Wessen Straße ist die Straße?

aus telegraph 7/1989
vom 04. November 1989

Es gibt wieder Literatur in der DDR. Unter dem Motto “gegen den Schlaf der Vernunft – Kunstwerktätige gegen staatliche Gewalt – für Demokralie“ präsentierten sich am 29. Oktober in der Erlöserkirche hauptsächlich LiteratInnen, aber auch E-Musikerlnnen, MalerInnen, FotografInen, ÜbersetzerInnen …

Selbst einige in der Vergangenheit eher als „Kaiser-Geburtstags-Dichter“ in Erscheinung getretene waren gekommen. Die Kirche war bereits vor Veranstaltungsbeginn hoffnungslos überfüllt, hunderte Zuspätgekommene konnten aber mittels Außenlantsprecher-die Ausprachen und Texte verfolgen.

Am bewegendsten war, als Susanne Boeden, von einem DEFA-Dokumentarfilmer aufs Podium geholt, von ihren Erlebnissen nach ihrer Verhaftung berichtete. Nach bekanntgabe des Textes ihres Flugblattes, bei dessen Verteilung sie von der Stasi überrascht wurde, brach begeisterter Beifall aus, das Rechtsanwalt-Plädoyer „Freisprich“ unterstreichend. Viele, die die Brutalitäten der Sicherheitsorgane um den 7.Oktober miterlebten, betonten „Ich zeige an!“

Zwischendurch wurde auch oft befreiend gelacht, plötzlich gibt es wieder reale Satire (Brigitte Struzyk, Klaus-Peter Schwarz …). Christoph Hein stellte, seine zunehmende Rolle als moralische Instanz erneut unter Beweis.

Kurz vor Ende kulminierte der Abend darin, daß eine Leipziger Sctriftstellerin, Gerti Tetzner, das Erlernen einer Demonstrationstaltur forderte, dabei von den Erfahrungen aus Leipzig berichtend. Die Berliner spendeten frenetisch Beifall, aber der folgende Montag in Berlin: mager, mager – selbst in Magdeburg waren an diesem Tag bei Wind und Regen zehnmal so viele Demonstranten auf den Straßen. Zum Abschluß wurde gemeinsam daß „Solidaritätslied“ von Brecht gesungen, sehr ergreifend.
g.h.

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