„Außer Spitzeln und Prokateuren alle eingeladen“

Ein Interview mit Boris Kanzleitner zum bevorstehen Interkontinentalen Treffen gegen den Neoliberalismus und für die Meschlichkeit im mexikanischen Bundestaat Chiapas

aus telegraph 6/1996

„Positiv war“, kommentierte im letzten „telegraph“ Boris Kanzleiter das Europäische Treffen gegen den Neoliberalismus und für eine menschliche Gesellschaft in Berlin, „daß es gelungen ist, ein europäisches Treffen zu organisieren, bei dem nicht die Berliner oder die Deutschen dominant waren. Das Treffen wurde von den internationalen Gästen geprägt. Frankreich und Spanien waren mit jeweils 200 Gästen vertreten, und sonst waren Leute aus fast allen europäischen Ländern dabei. Positiv war auch die Themenvielfalt in den Arbeitsgruppen und Diskussion. Sehr viele Arbeitsgruppen wollen weiter arbeiten, einige Treffen sind bereits verabredet. Es gibt Diskussionsbedarf. Die Stimmung war weder durch frustrierte Altlinke noch durch übertriebene Zapata-Euphorie geprägt. Schade ist, daß eine Diskussionsvernetzung zwischen den Arbeitsgruppen nicht zustande gekommen ist. Es gab eine große Themenvielfalt, aber eben deshalb die Gefahr des Ausfransens und der Beliebigkeit.“ Wir haben im Vorfeld des Interkontinentalen Treffens, zu dem jetzt die mexikanische Guerilla, die EZLN, eingeladen hat, Boris Kanzleitner von der Westberliner Mexiko-Gruppe noch einige genauere Fragen gestellt.

telegraph: Der Reader zum europäischen Kongreß gegen den Liberalisamus und für die Menschlichkeit ist noch nicht fertig, aber Du wirst vielleicht doch etwas mehr als ich aus den einzelnen Arbeitsgruppen wissen. Gehört habe ich unter anderem, daß auf dem Kongreß eine Zeitschrift gegründet worden ist.

Boris: Das ist eine der viele Initiativen, die auf dem Kongreß entstanden sind. Bei diesem Zeitschriftenprojekt wollen verschiedene Gruppen aus verschiedenen Ländern jeweils eine Nummer herausgeben. Die erste Nummer wird jetzt in Le Havre produziert und wird die Auswertung des Treffens in Berlin zum Inhalt haben. Die zweite Nummer wird von einigen Leuten in Berlin produziert und wird sich schwerpunktmäßig mit dem Interkontinentalen Treffen in Chiapas beschäftigen. Die dritte Nummer soll in Saloniki, in Griechenland produziert werden. Der inhaltliche Schwerpunkt dieser Ausgabe ist noch nicht geklärt. Aber jedenfalls soll die Redaktion die Texte nicht analysieren oder bewerten, sondern hat höchstens die Aufgabe der Koordination.

telegraph: Das ist eine Papierzeitschrift?

Boris: Es ist eine Papierzeitschrift, die aber sicher auch ins Internet kommt.

telegraph: In welcher Sprache?

Boris: Sie wird in jedem Fall immer in Spanisch und Englisch erscheinen. Dann hängt es an den einzelnen Gruppen, das in die jeweiligen Landessprachen zu übersetzen. Das kann die Redaktion nicht leisten.

telegraph: Welche andere Initiativen gingen vom Kongreß aus?

Boris: Das ist schwiertig zu sagen, weil es so viele unterschiedliche kleine Gruppen waren, die sich vernetzt haben. Es hat sich beispielsweise aus dem Frauenplenum heraus eine Initiative für ein europäisches Frauentreffen entwickelt. Die Neoliberalismus-Gruppe hat ein weiteres Treffen verabredet und wird wahrscheinlich einen Reader mit Beiträgen aus den einzelnen Ländern herausbringen, wo die jeweilige Situation analysiert wird und in Verhältnis zu den allgemeinen Entwicklungstendenzen gestellt wird. So gibt es viele unterschiedliche Initiativen und auch wir haben nicht den Überblick und warten jetzt erst mal das Interkontinentale Treffen ab. Wahrscheinlich werden wir im Herbst ein europäisches Nachbereitungstreffen organisieren, wo diese ganzen Initiativen zusammengefaßt werden und wo man dann auch entscheiden kann, welche Perspektive es gibt.

telegraph: Ich habe mit Erstaunen ein Kommunique des Berliner Kongresses gelesen, das angeblich vom Plenum verabschiedet worden ist.. Ich habe so etwas nicht mitgekriegt. In welcher Runde ist dieses Kommunique verabschiedet worden?

Boris: Das ist eine Erklärung, die von der Berliner Gruppe verabschiedet wurde und nicht ein Kommunique des Treffens an sich ist. Wir wollten das eigentlich als Abschlußerklärung einbringen. Das ist daran gescheitert, daß das Zwischenplenum, das die Abschlußveranstaltung hätte vorbereiten sollen, unter anderem wegen der Sprachbarrieren im Diskussions-Chaos versumpft ist. Das Kommunique ist auch auf der Abschlußveranstaltung vorgelesen worden und es gab keinen Widerspruch. Es ist aber nicht wirklich abgestimmt worden. Deshalb haben wir uns entschiedenen, es als die Erklärung der Berliner Vorbereitungsgruppe herauszugeben.

telegraph: Ich habe einige Hintergrundinformationen über die inneren Auseinandersetzungen in der Vorbereitungsgruppe. Demnach hat die Vorbereitungsgruppe zunächst über Wochen und Monate erst einmal diskutiert, ob der Begriff Neoliberalismus überhaupt für Deutschland zutreffend wäre. Daran wären fast die Vorbereitungen zur Einladung der Osteuropäer gescheitert. Außerdem habe es eine Intervention der Frauen-Lesben-Gruppen gegeben, dahingehend, daß erstes Thema in sämtlichen Arbeitsgruppen nicht der Neoliberalismus, sondern die Frauenfrage als Hauptfrage sein sollte. Daran sei der Kongreß fast gescheitert.

Boris: Es ist an allem etwas dran, aber es ist meiner Ansicht nach ein bißchen überspitzt. Der Begriff Neoliberalismus ist sowohl innerhalb der Vorbereitungsgruppe als auch bei vielen Interessenten am Kongreß zunächst auf Skepsis gestoßen. Es gab die Kritik, daß der Begriff Neoliberalismus zu stark auf ökonomische Umstrukturierungsprozesse abhebt und Machtstrukturen, Patriarchat und Sexismus ausklammert. Wir sind zwar gegen den Neoliberalismus, aber das reicht nicht, weil es nur die ökonomische Form, die wirtschaftliche Entwicklung beschreibt, aber die anderen Ausbeutungsverhältnisse nicht benennt. Diese Kritik wurde unter anderem von Teilen der Frauen-Lesben vorgetragen, die bei uns in der Vorbereitungsgruppe integriert waren. Es gab Auseinandersetzungen über den Titel und es waren nie alle hundertprozentig glücklich mit diesem Titel. Konsens war, daß der Neoliberalismus in Deutschland nicht das beschreibt, um was es uns geht. Es stand aber zu keinem Zeitpunkt zur Debatte, daß das Treffen daran scheitern würde.

Was das Thema Patriarchat als erstes Thema betrifft: Die Frauen-Lesben-Gruppe hat von Anfang an, bevor überhaupt verbindliche Strukturen zur Vorbereitung des Treffens da waren, beklagt, daß sie keinen Platz in der Vorbereitungsgruppe hätten. Während der Organisierung des Treffens haben sie das ständig wiederholt, auf dem Treffen haben sie das wieder beklagt und ich bin mir auch sicher, daß sie es in Zukunft weiter beklagen werden. Andere Teile der Gruppe, darunter auch ich, haben dem widersprochen. Natürlich hat die autonome Frauen- und Lesben-Organisierung ihren Platz im Treffen, einen gleichberechtigten Platz wie alle anderen Gruppen auch. Sie muß diesen Platz ausfüllen und kann nicht darauf warten, daß andere für sie diese Politik betreiben. Ein Problem war meiner Ansicht nach, daß die Frauen-Lesben-Gruppe durch ihren Separatismus letztendlich selbst verschuldet hat, daß sie in die Vorbereitung nicht so integriert war, wie sie es hätte sein können, wenn sie sich stärker in die Vorbereitungsgruppe eingeklinkt hätten. Aber die ideologischen Schablonen, die sie gegenüber gemischten Zusammenhängen haben, haben offenbar bewirkt, daß sie das von vornherein nicht wollten.

Aber es stimmt einfach auch nicht, daß sie keinen Platz auf dem Treffen hatten. Sie haben die besten Räume im Mehringhof, der das Zentrum des Treffens war, zur Verfügung gehabt. Sie konnten diese Räume ausfüllen, wie sie wollten, inhaltlich und personell. Und sie haben auch auf dem Schlußplenum genauso wie alle anderen, die Möglichkeit gehabt, ihre Themen einzubringen. Es war auch darüber hinaus vorgesehen, daß es auf dem Podium explizit feministische Positionen geben sollte. Sie haben einfach Möglichkeiten, die da waren, nicht ausgefüllt und ich kann nicht verstehen, warum sie sich darüber beschweren, daß es zu wenig Platz für sie gegeben hätte.

telegraph: Ist das nicht überhaupt das Phänomen, daß jetzt die autonome Weltanschauung am Ende angelangt ist und jetzt konfrontiert ist mit neuen Betrachtungsweisen aus der dritten Welt, der zweiten Welt und im eigenen Land mit neu erwachenden alten sozialen Bewegungen. Diese autonome Bewegung, die eine Zeitlang in einer Wohlstandsgesellschaft Bundesrepublik sehr lebendig war, beträgt sich jetzt ziemlich neurotisch.

Boris: Abgesehen davon, daß es meiner Ansicht nach d i e Autonomen nicht gibt, sondern unterschiedliche Gruppen, die sich auf eine autonome Geschichte beziehen und darin eine gewisse Klammer haben… . Abgesehen davon würde ich schon sagen, daß das Treffen eine ganze Reihe von autonomen und linken Strukturen vor ein Problem gestellt hat. Das Problem ist, daß die Zapatistas einschließende Politik betreiben. Sie versuchen, Übereinstimmung mit möglichst vielen sozialen Akteuren zu suchen, die sich auf unterschiedliche Weise auf unterschiedlichen Plätzen gegen den Neoliberalismus wehren. Sie versuchen möglichst weite Konsenskreise zu finden, um gemeinsam zumindestens einen kleinen Schritt zu gehen, auch wenn man dann den größeren Schritt nur mit weniger Leuten machen kann. Diese einschließende Politik stellt natürlich die puristischen autonomen Gruppen vor ein Problem. Auch bei uns in der Vorbereitungsgruppe zeigte sich, daß viele Leute Berührungsängste gegenüber sozialen Akteuren haben, die nicht in ihr Schema passen, weil sie anders angezogen sind, eine andere Geschichte haben, anders Politik machen oder einfach einen anderen Lebensentwurf haben, der nicht in dieses puristische Schema der Autonomen hineinpaßt.

telegraph: Negativ an der Einladung zum Interkontinentalen Kongreß in Mexiko fiel mir auf, daß im Unterschied zu den ersten Ankündigungen die Kontrolle doch recht rigide ist. Es wurden auf Anweisung der Zapatisten nationale Kommissionen gebildet, die diejenigen, die fahren wollen, überprüft und über die Zulassung zum Treffen entscheidet. Das Verfahren macht schon einen sehr polizeilichen Eindruck.

Boris: Meines Wissens nach ist bisher niemand ausgeladen worden außer den Leuten, die nicht eingeladen worden sind, und das sind Spitzel und Provokateure. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß in Chiapas eine Kriegssituation ist, obwohl der Dialog im Moment noch läuft. Aber es hat sich im Mai gezeigt, daß trotz der Friedensverhandlungen und der Garantien der Bundesregierung zwei Zapatisten unter der Vorgabe des Terrorismus verurteilt wurden. Die allgemeine Einschätzung von sehr vielen Aktivisten aus Mexiko ist, daß der Dialog irgendwann einmal endgültig zerbrechen wird. Das heißt, die EZLN muß jetzt für dieses Vorbereitungstreffen Vorsichtsmaßregeln ergreifen, und dazu gehört zum Beispiel diese rigide Registrierung der Teilnehmer. Einerseits muß ein Überblick da sein, wer kommt, um Interventionsversuchen von Provokateuren vorzubeugen. Und dann gibt es eben auch infrastrukturelle Probleme. Im Moment herrcht in den zapatistischen Gebieten Hunger. Die Ernte ist in diesem Jahr ausgefallen oder es ist wesentlich weniger geerntet worden, weil durch die Militärintervention vom 9. Februar 1995 die Aussaat nicht möglich war bzw. durch die Miltärs Saat regelrecht vernichtet wurde. Es muß also für die Leute, die kommen, eine Versorgung sicher gestellt werden. Das zapatistische Projekt ist ein einschließendes Projekt. Wenn jemand ausgeschlossen wird, dann nur deshalb, weil zu befürchten ist, daß er diesen gleichberechtigten Dialogprozeß torpedieren möchte durch irgendwelche partikularen Parteiinteressen, die dort keinen Platz haben. Man kann nicht mit jemand einen Dialog führen, der dazu nicht bereit ist.

telegraph: Subcommandante Marcos äußert in seinem Einladungsschreiben, daß alle, die zum Interkontinentalen Kongreß kommen „von uns gut empfangen werden oder jedenfalls von denen, die von uns übrigbleiben sind.“ Er scheint ja auch recht pessimistisch bezüglich der weiteren Entwicklung der Situation zu sein. Wie sind denn die Aussichten der EZLN und des dortigen autonomen Gebietes?

Boris: Also, ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber es zeichnet sich ab, daß sich die Situation in Mexiko zuspitzen wird. Der Regierung ist es gelungen, durch die Militäroffensive vom 9. Februar 1995 die Lebenssituation für die Basis der Zapatistas, für die indianischen Dörfer in der Aufstandszone zu verschlechtern. Natürlich hat diese Kriegsführung niedriger Intensität auch politische Wirkungen. Die Dorfgemeinschaften sind geschwächt. Die Regierung kann das ausnutzen, um Spaltungstendenzen zu säen. Bestimmte Gruppen werden privilegiert, bekommen Kredite, Saatgut, Kleidung oder Medizin und werden gegen diejenigen, die fest zum Zapatismus halten, ausgespielt. Es gibt einen Desintegrationsprozeß in der Demokratischen Versammlung des chiapatekischen Volkes, die im Frühjahr 1994, nach dem zapatistischen Aufstand, entstanden ist und fast alle Campesino- und Indigena-Organisationen in Chiapas umfaßt. Sie ist mittlerweile auseinandergefallen. Die Spaltungspolitik fällt auf immer fruchtbareren Boden, je schlechter die Situation in Chiapas wird. Die Leute brauchen einfach Saatgut, um zu überleben.

Anfang 1995 gab es bei vielen mexikanischen Linken noch die Spekulation, daß Präsident Zedillo nicht das erste Amtsjahr überleben würde. Er hat es überdauert, trotz Wirtschaftskrise. Es gibt natürlich eine Menge sozialer Konflikte, eine Menge Widerstand, aber letztendlich hat die schlimmste Wirtschaftskrise seit den dreißiger Jahren in Mexiko nicht dazu geführt, daß die soziale Mobilisierung und der Widerstand ansteigt. Es steigt eher die Verzweiflung an, die Kämpfe zerfransen und es treten neue Spoaltungstendenzen auf.

telegraph: In diesem Zusammenhang ist laut einem „taz“-Bericht eine neue Guerilla aufgetaucht, die nicht wie die EZLN Macht zurückdelegiert, sondern die gleichen Avantgardephrasen wie in den siebziger Jahren verkündet. Es gab in diesem Zusammenhang Vermutungen, daß es sich um eine gesteuerte Provokation handelt, die den Einsatz von Militär legitimieren soll.

Boris: Du spielst jetzt auf die EPR, die „Revolutionäre Volksarmee“ an, die sich am 27. Juni im Bundesstaat Guerrero zu Wort gemeldet hat. Obwohl wir noch wenig Informationen speziell zur EPR haben, würde ich einschätzen, daß es sich bei der EPR nicht um eine von der Regierung gesteuerte Provokation handelt, sondern tatsächlich um einen Ausdruck des wachsenden Widerstands der Campesino-Organisationen im Bundesstaat Guerrero. In diesem Bundesstaat gibt es seit Jahren sehr harte Auseinandersetzungen zwischen unabhängigen Bauernorganisationen und dem Gouverneur und der Zentralregierung. Die Tradition der Kämpfe in Guerrero ist aber eine ganz andere als die in Chiapas. In Guerrero gab es Ende der sechziger Jahre, Anfang der siebziger Jahre die erste größere Guerillabewegung in Mexiko nach der Revolution. Das war die Guerilla von Lucio Caragnas. Sie orientierte sich am Gebarismus, mit einer Portion Maoismus vermischt. Die Guerilla ist 1974 äußerst blutig zerschlagen worden. Etwa 500 Menschen, vor allem aus zivilen Organisationen, die sich um diese Guerilla gruppiert hatten sind umgebracht worden. Bis heute gab es noch etwa 500 politische Morde im Bundesstaat Guerrero, über 100 innerhalb der letzten zweieinhalb Jahre unter dem Regime des Gouverneurs …… Der Höhepunkt dieser Repressionswelle war die Ermordung von 17 Bauern der Bauernorganisation OCSS am 27. Juni vor einem Jahr. Sie wurden auf dem Weg zu einer Demonstration ermordet, als die Polizei an einer Straßensperre das Feuer auf ihren Lastwagen eröffnete. Die EPR ist am Jahrestag der Ermordung der Bauern von ….. auf der Gedenkveranstaltung für die Gefallenen aufgetreten. Bis heute sind die Verantwortlichen nicht bestraft, obwohl sie ziemlich feststehen. Es handelt sich da um den ehemaligen Gouverneur …… Die EPR ist bei dieser Gedenkveranstaltung, bei der 5000 Leute anwesend waren, aufgetreten, hat ihre Erklärung verlesen, daß nun der offene Kampf auf der Tagesordnung steht, hat 17 Salutschüsse in die Luft gefeuert und ist dann verschwunden. Seitdem ist von der EPR nichts weiter bekannt geworden. Aber jeder Mensch in Mexiko weiß, daß in Guerrero Guerillastrukturen existieren und daß sich diese Strukturen, im Gegensatz zu den Zapatistas, an der Guerilla der siebziger Jahre orientieren. Diese Leute sprechen nicht von der Zivilgesellschaft als politischem Subjekt, sondern sie wollen eine Arbeiter-, Bauern- und Volksregierung. Sie sprechen davon, daß Volkstribunale eingerichtet werden sollen, wo die Feinde des Volkes liquidiert werden. Das ist alles die Sprache der siebziger Jahre.

Wenn es dazu kommt, daß in Guerrero tatsächlich ein Guerillakrieg beginnt, der von Gruppen geführt wird, die auf dieser Ideologie basieren, dann heißt das, daß sich die Linke in Mexiko noch weiter spalten wird, daß der Versuch der Zapatistas, eine Klammer zu bilden, dann endgültig gescheitert ist. Es ist zu befürchten, daß das letztendlich den reaktionären Kräften im Staatsapparat eher zugute kommt als der Weiterentwicklung eines pluralen revolutionären Projektes in Mexiko. Diese Tendenz zeigt sich auch in anderen mexikanischen Bundesstaaten. Ich persönlich bin ziemlich pessimistisch, was die zukünftige Entwicklung angeht. Ich glaube nicht, daß sich die EZLN mit ihrem Projekt durchsetzen kann. Es wird wahrscheinlich eher zu einer fortschreitenden Kolumbianisierung Mexikos, zu einem schmutzigen Krieg von Regierungstruppen mit bewaffneten Gruppen kommen, die nicht nur in Guerrero, sondern auch in vielen anderen südlichen Bundesstaaten von den radikalen Landarbeitergewerkschaften aufgebaut werden. Es wird auf Regierungsseite zum verstärkten Einsatz von Todesschwadronen kommen, die auch bereits in vielen Bundesstaaten agieren. Die Gefahr ist, daß durch diese Militarisierung der sozialen Konflikte die Option auf zivilen politischen Widerstand, wie ihn die Zapatistas befürworten, nicht mehr möglich sein wird. Es wird eine Situation wie in Kolumbien geben, wo es nur noch um militärische Konfrontation geht und die zivilen Organisationen zerrieben werden.

telegraph: Den USA kann das natürlich nur recht sein, weil Bürgerkrieg kurz- und mittelfristag zwar geschäftlich kein Erfolg ist, aber auch keine Gefahr für die US-Grenzen und für den Einfluß der USA in Süd- und Mittelamerika.

Boris: Klar, wenn sich der Konflikt in dieser Weise weiter entwickelt, ist das für die Zentralregierung in Mexiko-Stadt beherrschbar, weil sie militärisch immer über die Übermacht verfügen wird, diese Gruppen in Schach zu halten. Außerdem hat natürlich diese Dynamik, die letztendlich auf Terrorismus hinausgeht, keine Ausstrahlungskraft auf eine Bündnismehrheit, sondern würde partikular auf bestimmte Regionen beschränkt bleiben, wo die sozialen Konflikte so zugespitzt sind, daß solche Gruppen tatsächlich eine soziale Basis finden.

telegraph: Was können wir nun eigentlich von hier aus tun? Welche Art von Solidarität ist möglich?

Boris: Ich denke, daß es zwei verschiedene Ebenen gibt. Wir müssen auf der einen Seite die politische Diskussion weiter entwickeln, das ernst nehmen, was die Zapatistas formulieren und versuchen, hier den Neuansatz der Zapatisten weiterzuentwickeln und in einen fruchtbaren Dialog mit den Zapatistas treten.

telegraph: Also beispielsweise Bündnispolitik und Weiterentwicklung der Ansätze für den Aufbau einer Zivilgesellschaft hier im Lande.

Boris: Eine Gelegenheit für einen solchen Dialog ist auch das Interkontinentale Treffen. Wir sollten sehen, was aus diesem Interkontinentalen Treffen an Initiativen hervorgeht. Über alle Verständigungsprobleme hinweg eine solidarische, gleichberechtigte Diskussion mit den Zapatistas zu führen, über ihr politisches Projekt und über unsere politischen Vorstellungen.

Auf der anderen Ebene, der der direkten Solidarität, ist es notwendiger denn je, die Zapatistas finanziell zu unterstützen. Wir sollten mehr Solidaritätsaktionen wie Konzerte und Feten machen, um den Zapatistas zu helfen, sich über Wasser zu halten. Momentan wird die EZLN von dem Solidaritätsgeld, das ankommt, keine Waffen kaufen, sondern Mais für die Dorfgemeinschaften. Wenn das soziale Überleben in den Dorfgemeinschaften nicht mehr möglich ist, wird auch das politische Projekt des Zapatismus verschwinden. Das ist eine Verantwortung, die wir haben.

Und wir müssen hier für Gegenöffentlichkeit sorgen. Wir müssen durch unsere Aktionen die Probleme in Mexiko auf die Tagesordnung der bundesdeutschen Öffentlichkeit setzen. Bei ähnlichen Situationen wie der Verurtteilung Javier Elorriaga und Sebastian Entzin geht es darum, Solidaritätsbriefe zu schreiben und Kundgebungen vor den Botschaften zu machen. Das klingt zwar etwas ohnmächtig, ist es aber gar nicht, denn nach wie vor muß die mexikanische Regierung auf ihr internationales Image achten. Wir wissen aus Mexiko, daß diese internationalen Proteste tatsächlich eine gewisse Wirkung haben. Sie haben vor allem aber auch eine Wirkung auf die Aktivisten in Mexiko selbst, die sehen, daß sie nicht alleine stehen und die diese moralische Unterstützung einfach benötigen.

Das Gespräch führte W. Rüddenklau

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