VEB Stadtwirtschaft Berlin: Nationalistische Propaganda unter Schutz der Bürokratie

aus telegraph 7/1989
vom 04. November 1989

An der öffentlichen Wandzeitung des Müllfuhrhofs 3 Berlin-Spindlersfeld erschien am 31.10. ein anonymer Artikel, in dem auf polnische Anfragen auf DDR-Staatsbürgerschaft Bezug genommen wurde, und unter scheinplausiblen Vorwenden Haß gegen Polen und Vietnamesen erzeugt wurde. Schon kurze Zeit darauf hatten 22 Kollegen unter diesen Artikel ihre Unterschrift gesetzt. Andere Kollegen druckten mündlich ihr Einverständnis aus, zwei sogar mit Lynchdrohungen. Der Artikel trug bereits 50 Unterschriften, als zwei Tage später der Kraftfahrer Dietmar Wolf einen Gegenartikel anbrachte, der die nationalistischen Ausfälle durch Benennung der tatsächlich wirtschaftlich Verantwortlichen zu bekämpfen versuchte.

Auf Anweisung des Fuhrhofleiters, Günter Meißner (SED), wurde Dietmars Artikel bereits nach einer halben Stunde entfernt. Durch den Schichtleiter ließ er begründen, dies geschehe zum Schutze der Gesundheit von Dietmar Wolf. Der andere Artikel blieb unangetastet.

Beide Artikel wurden daraufhin von Dietmar dem Kombinatsdirektor und der Betriebszeitung zugestellt sowie an zwei Betriebsteilwandzeitungen angebracht.

In Spindlersfeld verschwand jetzt endlich der nationalistische Artikel, dafür an den anderen Wandzeitungen beide. Der Brigadier wies Dietmar an, in Zukunft sämtliche Artikel für die Betriebsteilwandzeitung zur Zensur vorzulegen. Über den weiteren Umgang mit nationalistischen Artikeln verlautete dagegen nichts.
a.b.

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