Über den Tellerrand schauen

Ein Interview zu den Aussichten der Berliner Studentenproteste

aus telegraph 5/1996

Vor dem Berliner Roten Rathaus, wo seit Wochen eine Mahnwache der Berliner Studenten steht, habe ich mit zwei Mitgliedern des studentischen Aktionsrates ein Interview geführt. Ronald heißt Ronald Höhner und ist Mitglied des ReferentInnenrates der Humboldt-Universität (entspricht dem AStA an anderen Universitäten) und Referent für Lehre und Studium. Der andere, den wir Daniel nennen wollen, möchte nicht mit seinem Orginalnamen auftreten, weil er, wie es dunkel hieß, „schon Schaden erlitten hat“. Beide waren ein wenig düsterer Stimmung, aber umso realistischer ist vielleicht das Bild, das sie von den Berliner Studentenprotesten geben.

telegraph: Es gab ja in den vergangenen Wochen hier eine ganze Reihe von wirklich schönen Aktionen. Beispielsweise der Umzug der Theologen mit den Posaunen von Jericho um das Rote Rathaus.

Ronald: Die Theologen haben eine ganze Woche am Rathaus verbracht. Am Montag sind sie mit Posaunen um das Rathaus gezogen. Das erste Mal still, das zweite Mal hat eine Posaune gespielt. Es wurde immer lauter. Und irgendwie sind dann in der Bibel die Mauern von Jericho gefallen. Hier allerdings nicht. Dann haben sie jeden Tag so eine Bibelgeschichte hier am Roten Rathaus nachgespielt. Das war eine richtig nette Aktion. Sie haben ihre Theorie praktisch angewendet. Das war kreativer Widerstand. Die Theologen arbeiten schon seit Jahren zu gesellschaftlichen Themen. Es gibt auch ein paar andere Fachschaften. Die Geographen sind immer sehr aktiv, auch die Rehabilitationswissenschaften. Und dann gibt es ein paar Fachschaften, die machen gar nichts, Wirtschaftswissenschaften oder Mathematik. Obwohl die Mediziner, von denen man gar nichts hörte, in diesem Semester mal drei Monate Streik hingekriegt haben und sich in Arbeitsgruppen mit den Themen inhaltlich beschäftigten. Da sind vor allem die jüngeren Semester, die noch nicht ganz so auf ihren Abschluß und die Prüfungen fixiert sind.

Es gibt durchaus auch Professoren, die sagen: „Ich bitte euch, den Vorlesungssaal zu verlassen, damit hier weniger als drei Leute sitzen und ich die Vorlesung ausfallen lassen kann. Ich kann sie nicht von mir aus absetzen. Aber ich bitte euch einfach, jetzt rauszugehen!“ Es gibt einige Professoren, die die Studis mental zum Widerstand bewegen. Es sind Autoritäten, auf die man hört. Wir können uns den Mund fusselig reden. Wenn ein Professor sagt, daß das wichtig ist, gibt es eben viele Studenten, die darauf hören.

telegraph: Das soll auch der Unterschied zu 1993 sein, daß jetzt viele Professoren hinter dem Widerstand stehen.

Ronald: Damals ging es um das Eingriffsrecht, wobei einige Fachbereiche vom Senat geschlossen werden sollten. Es ging um die Studiengebühren, später dann um die Zwangsberatung, sowie Senkung der Studentenzahlen. Es hat die StudentInnenschaft betroffen und nicht die Professoren. Jetzt sind die Professoren insofern beteiligt, als man nicht mehr nachvollziehen kann, welche Fächer der Senat schließt. Man kann es nicht mehr vorausplanen. Es kann sowohl die Naturwissenschaften in der Freien Universität erwischen, es kann aber auch sein, daß man die Technische Universität vollkommen von den Naturwissenschaften befreit und daraus eine Fachhochschule macht oder die Humboldt-Universität. Dadurch gibt es viele Professoren, die berechtigt um ihren Arbeitsplatz Angst haben und die Studenten vorschieben, um für ihre Rechte zu kämpfen. Aber von der Humboldt-Universität ist mir kein Professor bekannt, der sich voll hinter die Studenten gestellt hat und stolz ist auf die Emanzipation dieser Studentenschaft ist, die sich endlich mal über ihren Tellerrand bewegt und mit anderen Dingen beschäftigt. Da gibt es an der FU, beispielweise den Professor Narr…

telegraph: … Ein stadtbekannter Meckerer und Stänkerer…

Ronald: Dort gibt es jedenfalls ein paar, die man sich als Quotenprofessoren auf das Podium holt und die für einen reden. Aber in der Humboldt-Universität bleiben viele professorale Diskussionen daran hängen, daß sie das Haushaltsstrukturgesetz für den Bildungsbereich kippen wollen und alle Kürzungen im Hochschulbereich zurückdrehen wollen. Es reicht nicht mal dazu, daß sie vom Bildungsbereich sprechen. Sie reden vom Hochschulbereich. Das ist eine Sache, wo wir mit den Professoren keine gemeinsame Aktionsmöglichkeit sehen.

Daniel: Der Bündnisgedanke, von dem man in dieser Stadt redet, ist aber auch bei den Studis nicht allzuweit verbreitet. Die Leute, die aktiv sind, sehen diesen Bündnisgedanken, aber die Masse der Studentinnen und Studenten sieht das nicht. Es kommt immer wieder vor, daß man (oder frau) fragt: „Warum soll ich denn für eine materielle Grundsicherung von 1.500 Mark auf die Straße gehen?“

Ronald: Die Studis haben keine Schwierigkeit, verbale Solidarität mit anderen zu üben, solange es dabei bleibt. Es ist aber sehr schwer klar zu machen, daß es nicht reicht, gegen 100 Mark Studiengebühr und für 100.000 Sudienplätze in Berlin zu sein. Dann kommt maximal noch „Gegen Sozialabbau und Bildungsklau!“. Irgendwie gehört der Sozialabbau als Wort schon rein. Aber über die verbale Solidarität geht es nicht hinaus. Ich denke, wenn sie uns die 100 Mark Sudiengebühr erlassen, sind die studentischen Proteste damit wahrscheinlich erledigt. Daß wir nicht das eigentliche Problem in dieser Stadt darstellen, sondern es andere gibt, denen es schlechter geht, wird nicht begriffen. Ich denke, selbst die Forderung nach Erhalt der 100.000 Studienplätze ist keine Forderung, hinter der sie wirklich stehen, weil sie sich damit für die nächste Studiengeneration stark machen müßten. Der Egoismus ist noch sehr weit verbreitet. Obwohl gegenüber 1993 schon ein Fortschritt da ist.

Daniel: Ich glaube, die StudentInnen merken jetzt doch langsam, daß es etwas anderes gibt als sie und sind damit beschäftigt, sich sozusagen ein bißchen zu bilden.

Ronald: Ja, ich höre immer mehr Studenten beim Mittagessen zumindestens über hochschulpolitische Angelegenheiten reden. Das gab es 1993 nicht. Sie lesen die Zeitung aufmerksamer, sind ein bißchen informierter. Viele sagen mir, daß sie deshalb nicht auf das Soziale gucken, weil sie so wenig wissen. Aber ich wußte vor zwei Jahren auch nichts. Mich hat es einfach nur angekotzt, der 116a, die Geschichte mit dem Paragraphen 218. Ich wußte doch auch nichts. Aber ich wußte, daß es Scheiße ist. Das war Grund, warum ich mich engagiert habe. Ich habe einfach einen Anspruch an Studenten und Studentinnen. Ich erwarte, daß sie denken und aus ihrem theoretischen Wissen etwas ableiten.

Daniel: Stattdessen suchen sie nach Führern. Wir machen seit November den Aktionsrat. Wir hatten das Anliegen, für die ganze Uni da zu sein. Das hat uns sofort in eine Sockelposition gebracht. Wir werden in Rollen gedrängt, die wir gar nicht spielen wollen.

Ronald: Viele Studenten sind eben nur Widerstandskonsumenten. Ich habe das Gefühl, viele nehmen nur deshalb teil, um zu Hause ihren Freunden erzählen zu können, „Wir waren beim großen Berliner Widerstasnd dabei“. Das reicht ihnen. Es ist ihnen weder wichtig, um was es wirklich geht, noch für ihre Uni etwas zu erreichen. Sie kommen aus ihren Seminaren, nehmen zwei Stunden teil, haben Spaß daran und dann gehen sie wieder. Es gibt ernsthafte Diskussionen in den Fachschaften, ob eine Streikwoche wirklich wichtig sei. Man solle doch lieber die erste Woche am Montag, die nächste Woche Dienstag und in der übernächsten Woche nicht demonstrieren, weil da so viele Feiertage sind und ohnehin so viel ausgefallen ist. Der Protest könne doch auf fünf Wochen gestreckt werden und sogleich würden sich mehr Leute finden, insofern ja acht Tage und Ausruhen und Motivieren zur Verfügung stehen. Viele Studenten wissen einfach noch nicht so richtig, warum sie demonstrieren. Studenten müssen schließlich in ihrer Studienzeit mal was gemacht haben. 1996 haben sie mal die Chance dazu. Und dann können sie ihr Leben lang davon erzählen.

telegraph: Ist der Studentenprotest eigentlich konstant, ist er am Abbröckeln oder habt ihr das Gefühl, daß etwas wächst? Am Anfang waren es natürlich 50.000. Aber später stellt sich dann eine bestimmte Konstanz her oder es bröckelt.

Ronald: Worauf ich baue, ist das, daß sich der Aktionsrat jetzt aus dieser Sockelposition zurückgezogen hat und sagte: „Wir organisieren Euch jetzt nicht mehr alles. Macht es selbst, wenn ihr wollt!“ Und es läuft eben trotzdem noch relativ viel. Die Fachschaften wollen nicht aufhören und machen weiter. Das sieht man hier auch bei der Mahnwache. Da macht mal diese, mal jene Fachschaft 24 Stunden Mahnwache. Das regt weder der Ref-Rat als oberste Instanz noch der Aktionsrat an. Das läuft von ganz allein. Zum Beispiel der Trauermarsch. Das haben Studis gemacht, mit denen wir nichts zu tun haben. Wir haben ihnen ein bißchen Infrastruktur zur Verfügung gestellt. Aber den Aufzug haben sie selbst gemacht. Die öffentlichen Vorlesungen laufen auch weiter, obwohl es keinen von der Vollversammlung verabschiedeten Aufruf mehr gibt. Die Frage ist nur, wie lange es dauert, bis diese Leute auch frustriert sind. Es ist zur Zeit nicht der Funke da. Die Freie Universität hat jetzt unbefristeten Streik beschlossen. Aber ich denke, wir haben an der Humboldt-Universität nicht die Stimmung dafür, davon sind wir weit enfernt. Ich hoffe darauf, daß die Gewerkschaften in dieser Stadt irgend etwas auf die Reihe kriegen und daß man sich dort solidarisch einklinkt. Daß dieser Bündnisgedanke vertieft wird, gegen den die Studis eigentlich nicht argumentieren können, hinter dem sie aber noch nicht stehen. Keiner kann sich heute auf ein Vollversammlung stellen und sagen: „Ich bin Student und sehe nicht ein, daß ich für fremde Interessen auf die Straße gehe. Ich gehöre später mal zu den Gewinnern. Deshalb ist es mir scheißegal, was aus den anderen wird!“ Das wird wahrscheinlich nicht mehr passieren können, ohne daß der ganze Saal pfeift.

telegraph: Das ist früher so passiert?“

Ronald: 1993 gab es solche Meinungen. Die Hälfte des Saals hat gebuht und die anderen haben geklatscht. Das ist jetzt Gott sei Dank vorbei. Ich denke nicht, daß wir es vollständig geschafft haben. Aber zumindestens ist die Hemmschwelle, so etwas öffentlich zu erklären, sehr hoch. Man kann nicht nur gegen Bildungsklau sein, der Sozialabbau gehört dazu. Das hat sich ein bißchen festgesetzt. Aber die Humboldt-Uni braucht jetzt einen Funken von außen, eine Sache, bei der wir mitmachen. Es muß schon der wildeste Streik in der Freien Uiversität ausbrechen, damit das unsere Studenten mitreißt. Ein Streik der BVG oder der Stadtreinigung wäre ein wichtiger Punkt. Dann kann man sich solidarisch erklären. Das rechtfertigt auch eine neue Vollversammlung. Das muß aber bis Mitte Juni passieren, sonst sind die Prüfungen wieder so nahe, daß viele meinen, jetzt für die Prüfung lernen zu müssen. Ich meine nicht, daß ich das nicht verstehe. Aber ihr persönliches Studium ist ihnen eben wichtiger als das, was von außen kommt. Sie haben noch nicht die Energie. Es reicht noch nicht aus, sie von diesem Studentendenken runterzuholen. Sie sind immer noch Studenten und im Bauch sehr egoistisch. Im Kopf haben es sicher viele schon begriffen, aber der Bauch fehlt.

Daniel: Politischer Widerstand bedeutet ja auch, daß man seine Sicherheit aufgibt. Ich studieren zum Beispiel im Moment gar nicht, sondern mache nur nebenbei irgendwelche Arbeiten.

telegraph: Du erstreitest möglicherweise nur Rechte für andere und wirst dann selbst sozusagen ein „Opfer der Revolution“.

Ronald: : Wenn Studenten wirklich marktwirtschaftlich denken würden, müßten sie begreifen, daß es Folgen hat, wenn sie ein Semester vollständig sabotieren. Das würde Folgen haben, weil ein ganzer Abgangsjahrgang fehlt und weil man dann ein Problem mit den Erstsemestern hat. Das wäre für die Unis eine wirklich schwierige Situation. Wenn man ein Semester lang innerhalb der Universität aufräumt und nach außen politische Forderungen vertritt, erreicht man wesentlich mehr. Man hat in den nächsten Semestern ein viel ruhigeres Studium, als wenn man jedes Semester wieder von Null mit ganz neuen Leuten anfängt.

telegraph: Wie sind die Beziehungen zum Bündnis gegen Sozialabbau?

Ronald: Das Bündnis wurde maßgeblich von Studenten der Humboldt-Universität initiiert, zusammen mit einigen Initiativen, mit denen man schon länger zusammen arbeitete. Es tagt jede Woche in der Humboldt-Universität. Es sitzt sowohl der Aktionsrat drin als auch der ReferentInnenrat. Die aktiven Studis arbeiten beim Bündnis für Sozialabbau mit. Über die Humboldt-Uni kann man sich da nicht beschweren. Da ist eher die Technische Universität ein bißchen düftig vertreten. Das Bündnis spielt in unserer Studentenpolitik eine große Rolle. Wir wehren uns immer gegen Aktionen, die auf reine Studenteninteressen abzudriften drohen und versuchen immer wieder den Bündnisgedanken hineinzubringen.

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