Der lange Abschied vom Verklärungszwang: Wer hat die SED gezeugt?

von Thomas Klein
aus telegraph 5/1996

Beim Bankett anläßlich des Forums der historischen Kommission der SPD in Berlin zum bevorstehenden Jahrestag der SED-Gründung tauchte im Getümmel um das kalte Buffet bei einem verwunderten sozialdemokratischen Genossen plötzlich die Frage auf, warum seine Partei diesem Ereignis so viel mehr Gewicht beimißt, als im Jahr zuvor dem Jubiläum des SPD-Gründungsaufrufs vom Juni 1945. Warum erinnert sich die SPD nur mühselig an den Tag ihrer Wiedergeburt 1945 und so kräftig an ihr Ende 1946 im Osten ? Weil mit letzterer Frage auch andere Parteien gute Chancen sehen, auf Kosten der SPD Politik zu machen. Da gibt es offenbar weniger zeithistorischen Klärungsbedarf als Gerangel um die Deutungsvormacht – denn alle Kontrahenten verfügen über die gleichen zeitgeschichtlichen Dokumente. Auf dem aktuellen Debattenschlachtfeld jenseits wissenschaftlicher Seriosität bewegt sich der Streit etwa auf folgenden Niveau: Hat die KPD die SPD vergewaltigt oder nur betrogen ? Ist letztere Partner einer Liebesheirat, einer Vernunftehe oder Opfer eines Heiratsschwindels gewesen ? War die SED Frucht dieser Verbindung oder war die SPD vielmehr Opfer eines Meuchelmords am Blutspender für die KPD ? usw.

Der Eiertanz um die Geschichte der Vereinigung von KPD und SPD hat zum 50. Jahrestag der SED-Gründung einen neuen Höhepunkt erreicht. Im Jahre 6 der „deutschen Einheit“ neuer Zeitrechnung erinnert die CDU gern an diese Parteienhochzeit, bei der sich die SPD angeblich nur zu bereitwillig den „Elementen des Zwangs“ gebeugt hätte. Endlich eine Gelegenheit, vom Blockflötenballast der Ost-CDU und deren erster Freiübung in Gestalt des Befreiungssprungs unter die Rockschöße des Bundeskanzlers abzulenken. Mit Hinweis auf die aktuelle PDS-Hilfestellung für die Regierung in Sachsen/Anhalt wird zugleich eine Kontinuität der SPD-Bereitschaft zur Kollaboration mit „den Kommunisten“ entdeckt.

In der Erklärung der historischen Kommission der PDS wird gleichfalls vom Einheitsdrang in KPD und SPD ausgegangen, dabei jedoch sehr viel überzeugender mit den historischen Lehren aus der größten Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung 1933 argumentiert, denen angeblich 1946 mit der Gründung der SED Rechnung getragen wurde: Mit dieser Parteibildung sei die so verhängnisvolle Spaltung der Arbeiterbewegung endlich aufgehoben worden. Auch hier werden „Elemente des Zwangs“ gegenüber der SPD nicht geleugnet, jedoch die Vereinigung mit der KPD im Kontext des antifaschistisch-demokratischen Neubeginns interpretiert.

Angesichts dieser bizarren Interpretationsgemeinschaft von CDU und PDS bei der Aufwertung des Aspekts der Freiwilligkeit jener Parteienverschmelzung hat die SPD alle Hände voll zu tun, diesem Wertungsmuster mit der Betonung des Gewaltcharakters der SED-Gründung zu begegnen. Die Verteidigungslinie wird in Erinnerung an Schumachers konsequenten Antikommunismus, an die Ergebnisse der Berliner SPD-Urabstimmung 1946 (die im Osten verboten wurde) und an die späteren Massenrepressalien gegen ehemalige SPD´ler in der SED befestigt.

Eine Auseinandersetzung mit Einlassungen der CDU/CSU kann man sich durchaus schenken.
Doch der SPD und der PDS sind angesichts ihrer jeweiligen parteioffiziellen Positionierungen einige Fragen nicht zu ersparen.
Warum gedenkt die SPD nicht auch den sozialdemokratischen Versuchen, von Anfang an eine nicht an die alten Organisationsformen anknüpfende neue Einheitspartei für die ganze Arbeiterklasse aufzubauen ? Neben den dominanten Bestrebungen, die SPD nach Kriegsende wiederzugründen, scheiterte der Versuch des Thüringer Sozialdemokraten Hermann Brill, eine Einheitspartei mit dem Namen „Bund demokratischer Sozialisten“ ins Leben zu rufen, an der Zustimmungsverweigerung der SMAD. Und in der französischen Zone erstickte die Bildung einer „Sozialistischen Partei“ unter Einschluß der Kommunisten an der Wiedergründung der KPD. Natürlich hatten zu diesem Zeitpunkt weder die Sowjets noch die KPD-Wortführer Interesse an einer Einheitspartei. Jedoch drückten solche sozialdemokratischen Initiativen ebenso wie dann von der KPD-Führung abgewiesene frühe Versuche des Berliner Zentralausschusses der SPD, die organisatorische Einheit zu erörten, eine reale Stimmung großer Teile der Sozialdemokraten aus. Und die äußerst kritische Sicht auf die Politik der eigenen Partei während der Weimarer Republik war nicht nur bei den deshalb eine Einheitspartei befürwortenden Sozialdemokraten verbreitet, sondern auch bei den überzeugten SPD-Wiedergründern aller Zonen.
Und wie will die SPD glaubhaft machen, daß 1946 über 500.000 ostdeutsche Sozialdemokraten allein durch Zwang in die gemeinsame Partei gingen, wenn selbst bei der immer wieder zitierten westberliner Urabstimmung (wo 82 % der abstimmenden Sozialdemokraten den Zusammenschluß ablehnten) sich 62 % für ein Bündnis beider Parteien aussprach ? Man darf jenseits beflissener sozialdemokratischer Verteidigungsrhetorik mehr als nur „Elemente von Freiwilligkeit“ vermuten, auch wenn viele Dokumente zweifellos auf eine Mehrheit der Gegner einer sofortigen Parteienfusion im Osten schließen lassen. Und hat nicht gerade Schumachers permanente Weigerung, einem gesamtdeutschen SPD-Parteitag das Plebiszit in dieser Frage zu übertragen, den Stalinisten in die Hände gearbeitet ?

Andererseits: Wie kann die historische Kommission der PDS auf der empörenden Formulierung „Elemente von Zwang“ im Vollzug der Parteienverschmelzung angesichts dokumentarisch belegter weitreichender Pressionen gegen vereinigungsunwillige Mitglieder beider Parteien und angesichts Zehntausender später ausgeschlossener und mindestens 5000 verhafteter Sozialdemokraten bestehen ?
Die politischen Hintergründe sind doch durch eine Fülle von Dokumenten belegt: Mit der schnell erstarkenden SPD in der Ostzone, dem Rückzug des sozialdemokratischen Zentralausschusses von ihren Offerten der organisatorischen Verschmelzung zugunsten eines eigenen angemeldeten Führungsanspruchs und vor dem Hintergrund katastrophaler Wahlergebnisse der kommunistischen Parteien in Österreich und Ungarn schwenkte die KPD-Führung Anfang 1946 nach Abstimmung mit Stalin rigeros auf die ehemalige Position des SPD-ZA vom Juni 1945 um. Es ist inzwischen belegt, daß der KPD-Druck in Richtung Einheitspartei nicht in erster Linie aufgrund einer mehrheitlichen bedingungslosen Ablehnungsfront innerhalb der SPD gegen diese Vereinigung, sondern zur Durchsetzung des von der KP-Führung forcierten schnellen Zusammenschlusses noch vor den Wahlen ausgeübt wurde. Es liegt auf der Hand, daß die KPD-Führung angesichts der wachsenden Akzeptanz der sich Ende 1945 gut konsolidierten SPD ihre angestrebte Hegemonie um so mehr gefährdet sah, wie sich die formal in Aussicht gestellte Fusion verzögerte. Überdies wuchs im Verlaufe des Jahres 1945 die Skepsis und das Mißtrauen in den SPD-Basisorganisationen gegenüber der KPD-Führung. Die Mehrheit der SPD-Mitgliedschaft der SBZ befürwortete daher einen längeren Prozess der Zusammenarbeit, aber durchaus mit der Perspektive der gleichberechtigten Vereinigung. Daher ist die Kontroverse „freiwillige oder erzwungene Vereinigung“ relativ weit von der tatsächlichen Problematik damaliger inner- und zwischenparteilicher Auseinandersetzungen entfernt. Trotzdem bleibt es wahr, daß eben aus den oben genannten Gründen seitens der KPD-Führung und der sowjetischen Besatzungsmacht erheblicher Druck und zum Teil terroristische Methoden überall dort angewandt wurden, wo seitens vereinigungsunwilliger SPD´ler Widerstand gegen die sofortige Verschmelzung geleistet oder erwartet wurde. Das erhebliche Ausmaß dieser Pressionen verniedlichend und kontextverfälschend als „Elemente von Zwang“ zu qualifizieren, disqualifiziert das von Benser im Namen der historischen Kommission der PDS verfasste Papier zur SED-Gründung.

Merkwürdig bekannt mutet die stille Duldung der haarsträubenden Entstellung historischer Tatsachen durch die Mehrheit der PDS-Historiker an, denen (was strafverschärfend hinzukäme) doch heute im Gegensatz zu früheren Zeiten innerparteilich nicht mehr der Mund verboten werden kann. Aber noch interessanter ist die Prüfung des sich aufdrängenden Verdachts, Bensers Papier sei eher als Dienstleistung für den Parteivorstand im Sinne eines „die Lage der Partei“ verbessernden politischen Schachzugs aufzufassen. Denn was steckt eigentlich hinter obiger verharmlosender Formulierung im Papier der historischen Kommission der PDS ?

Erinnern wir uns, worin seit 1992 der Minimalkonsens zwischen den Stalinisten, den aufgeklärten Traditionskommunisten und den sozialdemokratischen Profilgebern der PDS bestand: Die Formel vom „demokratischen Neuanfang“ in der SBZ und die Beschwörung der „historischen Legitimität des Versuchs, auf deutschem Boden eine sozialistische Alternative zum Kapitalismus“ aufzubauen, eint seither Wagenknecht, Benjamin, Heuer und Bisky über die nach wie vor gravierenden Differenzen (Stasi-Beschluß, Stalinismusdebatte ect.) hinweg. Dieser faule Kompromiß zugunsten des Zusammenhalts der Partei wurde zudem noch von der Kapitulation des schwachen linken Flügels in der PDS und dem dröhnenden Schweigen der in diese Partei abgetauchten vereinzelten Westlinken begünstigt. Inzwischen funktioniert die eher disparate Koalition von einigen standfesten Dogmatikern und tonangebenden Propagandisten einer demokratisch-sozialistischen Neuorientierung der PDS (fußend auf von der SPD geräumten Positionen) auch auf dem Boden revitalisierter Ost-Identität: Der Instinkt für die Notwendigkeit eines zumindest rudimentären positiven Bezugs auf die DDR-Vergangenheit hat sich in dem Maße verstärkt, wie die Einsicht wuchs, noch auf lange Zeit Regionalpartei bleiben zu müssen. Ostgeprägte Identitätsgebung gebot also die Entdeckung auch heute noch legitimierbarer Elemente sozialistischer Politik im stalinistischen Nachkriegs-Ost-Deutschland – möglichst solcher, die das Abgrenzungsgebaren des Wunschpartners SPD erschweren. Da liegt es natürlich auf der Hand, daß sich solche Entdeckungen überaus schwierig gestalten, wenn sich die PDS auf die Anerkennung der SED-Geburtsstunde als Gewaltakt einließe: Sollte bereits 1946 der „demokratische Neuanfang“ vorbei gewesen sein, bliebe nicht mehr viel Spielraum für seine Entdeckung. Da man in der PDS nicht mehr wie ehemals in der SED über die Interpretationsmacht historischer Tatsachen verfügt und Zwang eine dieser Tatsachen ist, spricht man also von „Elementen des Zwangs“. Und worin besteht die rechtfertigende Attitüde dieser feigen Sprachregelung? Das Diktum „Zwangsvereinigung“ umfasse nicht den ganzen Kosmos an historischer Konkretheit! Sich aber selbst auf diese einzulassen, verbietet das oben beschriebene politische Kalkül der Parteitaktiker. Denn die Risiken, den tatsächlichen Charakter stalinistischer Politik von KPD-Führung und sowjetischer Besatzungsmacht im Nachkriegsdeutschland zu analysieren, werden aus ihrer Sicht und nicht ohne Grund für zu groß gehalten. Das gefürchtete Ergebnis einer solchen Analyse bestünde nämlich in dem Resultat, daß linke Politik sich von Anfang als Widerstand gegen die im Osten erzwungene stalinistische Alternative zum Sozialismus hätte kenntlich machen müssen. Die Schwäche dieser linken antistalinistischen Opposition, ihre brutale Unterdrückung und ihre Niederlage hat letztendlich dem Scheitern des politbürokratischen „Staatssozialismus“ die Gestalt seiner Auflösung hinein in den real existierenden Kapitalismus annehmen lassen. Schon dies zu akzeptieren, fällt Vielen in der PDS schwer genug. Sich aber im Namen der PDS auch noch zu diesem linken Widerstand von Anfang an zu bekennen, kollidiert offenbar in unerträglicher Weise mit dem Umstand, aus gerade der Partei hervorgegangen zu sein, die man auf so eindeutige Weise zu verurteilen hätte. Dann nämlich wäre 1989 nicht nur eine Entschuldigung der SED/PDS vor dem Volk der DDR nötig gewesen, sondern eine klare Distanzierung von der SED und damit die Auflösung der Partei. Dieser Neuanfang scheiterte bekanntlich an einer Mischung aus Feigheit und Berechnung der Parteiführung. Und diese Mischung wirkt, wie wir wiederum sehen, auch in der Debatte um die SED-Gründung fort.

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