrammes an der Ostberliner Humboldt-Universität angestellt – mit dem Ziel einer Festanstellung. Dazu wird es nicht kommen, weil auch in der Humboldt-Universität mittlerweile westdeutsche Uni-Seilschaften fest Fuß gefaßt haben und nur an ihre westdeutschen Kumpels Pöstchen und Ämtchen verteilen. Da zählen keine Publikationen, da spielt es auch keine Rolle, daß die DDR-Forschung, soweit sie sich in westdeutscher Hand befindet, bisher nur eine Reihe müßiger Betrachtungen und flacher Kompilationen erbracht hat. DDR-Wissenschaftler – gerechte und ungerechte – haben nur noch die Chance, sich möglichst schnell pensionieren zu lassen. Oder aber bei der Industrie und den Parteien betteln zu gehen. Rainer Eckert beispielsweise, den ich sprach, zeigte eine rührende Zuversicht in eine historische Kommission beim Parteivorstand der SPD, gab dann freilich aber auch zu, daß kaum eine Partei ungeeigneter wäre, um spezifische DDR- und ostdeutsche Befindlichkeiten zu verstehen als gerade die SPD.

Etwas besser scheint es auf den ersten Blick bei der Antistalinistischen Aktion, der ASTAK auszusehen, die über die Eintrittgelder in ihre Ausstellungsräume in der Ostberliner Normannenstraße einen Sockelbetrag zur Verfügung hat. Aber auch diese Arbeit wird natürlich von fünf 249h-Stellen getragen (allein zur Befriedigung der Ansprüche der neudeutschen Finanzämter braucht es erfahrungsgemäß ein bis zwei Stellen). Außerdem erhält die ASTAK Projektmittel vom Landesbeauftragen für Stasiunterlagen, der gegenwärtig im Abgeordnetenhaus für die Beibehaltung seines Haushaltes kämpft. Bei den Kürzungen, sagte mir Geschäftsführer Drieselmann, sei die ASTAK bisher „durchgeschlüpft“. Allerdings enden die 249h-Stellen im April nächsten Jahres und Chancen und Modalitäten einer Neubeantragung stehen in den Sternen. Ohnehin können diese Stellen, wie ein Blick in die einschlägigen „Verträge“ zeigt, mitten in der Laufzeit von heute auf morgen ohne jegliche Begründung bis auf Null zusammengestrichen werden.

Das Robert-Havemann-Archiv, ein Verein, der den Havemann-Nachlaß verwaltet und ein Archiv über die Bürgerbewegungen der Wende in der DDR und darüber hinaus in Osteuropa führt, macht bisher gute Miene zum bösen Spiel. Auch hier läuft die Arbeit nach zahlreichen Kürzungen auf der Basis von sechs 249h-Stellen, zu denen zwei vom Landesbeauftragten für Stasiunterlagen finanzierte Stellen kommen. Zwar habe das Arbeitsamt verlautbart, daß 249h-Stellen jetzt auf ein viertes Jahr verlängert werden können, aber von Seiten des Berliner Senats stehe eine Verlängerung sehr in Frage. Der Landesbeauftragte für Stasiunterlagen kämpfe derzeit um die Verlängerung wenigstens einiger Stellen.

Das ist besonders traurig im Falle des Matthias Domaschk-Archives, einer mit ungeheurem Fleiß und peinlichster Sorgfalt geführten umfangreichen Sammlung zu DDR-Opposition und -Repression. Von ursprünglich sechs Stellen wurden im Laufe der Zeit drei gestrichen. Eine der verbliebenen Stellen läuft bis Dezember des Jahres, zwei bis zum März nächsten Jahres. Der Lohn für eine Stelle mußte herabgestuft werden, mit sämtlichen Folgen für Arbeitslosengeld und Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Projektmittel reichen gerade für Lohn- und Verwaltungskosten. Für Sachmittel – etwa die Anschaffung dringend benötigter Bücher – gibt es kein Geld. „Die Arbeit“, sagte mir Tom Sello vom Domaschk-Archiv, „ist inzwischen so umfangreich und vielfältig, daß sie nicht als Freizeitarbeit weiter führbar ist. Opfer, die mit ihren Stasiakten zu uns kommen und sie uns zur Verfügung stellen, wollen beispielsweise auch beraten werden; mindestens brauchen sie tagelange Gespräche über das, was sie in ihren Akten gefunden haben. Eigentlich wäre ein Psychologe und psychotherapeutische Betreuung notwendig.“

Dargestellt hatten wir schon im Dezemberheft 1995 die Situation der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, wo sich ein einsamer Aktivist mit einem vom Arbeitsamt geschickten NVA-Offizier und anderen auch nicht sehr interessierten 249h-Angestellten herumschlägt. Daß auch die Umwelt-Bibliothek, die nicht direkt zum dargestellten Komplex gehört, gerade von den Kürzungen ereilt wurde, sei nur nebenbei mitgeteilt.

Rein formal-organisatorisch gibt es natürlich das Problem, wo die Verbände und Archive der Opfer des Staatsterrors der DDR einzuordnen wären. Bisher wurden sie wechselnd aus den den Bereichen Kultur, Soziales oder gar Jugend finanziert. Die Landesbeauftragten für Stasiunterlagen verfügen über einen knappen Haushalt und werden offensichtlich hauptsächlich als Abstellgleis für kaltzustellende Personen aus Politik und Verwaltung gesehen. „Es gibt keine Lobby für Aufarbeitung und Opfer“, sagte mir Tom Sello, „und der politische Wille fehlt“.

Dabei wäre es doch eigentlich auf der Hand liegend, daß zumindestens ein Teil der beschlagnahmten DDR-Parteivermögen den Opfern und den einschlägigen Opferverbänden, Archiven und Forschungsgruppen zugute kommen müßten. Die „Unabhängige Kommission“ aber, die diese Parteivermögen verwaltet, überweist nach eigener Auskunft frei werdende Mittel an die Länder, die sie zu Zwecken der privaten Wirtschaftsförderung oder kulturellen Zwecken zur Verfügung stellen. Die Idee einer Stiftung für die Opfer jenes Regimes ist seit 1990 insbesondere von Konservativen häufig beklatscht und gelobt worden. Nur, daß bis jetzt kein Pfennig für eine solche Stiftung zur Verfügung steht. Dafür verabschiedete der Bundestag neulich die notwenigen Gelder für eine Bismarck-Stifung, weil scheintbar die Gebäude, die seinerzeit vom Kaiser und dem deutschen Volk der Familie Bismarck für ihre Verdienste um die deutsche Einheit und die Annektion von Elsaß-Lothringen geschenkt wurden, nicht mehr im besten Zustand sind. Die Neuadligen waren wohl zu stark mit Prassen beschäftigt, um auf den notwendigen Unterhalt der Immobilien zu achten. Dagegen sind die Entschädigungen, die nach dem Unrechtsbereinígungsgesetz Opfern der DDR-Repression zur Verfügung gestellt werden, minimal und werden viele erst nach ihrem Lebensende erreichen. Ausnahmen werden nur mal beispielsweise im Falle der Wittenberger KZ-Aufseherin Pietzner möglich, die durch Vermittlung der VPM nach knappen zwei Monaten schlappe 50.000 Mark erhielt.

Die Opferverbände und Archive scheinen aus den Vorgängen in der Tat den Schluß zu ziehen, man müsse sich eben stärker mit den Herrschenden einlassen, um die notwendigen Gelder zu bekommen. Verwiesen wird auf das Beispiel des Leipzigers Uwe Schwabe und des Domaschk-Archivs Jena, die sich unter den Schutz des Hauses der Geschichte gestellt haben und jetzt in froher Voraussicht der Teilhabe am munter plätschernden Millionenbrunnen in Leipzig eine Stiftung in Gründung gegründet hätten? Hinzu kommen die bösen Erfahrungen von DDR-Oppositionellen mit der westdeutschen Linken in der Vorwendezeit: „Es ist doch so“, sagt mir mein Freund Thomas Auerbach, „daß wir als DDR-Exilanten in all den Jahren der Zusammenarbeit mit den Linken, den Grünen und der SPD bis auf sehr wenige Ausnahmen wie Petra Kelly und Horst Bastian nur Mißtrauen und Obstruktion geerntet haben. Wir sollten mit all denen zusammenarbeiten, die uns helfen wollen, unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Aber am ehesten finden wir derzeit eben bei der CDU Verständnis.“

Ich denke aber doch, daß die oben dargestellten Beispiele zeigen, daß auch die zunehmende Annäherung an die CDU nicht allzuviel bringt. Und selbst wenn man am Ende etwas Kohle für ein weiteres halbes Jahr Überleben herausgeschunden hat, bleibt doch die Frage der Würde, der Unabhängigkeit und des Stolzes. Das Problem ist doch, ob es inhaltlich im Sinne der Opfer eines Regimes richtig sein kann, beim nächsten Regime zu Kreuze zu kriechen, bis man aus Gnade ein paar verschimmelte Pfennige erhält. Die mageren Möglichkeiten für Aufarbeitung und Rehabilitation, das Stasiaktengesetz und das Unrechtsbereinigungsgesetz wurden nicht erbettelt. Sie wurden 1990 mit großem Einsatz von AktivistInnen quer durch die DDR erkämpft und erhandelt.

Die Verhandlungen scheinen derzeit günstigstenfalls an einem toten Punkt angekommen zu sein. Und an einem solchen Punkt liegt es selbst für die sklerotisierten deutschen Gewerkschaften auf der Hand, daß nun gekämpft werden muß. Ich denke, die DDR-Opferverbände, die Archive und die Wissenschaftler sollten endlich zu einer ähnlichen Schlußfolgerung kommen und neue Bündnispartner suchen. In Berlin beispielsweise gibt es das Bündnis gegen Sozialabbau, das die Interessen der Zivilgesellschaft gegen die obrigkeitlichen Umverteilungswünsche vertritt. Warum nicht zur Abwechslung mal wieder auf die Straße gehen und kämpfen, statt immer wieder rhetorisch die Bilder von der mehr oder weniger friedlichen Revolution von 1989 heraufzubeschwören? Derzeit besteht in der Öffentlichkeit der deutliche Eindruck, daß DDR-Oppositionelle und Repressionsopfer eine Klientel der herrschenden Parteien und Wirtschaftscliquen sind, von diesen finanziert und gelenkt werden. Daß dem nicht so ist, sollte klargestellt werden. Und auch aus weit prinzipielleren Überlegungen sollten sich die Verbände endlich wieder mal auf die Seite der Rebellion begeben.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph