Reminiszenzen an die Dresdner Stasiauflösung

aus telegraph 6/1990
vom 30.03.1990

Haben alten und neue Machthaber einen Teufelspakt geschlossen?

Das Unheimliche an dieser „Revolution“ in der DDR ist, daß immer noch niemand weiß, warum und wie die Regierung die Macht verlor, warum die Opposition plötzlich so viel Einfluß gewann und wie dieser Einfluß wieder verlorenging. Das zeigt sich auch an einer alten Geschichte aus Dresden, die wir im Folgenden wegen ihres symptomati­schen Charakters bringen.

Johanna Kalex ist vom Dresdner Friedenskreis Wolfspelz, der in Mielkes Berichten an das Politbüro eine nicht unmaßgebliche Rolle spielt. Auch zum Sturm auf die Stasi am 6. Dezember hat Wolfspelz zusammen mit einer anderen Gruppe aufgerufen. Schon damals gelang es Johanna nur mit größter Energie, sich einen übermannshohen Panzer­schrank öffnen zu lassen, in dem sich auch richtig nichts befand.

Als Johanna am 26. Dezember als Mitglied des Bürgerkomitees in die Stasizentrale in der Bautzener Straße zurückkehrte, fand sie einen Teil der staatsanwaltlich versiegelten Räume geöffnet. Im ordentlich versiegelten Fotolabor stand der Tischkalender auf dem 20. Dezember. Im ebenfalls versiegelten Hauptarchiv riß der Archivleiter Kurt Papst hastig schwarze Vorhänge von den Fenstern ab. Im Keller mußte Johanna vor einem Stasimann ausreißen, der in einem aufgebro­chenen Raum bedrohlich auf sie zukam. Die systematische Verunsiche­rung der Leute des Bürgerkomitees wurde durch den witzigen Umstand gefördert, daß die noch anwesende Stasi sämtliche Schlüssel und Siegel und auch die Kenntnis über die Codes besaßen.

Johanna bekam den deutlichen Eindruck, daß die Stasi hinter dem Rücken des Bürgerkomitees weiterarbeitet und teilte dies dem Funktio­när des Neuen Forum, Arnold Vaatz, mit, der damals im Bürgerkomi­tee eine wesent­liche Rolle spielte. Vaatz bat Johanna, vorerst den Mund zu halten. Das Bürgerkomitee habe Schweigepflicht und außerdem gebe es zahlreiche Morddrohungen, unter anderem gegen seine Kinder. Letzteres war richtig, auch ein Mitglied der Gruppe Wolfspelz hatte folgenden eigentümlichen anonymen Brief bekommen: „Du rotes Schwein, geh nicht auf die Straße. Wir Kriegen Dich. Hinter mir stehen tausende Genossen!“

Vaatz, mittlerweile CDU-Mitglied, versprach Johanna, daß er versuchen werde sie in das Regierungskomitee aufzunehmen. Dort würden dann Nägel mit Köpfen gemacht. Als dann Johanna am 3. Januar zur Aufnahme in das Regierungskomitee erschien, erwies sich, daß ihr Vaatz die falsche Zeit gesagt hatte. Er ließ sich auch in der Folge verleugnen. Ein Mitglied des Bürgerko­mitees teilte Johanna am Telefon immerhin das eine mit: „Haben Sie nicht gewußt, daß Sie gekippt worden sind?“

Dann gab es Ende Januar noch ein kleines Nachspiel. Drei Leute von Wolfspelz drangen an den Überwachungskameras vorbei über die Mauer in den Dresdner Stasistützpunkt ein. 3 Stunden bewegten sie sich unangefochten durch das Gelände. Siegel fanden sie erbrochen, hinter schwarzen Vorhängen sahen sie Licht brennen. Als sie das Gebäude dann durch den Haupteingang verließen, wurden sie von der Wache des Bürgerkomitees und der Polizei freundlich gegrüßt. Darauf­hin einer von den Eindringlingen, dem es zu bunt wurde: „Können Sie mir mal sagen, was ich hier zu suchen habe?“ Daraufhin Entschuldigun­gen von Seiten der Wächter. Die Überwachungskameras wären von den Bürgern bei der Erstürmung zerstört worden (nachweislich falsch!).

Am Morgen wurden dann zwei der drei Wolfspelz-Leute festgenommen und stundenlang von der Polizei verhört. Durch ein Gemisch aus Drohungen und Bestechungen sollten sie überredet werden, der Öffent­lichkeit nichts mitzuteilen. Das wäre gar nicht nötig gewesen, denn ein Brief, in dem die Gruppe Wolfpelz dem Bürgerkomitee und der Regierungskomission die Situation schilderte und Hilfe anbot, blieb bis heute ohne Antwort.

Bleibt die Frage, was hinter den Kulissen abläuft. Haben alte und neue Machthaber bereits einen Teufelspakt geschlossen oder ist die gegenseitige Schonung nur instinktiv? In jedem Fall ist klar: Die Verfolgten von gestern werden auch die Verfolgten von morgen werden.

s.j., r.l.

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