Das Kabinett der Barone

3.Teil des Artikels: „Geschichtlicher Abriß über die Entstehung von Faschismus und den antifaschistischen Kampf in Deutschland“

von Dietmar Wolf
aus telegraph 7/8 1996 (#90)

Teil 3: 

Am Abend des 1. Juni, nachdem die Zusammensetzung der neuen Regierung bekannt geworden war, erschien die Spätausgabe des „Vor­wärts“ unter einer Schlagzeile: „Das Kabinett der Barone“. Tatsächlich gehörten der Regierung, als sie am 6. Juni mit der Ernennung eines Arbeitsministers endlich komplett war ein Graf, vier Freiherren, zwei weitere Adlige und nur drei Bürgerliche an. Die Namen der neuen Minister waren:
Reichskanzler                                           Franz von Papen

Reichsminister des Auswärtigen             Konstantin Freiherr von Neurath

Reichsrminister des Innern                       Wilhelm Freiherr von Gayl

Reichsfinanzminister                                Lutz Graf Schwerin von Krosigk

Reichsminister der Justiz                         Franz Gürtner

Reichswehrminister                                  Kurt von Schleicher

Reichswirtschaftsminister                        Hermann Warmbold

Reichsarbeitsminister                               Hugo Schäffer

Reichsminister für Ernährung

und Landwirtschaft                                     Magnus Freiherr von Braun

Reichspost und Verkehrsminister             Paul Freiherr von Eltz-Rübenach

 

Vorn Reichskanzler war bisher wenig mehr bekannt gewesen, als daß er Hauptaktionär und Aufsichtsratsvorsitzender der Zentrumszeitung „Germania“ war und bis zu den Wahlen vom 24. April 1932 zu den am weitesten rechts ste­henden Hinterbänklern der preußischen Zentrurnsfraktion gehört hatte. Nach sei ner überraschenden Ernennung zum Reichskanzler erinnerten viele Zeitungen an eine unrühmliche Episode während seiner Zeit als Militärattach8 an der deutschen Botschaft in Washington. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges hatte Papen Sabota­geakte in Kanada, später, zuntindest indirekt, auch in den Vereinigten Staaten, unterstützt; nach seiner Ausweisung als „persona ingrata“ im Dezember 1915 fanden die Briten bei einem Zwischenaufenthalt in einem englischen Hafen ein­schlägiges Beweismaterial im Reisegepäck des deutschen Diplomaten.

Ein anderes Mitglied des neuen „Kabinetts der nationalen Konzentration“, der Landwirtschaftsminister von Braun, war in den Augen’der Republikaner durch seine Beteiligung am Kapp-Lüttwitz-Putsch diskreditiert. Innenminister von Gayl, bisher Direktor der Ostpreußischen Landgesellschaft, und Justizminister Gürtner, bislang Leiter desselben Ressorts in der bayerischen Regierung, waren Mitglieder der DNVP. (Sie verließen diese Partei allerdings, um die „Überparteilichkeit“ der Regierung von Papen zu betonen, nachdem sie zu Reichsministern ernannt wor­den waren.) Außenminister von Neurath, zuvor Botschafter in London, galt als ein den Deutschnationalen nahestehender Diplomat. Zusammengestellt hatte die Kabinettsliste im wesentlichen Kurt von Schleicher, wobei eines seiner wichtig­sten Auswahlkriterien offenbar die frühere Regimentszugehörigkeit der Kandida­ten war. Der politisierende General, der bisher vorzugsweise hinter den Kulissen gearbeitet hatte, rückte als Reichswehrrninister erstmals ins volle Rampenlicht der Öffentlichkeit. Die republikanische Presse sah in ihm von Anfang an den starken Mann des Kabinetts und in Papen nur den Erfüllungsgehilfen Schleichers.

Die Regierung von Papen repräsentierte in erster Linie die gesellschaftlichen Kräfte, die Brüning zu Fall gebracht hatten: den ostelbischen Rittergutsbesitz und die mit ihm eng verbundene militärische Führungsschicht. Preußens vorindustriel­le Elite hatte in der neuen Regierung ein derart starkes Gewicht, daß das indu­strielle Unternehmertum und zumal die exportorientierten Wirtschaftszweige An­laß zu Besorgnissen hatten. Zwar kam Hermann Warmbold, der Anfang Mai als Reichswirtschaftsminister zurückgetreten und jetzt erneut in dieses Amt berufen worden war, aus dem Vorstand der IG Farben. Aber er war kein „klassischer“ Vertrauensmann der Industrie wie Vögler oder Krupp und hatte sich überdies in der Vergangenheit als politisch wenig durchsetzungsfähig erwiesen. Überhaupt nicht vertreten waren im Kabinett von Papen der gewerbliche Mittelstand und die Arbeitnehmer. Die schmale gesellschaftliche Grundlage der neuen Regierung wurde freilich bis zu einem gewissen Grad durch zwei Faktoren ausgeglichen: die Autorität des Reichspräsidenten und das Gewaltpotential der Reichswehr. In der Tat war kein Kabinett der Weimarer Republik so ausschließlich Präsidialregie­rung und einer verdeckten Militärdiktatur so ähnlich gewesen wie jenes, das am 1. Juni 1932 von Hindenburg auf die Weimarer Reichsverfassung vereidigt wurde.

Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion erklärte noch am gleichen Tag, die Art der Bildung und der Zusammensetzung der Reichsregierung sei „gegen das Volksinteresse“ und gebe keine Gewähr für die Aufrechterhaltung der Sozialpoli­tik, insbesondere der Rechte der Arbeitslosen. „Die sozialdemokratische Reichs­tagsfraktion ist entschlossen, gegen alle sozialreaktionären Anschläge, gegen alle inflationistischen Experimente und gegen alle Angriffe auf die Verfassung und die Demokratie den Kampf zu führen, steht der sich bildenden Regierung mit schärf­stem Mißtrauen gegenüber und wird daraus alle parlamentarischen Konsequen­zen ziehen.“

Ebenfalls am 1. Juni meldete sich auch der sozialdemokratische Parteivorstand zu Wort. Das neue Kabinett nenne sich „Kabinett der nationalen Konzentra­tion“, hieß es in dem Aufruf. In Wahrheit sei es ein „Kabinett der reaktionären Konzentration“ und die erste Reichsregierung seit 1918, in der die Gewerkschaf­ten der Arbeiter, Angestellten und Beamten, ganz gleich welcher Richtung, ohne jede Vertretung geblieben        seien. „Es ist bezeichnend, daß dieses Kabinett der Barone, der Generäle, der Industrieherren und Großagrarier auf die Tolerierung der nationalsozialistischen Arbeiterpartei‘ spekuliert. Es ist ebenso bezeichnend, daß diese angebliche Arbeiterpartei‘ sich unter gewissen Bedingungen zur Tole­rierung dieses ausgesprochen arbeiterfeindlichen Scharfmacherkabinetts bereit er­klärt … Die Sozialdemokratie tritt in die schärfste Opposition in einem Augen­bück, in dem die reaktionäre Demagogie gezwungen ist, sich selber zu entlar­ven … Der Ausweg aus Krise, Not und Elend ist der Weg zum Sozialismus. In diesem Geiste werden mir kämpfen und siegen! Es lebe der Kampf! Es lebe die Sozialdemokratie!“

Den beiden Erklärungen vom 1. Juni folgte tags darauf ein Antrag der sozial­demokratischen Reichstagsfraktion: „Der Reichstag wolle beschließen: Der Reichstag entzieht der Reichsregierung das Vertrauen.“ Gleichzeitig ersuchte der Fraktionsvorstand den Reichspräsidenten, sich sofort mit der Reichsregierung wegen der Einberufung des Reichstags ins Benehmen zu setzen. Das Kabinett von Papen dachte aber gar nicht daran, dem Wunsch der Sozialdemokraten nachzukommen. Als es am Abend des 2. Juni zu seiner ersten Sitzung zusammen kam, war die Entscheidung zugunsten der sofortigen Auflösung des Reichstags bereits gefallen. Nachdem außer SPD und KPD auch Zentrum, BVP und Staats­partei der Regierung den Kampf angesagt hatten, wäre dem Kabinett die Nieder­lage im Reichstag in der Tat völlig sicher gewesen. Am 4. Juni unterzeichnete Hindenburg die Verordnung über die sofortige Auflösung des Reichstags. Er be­gründete diesen Schritt damit, daß der Reichstag „nach dem Ergebnis der in den letzten Monaten stattgehabten Wahlen zu den Landtagen der deutschen Länder dem politischen Willen des deutschen Volkes nicht mehr entspricht.“

Papens Regierungserklärung vom 4. Juni war die erste, die nicht im Reichstag, sondern im Rundfunk vorgetragen wurde. Doch das war nicht ihre einzige Beson­derheit. Anstatt konkrete Maßnahmen anzukündigen, erging sich der neue Kanz­ler in heftigen Angriffen auf die „Mißwirtschaft der Parlamentsdemokratie“ und die Nachkriegsregierungen, die mit ihrem Staatssozialismus den „Staat zu einer Art Wohlfahrtsanstalt` gemacht hätten. Der „moralischen Zermürbung“ des deutschen Volkes durch Klassenkampf und „Kulturbolschewismus“ hielt er die Besinnung auf die „unveränderlichen Grundsätze der christlichen Weltanschau­Ung“ entgegen. Die inhaltsreichste Passage lautete: „Damit die Zahlungen der nächsten Tage und Wochen zur Aufrechterhaltung des staatlichen Apparates ge­leistet werden können, ist die Regierung gezwungen, einen Teil der von der alten Regierung geplanten Notmaßnahmen zu erlassen.“ Die Schlußsätze machten nochmals den politischen Standort des Kabinetts von Papen deutlich. Bei der Neuwahl des Reichstags werde die Nation vor die klare und eindeutige Entschei­dung gestellt, „mit welchen Kräften sie den Weg der Zukunft zu gehen gewillt ist. Die Regierung wird, unabhängig von Parteien, den Kampf für die seelische und wirtschaftliche Gesundung der Nation, für die Wiedergeburt des neuen Deutsch­lands fuhren.“

Die „Einheitsfront“ kommt nicht zu stande

Die „Rote Fahne` bezeichnete das Kabinett von Papen am 1. Juni als „Kriegs­erklärung an die werktätigen Massen Deutschlands“. „Ob die Hakenkreuzler sie offiziell tolerieren werden oder nicht – das ändert nichts daran, daß die faschisti­sche Hitler-Politik innen- und außenpolitisch das Kennzeichen des nationalen Diktaturkabinetts sein wird. Dahin haben es dreizehn Jahre sozialdemokratische Koalitionspolitik, dahin hat es die Stützung aller Notverordnungen durch die SPD gebracht: die äußerste Reaktion setzt sich in den Sattel.“ An die Arbeiter­massen Deutschlands erging der Aufruf: „Setzt euch in Bewegung! Jede Minute, die ihr jetzt müßig seid, nützt der Feind! Papen, Schleicher und Gayl fragen nicht danach, wer sozialdemokratischer oder kommunistischer Arbeiter ist. Auch ihr dürft die Parteiunterschiede keine Mauer mehr zwischen euch sein lassen.“

Der Appell war geschickt formuliert. Eine Regierung, die die Nafionalsoziali­sten offen umwarb: das war ein Feind, der eine proletarische Einheitsfront förrn­lich herauszufordern schien. Da auch die SPD dem neuen Kabinett den Kampf angesagt hatte, befanden sich Sozialdemokraten und Kommunisten erstmals seit Beginn der Tolerierungspolitik im Oktober 1930 wieder in einer zumindest vor­dergründig gemeinsamen Frontstellung gegen eine Reichsregierung. Ob aus dem Nein zum „Kabinett der nationalen Konzentration“ und dem Nationalsozialisrnus mehr werden konnte, närrilich ein Akiionsbündnis zur Abwehr von Reaktion und Faschismus- das war die Frage, die sich Anfang Juni 1932 allen Arbeiteror­ganisationen stellen mußte.

Zwei Sphtiergruppen waren die ersten, die den Ruf zur Zusammenarbeit aller proletarischen Parteien und Verbände ausgaben. Noch am 1. Juni wandte sich Heinrich Brandler namens der rechtskommunistischen KPO an die Vorstände von SPD, KPD und SAP sowie von ADGB und AfA-Bund und forderte sie zu einer gemeinsamen Beratung innerhalb kürzester Frist auf. Der erzwungene Rücktritt Brünings und die Bildung des Kabinetts von Papen signalisierten „eine weitere Etappe in der Richtung der faschistischen Diktatur“, hieß es im Schreiben Brandiers. Als Gegenstand von Vereinbarungen über gemeinsame Aktionen schlug er erstens den Lohn- und Unterstützungsabbau, zweitens den faschisti­schen Terror und drittens die Gefahren der Intervention gegen die Sowjetunion­und eines neuen imperialistischen Weltkrieges vor.

Zwei Tage nach der KPO richtete die SAP einen eigenen Einheitsfrontappell an SPD, KPD, ADGB sowie einige Arbeitersport- und Freidenkerverbände. „Der Bruch in der deutschen Arbeiterbewegung geht tief“, schrieb Max Seydewitz namens der Sozialistischen Arbeiterpartei, „aber nicht minder tief ist das Verlan­gen, ihn im dieser Stunde akuter Gefahr zu überbrücken und jedenfalls nicht an ihm den Kampf für diejenigen Forderungen scheitern zu lassen, die die Arbeiter­le grundsätzlichen, politischen und taktischen Meinungsverschie­denheiten hinweg einen. Einmütigkeit besteht in dem Willen zur Abwehr des Faschismus, zur Abwehr des Lohnabbaus, zur Verteidigung der Sozialgesetzge­bung, zur Bekämpfung aller Kriegsgefahren. Wir schlagen Euch darum vor, diese vier Punkte als Möglichkeit einer gemeinsamen Aktion aller Organisationen der Arbeiterschaft zu machen.“

Direkte Antworten erhielten KPO und SAP von keinem der Adressaten. Eine indirekte Erwiderung kam hingegen bereits am 4. Juni von der KPD. Das Sekre­tariat stellte in einem Rundschreiben an die Bezirke klar, für die gesamte Politik der Partei wie auch für die Führung des Wahlkampfes bleibe nach wie vor die „strategische Orientierung ausschlaggebend, wonach wir den Hauptstoß in der Arbeiterklasse gegen die Sozialdemokratie führen müssen.“ In einem Grundsatz­artikel für die „Internationale“ wiederholte Thälmann diese Formel. Der SPD warf der Vorsitzende der KPD im gleichen Aufsatz vor, sie treibe nur eine Schein­Opposition gegen das Kabinett von Papen. Auch diese Regierung existiere mit Hilfe der SPD. „Sie existiert dank der Tatsache, daß die SPD und der ADGB heute noch zahlreiche Millionen von Arbeitern, darunter sehr entscheidende Schichten des Proletariats, bindet, aus der revolutionären Klassenfrontfernhält und gegebenenfalls sogar aktiv gegen den revolutionären Klassenkampf einsetzt.“

Die offiziellen Erklärungen der KPD klangen auf weiten Strecken so, als habe sich seit Brünings Sturz in Deutschland nichts Wesentliches geändert. Aber dieser oberflächliche Eindruck war falsch. Das Kabinett von Papen bedeutete Thäl­Mann zufolge eine „höhere Phase der Entwicklung zum Faschismus“; es war „die Regierung der Junker, Generale und Industriekapitäne, die von der Bourgeoisie eingesetzt wurde, um die unmittelbare Au ichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland zu betreiben“. Angesichts dieser „kaum mehr verhüllten Diktatur,‘ versuchten die deutschen Kommunisten im Juni 1932 einen deutlichen Schritt in die Richtung einer proletarischen Einheitsfront gegen den Faschismus zu tun. In demselben Artikel, in dem Thälmann sich scharf von der Sozialdemokratie ab­grenzte, hieß es auch: „Nicht Blockpolitik‘ mit den sozialfaschistischen Führern, nicht und niemals Einheitsfrontpolitik nur von oben, sondern Einheitsfrontpolitik von unten, auf der Grundlage der Betriebe und Stempelstellen, der Massenmobili­sierung im Kampf, entspricht den Bedingungen der heutigen Lage. Das schließt in bestimmten Fällen und vor allem in einem Stadium der höher entfalteten Klassen­bewegung die Anwendung der Einheitsfronttaktik von unten und oben im revolu­tionären Sinne nicht aus“.

Mit der ausdrücklichen Anerkennung der Möglichkeit, daß die KPD unter Umständen auch zu einer Einheitsfront von oben bereit sein müsse, ging Thäl­mann bewußt über jenen in Moskau formulierten Aufruf vom 25. April hinaus, der eine elastischere Handhabung der Einheitsfronttaktik angekündigt hatte. Es blieb auch nicht bei grundsätzlichen Erklärungen. Am 8. Juni sagte Thälmann auf einer Konferenz der Bezirkssekretäre und Redakteure in Berlin, im preußischen Parlament habe die KPD im Zusammenhang mit der Mehrheit, die Zentrum, Sozialdemokraten und Kommunisten darstellten, eine Schlüsselstellung. „Wir müssen die Frage stellen: Wenn die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wirklich den Kampf gegen die reaktionäre Regierung der Junker, der Generäle, der Schwerindustrie will, wenn sie den Kampf gegen den Faschismus führen will, wie sie sagt, wenn das Zentrum es mit seiner radikalen Oppositionsstellung (die es in seinem Beschluß [vom 1. Juni gegen die Regierung von Papen] demagogisch zum Ausdruck bringt) ernst meint, wenn es den Willen hat, die christlichen Arbeiter in die antifaschistische Einheitsfront hineinzubringen ­dann könnten wir in Preußen, wo eine Mehrheit von Sozialdemokratie, Zentrum und Kommunisten besteht, durch jede parlamentarische Abstimmung die Pläne der Papen-Regierung vernichten (parlamentarisch gesehen). Hier beginnt also eine kühne offensive Maßnahme der Ausnutzung der Schlüsselstellung unserer Partei im preußischen Parlament.“

Auf unterer und mittlerer Ebene wurden die neuen Parolen der Zentrale viel­fach als befreiend empfunden. In Württenberg häuften sich Einheitsfrontangebote örtlicher Parteileitungen an SPD und ADGB und teilweise, so in Ebingen und Tübingen, selbst an die KPO. In Ebersbach wurde die Forderung nach einer „Einheitsfront ohne die Führer“ laut. Lokale Verbrüderungsversuche gab es auch in anderen Teilen Deutschlands, etwa in Dessau. Am weitesten ging am 16. Juni, zwei Tage nach der Verkündung von Papens erster Notverordnung, die Bezirks­Leitung Berlin-Brandenburg unter Walter Ulbricht. Sie forderte den Bezirksvor­stand der SPD, den Ortsausschuß des ADGB und die Gauleitung des Reichsban­ners auf, für die Aufhebung eines von der preußischen Regierung im Oktober 1931 erlassenen Demonstrationsverbotes einzutreten und gemeinsam mit der KPD gegen Reaktion und Faschismus zu kämpfen.

Die Sozialdemokratie kam durch die neue kommunistische Taktik in eine schwierige Lage. Bereits am 4. Mai hatte Hilferding im Parteiausschuß vor dem „Spiel der Kommunisten mit der Einheitsfront“ gewarnt und hinzugefügt: „Hier werden wir uns nur zu hüten haben davor, daß von unseren eigenen Genossen etwa dafür Stimmung gemacht wird. Praktisch werden sich die Reihen des Prole­tariats dann, wenn noch schwierigere Situationen kommen sollten, doch fester zusammenschließen müssen, aber die Führung in solcher Lage müssen wir behal­ten und deshalb dürfen wir den Kommunisten keine Konzessionen machen. Gera­de angesichts der Zersetzung im kommunistischen Lager dürfen wir nicht aus irgendwelchen Stimmungen heraus Annäherungsversuche unternehmen.“

Nach Brünings Sturz wurde der Ruf nach der proletarischen Einheit lauter. In Berlin-Wedding beschlossen Angehörige der Jugendverbände von SPD, KPD und SAP am 1. Juni die Bildung von antifaschistischen Schutzstaffeln. Das „Freie Worü‘ berichtete von spontanen Einheitskundgebungen sozialdemokratischer und kommunistischer Arbeiter im schlesischen Sagan und im sächsischen Wil­kau. Der „Antifaschistischen Aktion“ gelang es Anfang Juni unter anderem im Stadt- und Landkreis Hanau, in Stendal und Wesenberg in der Altmark, sozialde­mokratische Arbeiter zu gemeinsamen Aktionen mit der KPD zu bewegen. In Zefla-Mehlis richtete das Ortskartell des ADGB, angeblich sogar einstimmig, einen Appell zur Einheitsfront an alle thüringischen Arbeiterorganisationen.

Wenn die Führung der SPD sich strikt gegen jedwede „Einheitsfront von un­ten“ wandte, war das nur selbstverständlich: Die Partei mußte sich aus Gründen der Selbsterhaltung gegen kommunistische Zersetzungsarbeit wehren. Aber es gab auch nach wie vor Gründe, die gegen eine „Einheitsfront von oben“ spra­chen. Da war nicht nur begründetes Mißtrauen gegenüber der Ehrlichkeit kom­munistischer Einheitsbeteuerungen, da war vor allem die Sorge, von der KPD auf einen Weg gezogen zu werden, den man nicht gehen wollte.

Daß die SPD auf die Berufung Papens nicht mit der Mobilisierung der Massen antworten würde, stand von Anfang an fest. Am 3 1. Mai, einen Tag vor der Ver­eidigung des „Kabinetts der Barone“, schrieb der „Vorwärts“: „Der Reichspräsi­dent hat, indem er sich von der Mitte und der Linken wählen ließ, keineswegs die Verpflichtung übernommen, nur Regierungen aus der Mitte und der Linken zu bilden, wohl aber hat er die Pflicht übernommen, die verfassungsmäßigen Rechte der Opposition zu schützen. Die verfassungsmäßigen Rechte der Opposition sind gleichbedeutend mit den Lebensrechten der deutschen A rbeiterbewegung. Sie zu schützen ist die Pflicht des Reichspräsidenten – sie zu schützen ist aber vor allem unsere eigene Angelegenheit. Es bedarf keiner großen Worte, um zu zeigen, um was es geht. Nichts nützen kann den Arbeitern die kreischende Impotenz der Kommunisten. Wer Arbeitslose gegen die Polizei treibt, der spielt das Spiel der Reaktion. Mit Panikmache und Ausbrüchen der Verzweiflung ist noch kein Sieg gewonnen worden. Was not tut, ist Kaltblütigkeit und Zuversicht trotz klarster Erkenntnis der drohenden Gefahren, ist Entschlossenheit zum Einsatz aller Kräf­te, ist Einigkeit und nochmals Einigkeit! Zunächst gilt es, sich für den Kampf um einen neuen Reichstag bereit zu halten, der vielleicht schon in wenigen Tagen be­ginnen wird.“

Einen anderen Grund gegen eine Zusammenarbeit mit der KPD nannte der „Vorwärts“ nicht, aber er lag klar zutage: Die SPD wollte der neuen Regierung keinen Vorwand für eine Reichsexekution gegen Preußen liefern. Wenn die So­zialdemokratie Zweifel an ihrem Legalitätskurs aufkommen ließ, lief sie Gefahr, einem Schlag gegen das geschäftsführende Kabinett im größten deutschen Staat den Schein der Legalität zu verleihen. Daß das „Kabinett der nationalen Konzen­tration“ nur auf einen Anlaß wartete, um die SPD in Preußen zu entmachten, war bereits Anfang Juni kein Geheimnis mehr. Am 7. Juni berichtete der „Vorwärts‘ es behaupte sich „hartnäckig das Gerücht, daß das Kabinett der Barone einen Reichskommissar für Preußen einsetzen wolle. Über die Verfassungswidrigkeit eines derartigen Schrittes im jetzigen Zeitpunkt ist nicht der mindeste Zweifel.“ In einem anderen Artikel derselben Ausgabe wurde als Ansicht von „preußischen politischen Kreisen“ gemeldet, daß ein etwaiger Plan, in Preußen einen Reichs­kommissar einzusetzen, „sich kaum mit der Verfassung vereinbaren lassen wür­de … Die Voraussetzungen seien in der Verfassung festgelegt. Ruhe und Ord­nung müßten gestört sein. Das treffe für Preußen nicht zu.“

Hätte die SPD durch ein Zusammenspiel mit der KPD der neuen Reichsregie­rung das erwünschte Stichwort gegeben, wären die Sozialdemokraten sofort des Machtmittels „preußische Polizei“ beraubt worden. Dieses staatliche Instrument ohne Not preiszugeben, konnte der SPD aber gar nicht in den Sinn kommen. Die politische Bedeutung der Kontrolle über die preußische Polizei war eher noch ge­stiegen, seit die Reichswehr zur eigentlichen Stütze der Reichsgewalt geworden war. Es kam hinzu, daß die beiden wichtigsten Träger der Preußenkoalition, Sozialdemokratie und Zentrum, durch den gemeinsamen Gegensatz zum Kabi­nett von Papen einander wieder näher gerückt waren. Der Faktor Preußen be­stimmte also weiterhin die sozialdemokratische Politik: War er vor dem 30. Mai gurnent für die Tolerierung Brünings gewesen, so bildete das ausschlaggebende Ar

er danach den Hauptgrund dafür, daß die SPD das „Kabinett der Barone“ ledig­fich mit den klassischen Mitteln der parlamentarischen Opposition bekämpfte.

Ignorieren konnte die Sozialdemokratie die neue, elastischere Einheitsfronttak­tik der Kommunisten allerdings nicht. Mit Rücksicht a uf Stimmungen, die es bei einem Teil der eigenen Mitgliedschaft gab, mußte die SPD klarstellen, daß die fortdauernde Spaltung des Proletariats nicht ihre Schuld war, sondern die der Kommunisten. Darüber hinaus schien es einigen führenden Sozialdemokraten geboten, Mindestbedingungen einer Einheitsfront zu formulieren und so, viel­leicht, wenigstens eine Art Nichtangriffspakt zu ermöglichen. Am 9. Juni erklär­ten in diesem Sinne der Berliner Bezirksvorsitzende, Franz Künstler, und der Vor­sitzende des AfA-Bundes, Siegfried Aufhäuser, in einem „Führerappell“ der Eisernen Front, die Sozialdemokraten seien unter der Bedingung zu einer Ein­heitsfront bereit, daß die Kommunisten zum mindesten bis zum 3 1. Juli – dem am 6. Juni bekanntgegebenen Tag der Reichstagswahl – einen Burgfrieden ein­halten und ihre Kraft dem wirklichen Hauptfeind, dem Faschismus, zuwenden würden.

Die Berliner Bezirksleitung der KPD antwortete am 15. Juni ablehnend. In einem Aufruf an die Berliner Arbeiter richtete sie scharfe Angriffe auf führen e Sozialdemokraten. Severing und Grzesinski hätten, so hieß es, mit ihrer Hinden­burg-Politik der Regierung Papen das Bett gemacht. „Niemals werden wir Heil­mann Amnestie gewähren, der im Auftrag der SPD sich für eine verantwortungs­volle nationale Opposition‘ aussprach, d. h. für die außerparlamentarische Dul­dung der Papen-Regierung. Niemals kann es eine Amnestie für jenen Arbeiter­verrat geben, die Nazis heranzulassen‘, damit sie sich abwirtschaften‘. Die Tar now und Severing, die eine solche Politik vertreten, sind und bleiben für uns die offenen Wegbereiter und Handlanger des Faschismus! Wir würden Verrat an der Arbeiterklasse begehen, wenn wir diesen Verrat verschweigen oder vergessen wollten.“

Angesichts solcher Polemik konnte es für die Bezirksleitung der KPD kaum Überraschend kommen, daß ihr schon erwähnter Aufruf vom 16. Juni, der SPD, ADGB und Reichsbanner zu gemeinsamen Aktionen gegen das preußische De­monstrationsverbot aufforderte, von den Empfängern abschlägig beantwortet wurde. Die Kampfleitung Berlin der Eisernen Front erklärte am 17. Juni, eine Einigung des Proletariats sei mehr denn je notwendig. Aber ein „Einheitskampf gegen den Faschismus“ setze voraus, „daß die Angriffe der Kommunistischen Partei gegen unsere Organisationen und ihre Führer eingestellt werden . . . Die Eiserne Front sieht keine Hinderungsgründe für ein einheitliches Vorgehen, wenn Sie die im vorstehenden Schreiben gewünschten Voraussetzungen ehrlich ge­schaffen haben.“ Was das Demonstrationsverbot anging, wurde die KPD dahin beschieden, daß die Eiserne Front bereits am 15. Juni bei den verantwortlichen Stellen die Aufhebung gefordert habe.

Die Führung der Freien Gewerkschaften befaßte sich im Verlauf des Juni zwei­mal mit dem Thema „Einheitsfront“. Der Bundesausschuß des ADGB erörterte am 14. Juni die Initiative von KPO und SAP. Während Leipart unter Hinweis auf den Jortgesetzt ‚gehässigen Kampf‘, den die beiden Organisationen gegen die Gewerkschaften geführt hätten, eine Antwort für überflüssig erklärte, fanden Brandes vom DMV und Plettl vom Verband der Bekleidungsarbeiter, das Streben nach der Einheitsfront sei in der Arbeiterschaft zu stark, als daß man den Vor­stoß der beiden Splittergruppen einfach zu den Akten legen könne. Ähnlich äußerten sich der Dresdner Bezirksvorsitzende Arndt und Karl Thiemig vom Fabrikarbeiterverband. Übereinstimmung gab es aber darin, daß die Kommuni­sten mit der Einheitsfront eine unehrliche Propaganda betrieben, der man entge­genwirken müsse. Eine offizielle Verlautbarung wurde indes nicht verabschiedet.

Das geschah erst eine Woche später, am 21. Juni, im Bundesvorstand des ADGB. Inzwischen hatten drei führende Intellektuelle – Albert Einstein, Hein­rich Mann und Käthe Kollwitz – in einem Offenen Brief vom 17. Juni SPD und KPD aufgefordert, während des Wahlkampfes zusammenzugehen, und zwar am besten durch gemeinsame Kandidatenlisten oder doch zumindest in Form einer Listenverbindung. Leipart selbst sollte sich nach dem Wunsch eines größeren Kreises von Intellektuellen, der den Offenen Brief angeregt hatte, an die Spitze der Einheitsfrontbewegung stellen.

Anders als in der ersten Junihälfte war Leipart jetzt bereit, im Sinne dieses Appells tätig zu werden und eine Besprechung mit Wels und Thählmann in die Wege zu leiten. Aber er fand mit diesem Gedanken schon im Büro, dem engsten Führungskreis, „wenig Gegenliebe“. Vorsichtshalber schlug Leipart dem Bundes­vorstand daher gleich eine Alternative zu dem Versuch mit Verhandlungen vor, nämlich eine öffentliche Erklärung, die er bereits mit Hilferding und Stampfer ab­gestimmt hatte. In der anschließenden Diskussion sprach sich nur der Sekretär Alfred Janschek, für Verhandlungen mit der KPD aus. Sehr viel mehr Zustimmung erhielt Tarnow für seine für einen Waffenstillstand zu stellen. „Die Kommunisten werden Bedingungen das nicht akzeptieren können, und wenn sie trotzdem zustimmen, werden sie ge­gen die Bedingungen verstoßen.“ Einigen der Anwesenden, darunter auch dem Vertreter des sozialdemokratischen Parteivorstands, Rudolf Hilferding, ging aber auch dieser Vorschlag schon zu weit. „Durch einen Burgfrieden geben wir alle Gelegenheiten aus der Hand … Wenn wir Bedingungen stellen, stellt die KPD Gegenbedingungen und das Ergebnis ist ein Hin- und Herzerren.“

Leipart vollzog daraufhin eine neuerliche Kehrtwendung. „Auch die SPD wür­de durch einen Burgfrieden in der Agitation gehemmt sein. Ein Liebäugeln mit den Kommunisten kann bestimmte Wählergruppen von uns verscheuchen.` Außerdem habe das ZK der KPD soeben einen … Burgfrieden‘ mit Verrätern und Feinden der Arbeiterklasse“ abgelehnt. Das Ergebnis der Aussprache war der Beschluß, die Erklärung so umzuarbeiten, „daß sie unseren Leuten zeigt, daß die KPD keine Einheitsfront will“.

Entsprechend war der Text gehalten, der am folgenden Tag vom „Vorwärts“ veröffentlicht wurde. „Der Vorstand des ADGB ist davon überzeugt, daß der Kampf gegen den gemeinsamen Feind das geschlossene Vorgehen der gesamten deutschen Arbeiterbewegung zur gebieterischen Pflicht macht“, hieß es darin. Nach der jüngsten Erklärung der kommunistischen Parteizentrale sehe der Vor­stand des ADGB aber für Einigungsversuche keine Erfolgsmöglichkeiten. „Die einheitliche Abwehrfront der politischen Parteien der deutschen Arbeiterbewe­gung ist nur denkbar, wenn alle Beteiligten freiwillig darauf verzichten, die Kampfgenossen in entehrender Weise anzugreifen. Der Verzicht auf böswillige Verunglimpfung der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie während des Wahlkampfes ist die Mindestbedingung, die die Kommunistische Partei erfüllen muß, wenn der Vorstand des ADGB seinen Einfluß für die Bildung einer gemein­samen Abwehrfront in die Waagschale werfen soll. Es ist eine Forderung, auf die kein ehrlicher Befürworter der Einheitsfront verzichten kann.“

Die SPD reagierte auf die Einheitsfrontparolen der KPD am 12. Juni mit einer Enthüllung. Der „Vorwärts“ zitierte aus dem geheimen Rundschreiben des ZK vom 4. Juni, das die Partei nochmals ausdrücklich darauf festlegte, „den Haupt­stoß in der Arbeiterklasse gegen die Sozialdemokratie“ zu führen. An die Mitglie­der und Anhänger der SPD richtete das Parteiorgan die Aufforderung: „Kriecht nicht auf den kommunistischen Leim! Laßt euch nicht mißbrauchen! Haltet euch fern von allen kommunistischen Veranstaltungen.“ Der Parteivorstand der SPD ließ am 28. Juni ein Rundschreiben an die Bezirksleitungen folgen, das diese War­nung noch verstärkte: „jeder politisch Geschulte weiß, daß erfolgversprechende Verhandlungen nur von den zentralen Parteileitungen geführt werden können. Lokale Verhandlungen schaffen statt Einigkeit und Klarkeit nur Uneinigkeit und Verwirrung. Sie sind deshalb streng zu vermeiden.“

Die Sorge, daß Teile der eigenen Mitgliedschaft die „Einheitsfront“ naiv miß­verstehen könnten, war nicht auf die Sozialdemokraten beschränkt. Noch im Juni traf bei der Zentrale der KPD ein Telegramm Wilhelm Knorins ein, der im Auf­trag des EKKI gegen „opportunistische Auswüchse“ in der Einheitsfronttaktik protestierte. Die Verwarnung bezog sich vor allem auf ein Angebot der KPD vom 22. Juni, bei der endgültigen Wahl des preußischen Landtagspräsidiums die Kan­didaten von SPD und Zentrum zu unterstützen, um die erneute Wahl eines natio­nalsozialistischen Landtagspräsidenten zu verhindern.

Am 14. Juli zog die KPD Konsequenzen. Das Sekretariat übte in einem Rund­schreiben an die Bezirke verhaltene Selbstkritik und mahnte: „Das Herantreten an untere Organisationen der SPD, des Reichsbanners usw. ist nur dann zulässig, wenn die Voraussetzungen dafür durch Mobilisierung der SPD-Arbeiter geschaf­fen sind.“ Der Brief der Berliner Bezirksleitung vom 16. Juni an SPD, ADGB und Reichsbanner wurde nun als Jaktische Maßnahme“ gewertet, „die auf der Über­schätzung der revolutionären Reife unserer Partei zur Durchführung selbständi­ger Aktionen beruhte“. „Absolut unzulässig seien Verhandlungen zwischen Un­terbezirksleitungen von KPD und SPD, wie sie beispielsweise in Dessau stattge­funden hätten. Jede Vernachlässigung unseres Kampfes gegen die sozialfaschi­stischen Führer, jede Verwirrung des prinzipiellen Gegensatzes zwischen uns und der SPD, jede Kapitulation vor den Phrasen der SPD-Führer gegen Hitler und Palpen, jedes leiseste Zugeständnis an die opportunistische Ideologie gefährdet die Durchführung unserer revolutionären Massenpolitik. Gegenüber Massenstim­mungen, die gegenwärtig vorhanden sind, und die bis in unsere Reihen sich be­merkbar machen fÜr eine Einheit‘ um jeden Preis, über die Köpfe aller Führer hinweg usw. müssen wir mit eiserner Energie unsere revolutionäre Strategie und Taktik in den Massen vertreten.“

Unter dem Druck der Komintern hatte die KPD damit klargestellt, daß die ela­stischere Gestaltung der Einheitsfronttaktik bereits viel zu weit gegangen war. An der „Basis“ waren Stimmungen freigesetzt worden, die aus der Sicht der Zentrale als „opportunistisch“ galten, und selbst auf höherer und höchster Ebene waren taktische Fehler gemacht worden, die im EKKI denselben Vorwurf auf sich zo­gen. Die weitgehende Rücknahme der neuen Taktik war die Folge der von der Komintern angemahnten Kurskorrektur.

Aber auch bei SPD und Freien Gewerkschaften triumphierte die Taktik. Die Beratungen im Bundesvorstand des ADGB machten deutlich, daß es auf der Gewerkschafts- wie auf der Parteiseite Bedenken selbst gegenüber einem „Burg­frieden“ mit den Kommunisten gab. Tarnows Vorschlag, der KPD „Bedingun­gen“ zu stellen, entsprang dem Kalkül, die Kommunisten würden sich auf diese Weise selbst demaskieren – und eben darum stimmten einige Gewerkschaftsfüh­rer diesem Gedanken zu. Im Fall von Künstler und Aufhäuser lagen die Dinge anders. Beide hielten einen „Burgfrieden“ für notwendig und räumten ihm eine gewisse Chance ein. Andererseits wußten sie, daß eine Änderung im Verhältnis zwischen SPD und KPD innerparteilich nur durchsetzbar war, wenn die KPD von ihren diffamierenden Angriffen auf die sozialdemokratischen Führer abließ.

Ähnlich wie die gemäßigten Linken Künstler und Aufhäuser dachte Friedrich Stampfer, der im Parteispektrum eher zur Rechten zählte. Am 19. Juni veröffent­lichte er im „Vorwärts“ den bisher scharfsinnigsten Kommentar zur laufenden Debatte über die Einheitsfront. Wenn sich die sozialdemokratischen Führer zur Bildung einer Einheitsfront trüt den Kommunisten bereiterklären wollten, schrieb er, ohne daß die Kommunisten auf ihre Schimpftaktik und auf ihre parlamentari­sche Kooperation mit den Nationalsozialisten verzichteten, so würden sie von den sozialdemokratischen Arbeitern davongejagt werden. „Man kann die Sache drehen, wie man will, die Einheitsfront ist nur denkbar als lose Kombination auf Zeit, und auch die ist nur möglich, wenn die Kommunisten darauf verzichten, über die Sozialdemokraten zu schimpfen und mit den Nationalsozialisten zu stim­men. Der Feind steht vor den Toren. Wenn wir Sozialdemokraten die Abwehr kommunistischer Angriffe auf das Notwendige beschränken und unsere ganze Kraft gegen das Hitler-Papen-Systern richten, so tun wir für die proletarische Ein­heitsfront alles, was wir tun können, und dieses Tun ist besser als bloßes Gerede. Wo mit dem Einsatz aller Kräfte der Kampf gegen den Faschismus geführt wird, wie wir ihn führen, dort wächst die proletarische Einheitsfront.“

Stampfers Plädoyer war nicht nur geschickt, es traf auch den Kern des Pro­blems: In Anbetracht grundlegender und unüberbrückbarer Gegensätze wäre ein „Burgfriede“ oder „Nichtangriffspakt“ zwischen Sozialdemokraten und Kommu­nisten das Äußerste gewesen, was im Vorfeld der Reichstagswahl vom 3 1. Juli 1932 theoretisch möglich war – freilich auch zugleich das Minimum dessen, was der Kampf gegen Nationalsozialismus und Reaktion praktisch erforderte. Wenn die Kommunisten sich entschlossen, im Nationalsozialismus den Hauptfeind zu sehen, mußten sie den Sozialdemokraten gegenüber eine konsequente Politik des kleineren Übels betreiben. Die Sozialdemokraten wußten, daß der Nationalsozia­lismus der Hauptfeind und, verglichen damit, der Kommunismus die geringere Gefahr war. Aber aus dieser Einsicht die notwendigen Folgerungen zu ziehen, war nur in begrenztem Umfang eine Frage des eigenen Willens. Ohne Änderung der kommunistischen Generallinie, wonach der Hauptstoß innerhalb der Arbei­terklasse gegen die Sozialdemokratie zu führen war, ließ sich nicht einmal ein Nichtangriffspakt zuwegebringen.

Der Preußenschlag

Die Präsidialregierung Papen wurde im Kreise um den Reichskanzler selbst, der sich langsam, aber bestimmt aus der Abhängigkeit von Schleicher zu lösen verstand und den direkten Weg zu Hindenburg fand, als Übergang von der gescheiterten parlamentarischen Demokratie zu einem „Neuen Staat- ständisch-autoritärer Prägung betrachtet, der seinerseits wieder die Vorstufe zur monarchischen Restauration sein sollte. Insoweit knüpfte Papen an die Pläne Brünings an, verfolgte seine Ziele aber im Gegensatz zur, günstige Gelegenheit abwartende, politk seines Vorgängers, ungleich bedenkenloser und leichtfertiger. Papens Staatsreformpläne sahen die Entmachtung des Reichstages, eine Abänderung des Wahlrechts und die Schaffung eines Ober- oder Herrenhauses vor. Eine Anlehnung an die Bismarck-Verfassung, die besonders in der von Papen erstrebten Unabhängigkeit des Reichskanzlers vorn Vertrauen des Reichstages und in der Vereinigung der Ämter des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten zum Ausdruck kommen sollte, machte den restaurativen, besser reaktionären, Zug dieser Pläne besonders deutlich. Diese anachronistisch wirkenden Vorstellungen hatten indessen ganz bestimmte konkrete Nahziele zur Konsequenz, von denen das bedeutendste die Ausschaltung der preußischen Regierung war, der „Preußenschlag“ vom 20. Juli 1932.

Nach den Landtagswahlen vom 24. April 1932 war die auf das Bündnis von Sozialdemokraten und Zentrum gestützte Regierung des Ministerpräsidenten Braun im Landtag in die Minderheit geraten. Die National­sozialisten besaßen nun als stärkste Partei mit 162 (statt bisher 8) Sitzen zusammen mit den ebenfalls angewachsenen Kommunisten (jetzt 57 Mandate) eine Sperrmehrheit. Da der alte Landtag aber kurz vor Schluß der Legislaturperiode eine Änderung der Geschäftsordnung beschlossen hatte, nach der bei der Wahl des Ministerpräsidenten in Zukunft auch im zweiten Wahlgang die absolute statt wie bisher die einfache Mehrheit erforderlich sei, war es angesichts der Tatsache, daß sich NSDAP und KPD auf keinen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten, unmöglich, einen neuen Regierungschef zu wählen. Die Regierung Braun blieb daher geschäftsführend im Amt. Nationalsozialisten und Kommunisten, die zusammen 52 Prozent aller Abgeordneten stellten, errangen mit ihren Mißtrauensanträgen zwar parlamentarische „Siege“, konnten jedoch an der Sachlage nichts ändern. Wenn auch die politische Stellung der Regierung Braun erschüttert war, so konnte an der Rechtmäßigkeit ihrer Geschäftsführung doch kein Zweifel bestehen. Auf den Hinweis eines Zentrumsabgeordneten, daß die Taktik der KPD nur die NSDAP an die Macht bringen würde, antwortete der KP-Abgeordnete Obuch: „Das wollen wir gerade! Wir Kommunisten sind uns darüber klar, daß wir niemals eine Chance haben werden, zur Macht zu kommen, solange die in derfreien und in der christlichen Gewerkschaft organisierten Arbeiter hinter der Regierung stehen. Wir müssen daher so taktieren, daß zunächst einmal die Rechte zur Macht kommt. Gegen diese Regierung wird dann die gesamte Arbeiterschaft geschlossen in Opposition gehen. Die Herrschaft der Nazis wird nicht lange dauern. Sie wird bald zusammenbrechen, und die Erben, die sind wir!“

Der Fraktionsführer der NSDAP im Preußischen Landtag, Kube, wiederum wandte sich in der Landtagssitzung vom 2. Juni an die Kommunisten:

„Das will ich Ihnen sagen: Solange die Kommunistische Partei den Kampf gegen das Kabinett Braun führen will, meine Herren Kommunisten, wenn es Ihnen mit dem Kampf gegen das sogenannte System ernst i.st, dann müssen Sie die vorhandenen Mittel anwenden, die Ihnen der Staat und die Ihnen Ihre Stärke in diesem Parlament bietet. (…) Begründen Sie das, wie Sie wollen; stellen Sie den Antrag, und wir stimmen sofort zu. “

Indessen gelangten in Preußen nicht die Nationalsozialisten zur Macht, sondern die Regierung Papen verkündete am 20. Juli den Ausnahmezustand und erklärte die Regierung Braun für abgesetzt.

Die „Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend die Wiederherstellung der öffent­lichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen“ lautete:

Auf Grund des Artikels 48 Abs. 1 und 2 der Reichsverfassung verordne ich zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen folgendes:

  1. Für die Geltungsdauer dieser Verordnung wird der Reichskanzler zum Reicbskom­missar für das Land Preußen bestellt. Er ist in dieser Eigenschaft ermächtigt, die Mitglieder des Preußischen Staatsministeriums ihres Amtes zu entheben. Er ist weiter ermächtigt, selbst die Dienstgeschäfte des Preußischen Ministerpräsidenten zu überneh­men und andere Personen als Kommissare des Reiches mit der Führung der Preußischen Ministerien zu betrauen.
  2. Diese Verordnung tritt mit dem Tage ihrer Verkündung in Kraft,

Neudeck und Berlin, den 20. Juli1932
Der Reichspräsident, gez. von Hindenburg
Der Reichskanzler, gez. von Papen

In der Reichskanzlei trafen am Morgen des 20. Juli Papen, Inenminister v. Gayl und Staatssekretär Planck mit dem amtierenden preußischen Ministerpräsidenten Hirtsiefer (in Vertretung des resigniert in Urlaub gegangenen Ministerpräsidenten Braun), dem preußischen Innenminister Severing und dem Finanzminister Klepper zusammen. Papen erklärte, daß die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Preußen nicht mehr gewährleistet erscheine, habe Hindenburg die Verordnung erlassen. Kraft dieser Vollmacht enthebe er Braun und Severing ihrer Ämter und betraue mit der Führung des Preußischen Innenministeriums den Essener Oberbürgermeister Bracht. Severing erwiderte entschie­den, daß nicht in einem Falle nachzuweisen sei, daß Preußen weniger als andere Länder für Sicherheit und Ordnung gesorgt habe. Papen fragte Severing, ob er freiwillig die Geschäfte an Bracht übergeben wolle. Daraufhin wies Severing auf die Bedeutung dieses Verfassungsbruchs hin und auf die Pflicht eines republikanischen Ministers, sich nicht durch freiwilligen Rückzug mit dem Makel der Desertion zu beflecken: er weiche nur der Gewalt. Nach Verhängung des militärischen Ausnahmezustandes in Berlin besetzten Einheiten der Reichswehr die preußischen Ministerien. Auch die preußische Polizei wurde auf dem Verordnungswege Papen unterstellt.

Die Möglichkeit eines Widerstandes war indessen von Papen überschätzt worden. Auch das Wort Severings war nur der Ausdruck eines ohnmächtigen Protestes, nicht die Ankündigung eines aktiven Widerstandes. Die SPD-Führung hatte schon vier Tage vor dem Staatsstreich Papens beschlossen, „bei allem, was kommen möge, die Rechtsgrund­lage der Verfassung nicht zu verlassen.` Sie lehnte dementsprechend ab, Gewalt mit Gewalt zu beantworten. An Generalstreik wie beim Kapp-Putsch 1920 war nicht zu denken. Die Gewerkschaften waren sich ihrer Schwäche in der bestehenden Situation bewußt. Sechs Millionen Arbeitslose und die Tatsache, daß die Arbeiterschaft in sich tief gespalten war, ließen alle Erwägungen in dieser Richtung verstummen, zumal der Gedanke an einen Bürgerkrieg abschreckte. So kapitulierte Preußen, die „republikani­sche Festung`, kampflos. Die Regierung Braun entschloß sich lediglich, den Staatsge­richtshof anzurufen. Papens Aktion konnte als geglückt angesehen werden, auch wenn das Gericht am 25. Oktober 1932 entschied, daß den preußischen Staatsministern weiterhin die Vertretung Preußens im Reichstag, Reichsrat und Landtag zustehe. Allerdings widerstreite es nach Auffassung des Gerichts der Verfassung nicht, wenn der Reichspräsident vorübergehend die Ausübung der Hoheitsrechte in Preußen in die Hände von Beauftragten lege. An der faktischen Situation änderte somit dieser salomonische Gerichtsentscheicl nichts, zumal Papen die Gerichtsentscheidung nicht voll anerkannte.

Alle innen- und außenpolltischen Maßnahmen der Regierung Papen sollten ­abgesehen von den Fernzielen einer Staatsreform – dazu dienen, den Nationalsoziall­sten eine Unterstützung oder zumindest eine Tolerierung dieser Regierung schmackhaft zu machen.

Die Nazis werden sterkste Reichstagsfraktion

Die Reichstagswahlen vom 31. Juli, brachten hingegen den Nationalsozialisten dank ihrer massiven Propaganda einen solchen Stimmengewinn (jetzt mit 230 Mandanten die stärkste Reichstagsfraktion, SPD 133, KPD 89, Zentrum 75, Deutschnationale nur 40, BVP 22 Sitze, alle anderen Gruppen, besonders die liberal-demokratischen Parteien, sanken unter Fraktionsstärke), daß die innenpolltische Lage als völlig gewandelt gelten konnte. Fast 14 Millionen hatten Hitler und seine Partei gewählt, die Mitgliederzahl der NSDAP stieg auf 1,2 Millionen (der SPD gehörten 1932 1,05 Millionen, der KPD 320 000 an).

Diese neue Sachlage wurde von der Umgebung Hindenburgs, von Papen und Schleicher verkannt. Hinter den Kulissen begannen wieder geheime Besprechungen zwischen Hitler und Schleicher. Dieser entwickelte abermals ein neues taktisches Konzept. Der langjährige         Reichstagspräsident Paul Löbe (SPD) berichtet über ein Gespräch mit Schleicher, in dem dieser ihm seine Pläne auseinandersetzte:

Schleicher: “ Wie ist die Lage? Die Welle (des Nationalsozialismus) ist so groß geworden, daß wir sie nicht aufhalten können. Deshalb müssen wir es anders machen. Wir nehmen den Kerl in die Mitte und hängen ihm zwei Gewichte an. Auf der einen Seite ich und die Reichswehr, auf der anderen Seite der alte Herr und seine Autorität. Da werden wir Adolf schon kirre kriegen.“

Löbe kommentiert: „So suchte ein Fuchs den anderen zu betrügen. Da Hitler aber nicht nur Fuchs, sondern auch Wolf und Schakal war, hat er Über Schleicher triumphiert und i . hn später umbringen lassen.“

Während Schleicher noch am 10. August in einer Ministerratssitzung seine Auffassung vertrat, „daß der Eintritt von Nationalsozialisten in die Reichsregierung zwangsläufig zu Kämpfen zwischen den in die Reichsregierung eingetretenen Nationalsozialisten und den SS- und SA-Formationen führen müsse“, hatten die Nationalsozialisten bereits durch ihre Forderung auf die Kanzlerschaft und die preußische Ministerpräsidentschaft für Hitler, das Reichs- und das Preußische Ministerium des Innern, das Landwirtschafts­und das Justizministerium für seine Gefolgsleute deutlich gemacht, wie sie sich die „Machtübernahme“ dachten. Goebbels formulierte es in seinem Tagebuch eindeutig: „Haben wir die Macht, dann werden wir sie nie wieder aufgeben, es sei denn, man trägt uns als Leichen aus unseren Ämtern heraus. Die ganze Partei hat sich bereits auf die Macht eingestellt“

Indessen zeigte es sich, daß der Einfluß Schleichers auf Hindenburg, der zeitweilig beherrschend schien, doch seine Grenzen hatte. Hindenburg fand sich nicht bereit, seinen inzwischen zum Lieblingskanzler gewordenen v. Papen gegen den unsympathischen Fanatiker Hitler einzutauschen, so wie auch Papen, der sich inzwischen völlig von der Vormundschaft Schleichers befreit hatte, nicht geneigt war, zugunsten Hitlers auf sein Amt als Reichskanzler zu verzichten. Er war höchstens bereit, Hitler die Vizekanzlerschaft zu übertragen. Die offiziellen Verhandlungen zwischen Hindenburg und Hitler endeten daher am 13. August mit einem eisigen Abschied. Die absichtlich scharf formulierte Mitteilung der Präsidialkanz­lei erwähnte, daß Hitler die Führung der Regierung und die Übertragung der „gesamten Staatsgewalt“ gefordert habe. Der Reichspräsident habe demgegenüber erklärt, daß er vor seinem Gewissen und seinen Pflichten dem Vaterlande gegenüber nicht verantworten könne, die gesamte Regierungsgewalt ausschließlich der nationalsozialistischen Bewe­gung zu übertragen, die diese Macht einseitig anzuwenden gewillt sei.

Unmittelbare Folge des 13. August mit dem Bruch zwischen Hitler und Papen war der Übergang der NSDAP zu schärfster Opposition gegen die Reichsregierung. Diese stand nun vor der Alternative: Gewaltanwendung oder schrittweise Kapitulation vor der NSDAP. Da sich Hindenburg, im ewigen Schwanken darüber, welchen Weg er einschlagen sollte, der ersten Konsequenz versagte, blieb schließlich nur die andere Lösung, die Kapitulation vor Hitler, auch wenn oder gerade weil er zunächst die Entscheidung noch hinauszögerte.

Was von Hitler und seiner NSDAP zu erwarten war, wenn sie erst einmal die Macht im Reiche in den Händen hielt, zeigte dabei allen, die immer noch nicht sehen wollten, der Mordfall in Potempa (Oberschlesien). In der Nacht vom 9./10. August drangen fünf SA-Leute in Uniform in die Wohnung eines Arbeiter ein (dessen Bruder Kommunist war) und prügelten ihn vor den Augen seiner Mutter zu Tode. Einen Tag zuvor hatte eine Verordnung der Reichsregierung, die die Geister, die sie mit der Aufhebung des SA-Verbots selbst gerufen hatte, endlich bannen wollte, als verschärfte Strafandrohung für politischen Terror und Gewalttaten die Todesstrafe festgelegt. Am 22. August verurteilte das Sondergericht in Beuthen die fünf Mörder zum Tode. Der Reichsjustizminister Gürtner empfahl jedeoch Hindenburg, die Todesstrafe in lebenslängliches Zuchthaus umzuwandeln, da den Mördern Unkenntnis der erst am Vortage erlassenen Verordnungen zugebilligt werden könne. So geschah es. Am 23. März 1933 wurden die Mörder von der Regierung Hitler freigelassen!

Ungeachtet der Symptomatik des Ereignisses begannen jedoch gerade in diesen Wochen Verhandlungen zwischen der NSDAP und dem Zentrum, das ebenfalls zur Regierung Papen in scharfer Opposition stand. Dabei war sogar zeitweise von einem Kabinett die Rede, in dem Hitler Kanzler und Brüning Außenminister würde. Eine Kombination Zentrum-BVP-NSDAP wäre auf Grund des Zahlenverhältnisses im Reichstag durchaus in der Lage gewesen, die Regierung Papen aus den Angeln zu heben und die DNVP zu überspielen. Allerdings gelangten die Verhandlungen über vage Anfänge nie hinaus, zumal die Meinungen in der NS-Führung über die Richtigkeit eines solchen Umweges zur Macht geteilt waren. Während der stellvertretende Partelvorsitzende Gregor Strasser für einen solchen Übergangskornpromiß eintrat (um erst einmal in die Regierung hineinzukommen und das ständige Warten vor den Toren der Macht zu beenden, das der Masse der ungeduldigen Anhänger der NSDAP, vor allem der SA, schon sichtlich auf die Nerven fiel), bestand Hitler nach wie vor auf der uneingeschränkten Führung in einem Präsidialkabinett.

Mißtrauenserklärung und Reichstagsauflösung

Angesichts der hoffnungslosen parteipolitischen Isolierung des „Kabinetts der Barone“, das nicht einmal von der DNVP ausdrücklich unterstützt wurde, mußte das erste Auftreten Papens vor dem neugewählten Reichstag für ihn zu einer vernichtenden parlamentarischen Niederlage werden. Sie trat am 12. September ein, obwohl DNVP und DVP bei der entscheidenden Abstimmung für ihn stimmten. Der an Stelle Löbes zum neuen Reichstagspräsidenten gewählte Hermann Göring (die Nationalsozialisten stellten als stärkste Reichstagsfraktion den Präsidenten), der an diesem Tage gleich zu Beginn dem kommunistischen Fraktionsvorsitzenden Torgler das Wort zu einem Antrag auf Aufhebung der letzten von Papen gegengezeichneten Notverordnungen erteilte, gab dem Reichskanzler während der dann folgenden Mißtrauensabstimmung keine Gelegenheit, die eilends vorbereitete Auflösungsorder des Reichspräsidenten zu verlesen, um nicht die in Gang befindliche Abstimmung unterbrechen zu müssen, was Papen zumindest die sichtbare Niederlage erspart hätte. So blieb Papen gar nichts anderes übrig, als das Auflösungsdekret auf den Präsidententisch zu legen und mit dem gesamten Kabinett unter Protest gegen die Verhandlungsführung Görings den Sitzungs­saal zu verlassen.

Mit 512 gegen 42 Stimmen wurde der Regierung Papen das Mißtrauen ausgesprochen, die vernichtendste Niederlage, die je ein Kabinett der Weimarer Republik im Reichstag erlebte.

Verfassungsrechtlich äußerst fragwürdig war die Begründung des Dekrets für die neuerliche Auflösung des eben erst gewählten Reichstags. Weil die Gefahr besteht, daß der Reichstag die Aufhebung meiner Notverordnung vom 4. September des Jahres verlangt“. Am 18. Juli 1930 war die Reichstagsauflösung noch mit der vollzogenen Aufhebung einer präsidialen Notverordnung begründet worden – was an sich schon fragwürdig war -; jetzt aber gingen Hindenburg und seine Ratgeber noch einen Schritt weiter:                  Nur weil die „Gefahr` bestand, daß der Reichstag ein ihm zustehendes Recht wahrnahm, wurde er aufgelöst. Die einzige Kontrolle des präsidialen Notverordnungs­rechtes war damit ausgeschaltet. Die Gesetzgebung war endgültig vom Parlament auf die Regierung übergegangen, ein quasi-konstitutionelles an die Stelle des parlamentarischen Systems getreten.

Ein erneuter Wahlkampf – die Wahlen wurden auf den 6. November festgesetzt – war unvermeidlich. Das durch die Wirtschaftskrise aufgewühlte deutsche Volk mußte nun zum fünften Male im Jahre 1932 zur Wahlurne schreiten. Die Regierung Papen erhielt damit zwar eine mehrwöchige Galgenfrist. Die NSDAP hatte durch die Ereignisse des 13. August eine erhebliche politisch­propagandistisch-massenpsychologische Schlappe erlitten, die Anhängermassen, die an eine nahe bevorstehende Machtergreifung geglaubt hatten, wurden immer ungeduldiger, die Reaktion vieler Parteigenossen auf Hitlers Starrsinn war alles andere als förderlich für ihn, so daß die NSDAP keineswegs mehr der monolithische Block war, den sie im Sommer darzustellen schien. Diese beginnenden Schwierigkeiten auszunutzen, fehlten Papen und seiner Regierung jedoch alle Voraussetzungen.

 Der BVG-Streik

Die Schlagzeilen der Zeitungen beherrschte in den ersten Novembertagen aber nicht die preußische Tragikomödie, sondern der Berliner Verkehrsstreik. Der gül­tige Tarifvertrag war bereits am 30. September ausgelaufen. Die Direktion der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) hatte ursprünglich, unter Hinweis auf wach­sende Fehlbeträge, eine Senkung der Löhne um 14 bis 23 Pfennig pro Stunde ver­langt, war dann aber vom freigewerkschaftlichen Gesamtverband der Arbeitneh­mer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs auf einen sehr viel geringeren Lohnabbau festgelegt worden: Ab 1. November sollten die Stundenlöhne auf unbestimmte Zeit um 2 Pfennig sinken.

Gegen diese Regelung machten vor allem die KPD und die Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition Front. Die RGO hatte bereits im Sommer 1932 be­gonnen, im Bereich der BVG „Einheitsausschüsse“ zu bilden. Aus Vertretern die­ser Ausschüsse rekrutierte sich auch eine Delegiertenkonferenz, die auf den 29. Oktober einberufen wurde. Von den 127 Delegierten gehörten 25 dem Gesamt­verband, 5 dem Deutschen Metallarbeiterverband, 5 der Gewerkschaft der Eisen­bahner und 52 der RGO an; 40, darunter eine nicht näher bekannte Zahl von Mitgliedern der Nationalsozialistischen Betriebszellen-Organisation, waren nicht gewerkschaftlich organisiert.

Die RGO war in der Delegiertenkonferenz damit sehr viel stärker, die Freien Gewerkschaften erheblich schwächer repräsentiert, als es ihren jeweiligen Antei­len an der Belegschaft entsprach: Von den insgesamt 22 000 Arbeitern der BVG gehörten Anfang November 6 000 dem Gesamtverband, 1 200 der RGO an. Rund zwei Drittel waren nicht gewerkschaftlich organisiert, darunter auch die etwa 1 300 Mitglieder der NSBO. Die Delegiertenkonferenz wählte am 29. Okto­ber einen zentralen Kampfausschuß mit 18 Mitgliedern. Ihm gehörten, neben einer nicht bekannten Zahl von RGO-Leuten und Unorganisierten, auch zwei Hausfrauen und je vier Mitglieder des Gesamtverbandes und der NSBO an. Aufgabe des Kampfausschusses sollte es sein, die Belegschaft bei der für den 2. No­vember angesetzten Urabstimmung für einen Streik zu mobilisieren.

Daß es zu einer solchen Urabstimmung kam, war bereits ein großer Erfolg der Kampagne gegen jeden Lohnabbau. Der Gesamtverband sprach in einer späteren Erklärung von „einern nicht mehr zu überbietenden Trommelfeuer“ der National­sozialisten und Kommunisten, das es den Gewerkschaften unmöglich gemacht habe, allein die Verantwortung für die endgültige Entscheidung über das Ver­handlungsergebnis zu übernehmen. Eine Funktionärsversammlung des Gesamt­verbandes faßte daher den Beschluß, eine Urabstimmung in den Betrieben – also nicht nur unter den Gewerkschaftsmitgliedern – herbeizuführen. Das Ergebnis sah folgendermaßen aus: Von 21 902 stimmberechtigten Arbeitern beteiligten sich 18 537 an der Abstimmung. Für einen Streik stimmten 14 471, dagegen 3 993. Nach der Satzung des Gesamtverbandes konnte „im allgemeinen“ die Zu­stimmung zum Streik gegeben werden, wenn sich von den organisierten Beschäf­tigten mindestens drei Viertel für einen Ausstand entschieden. Diese Mehrheit wurde nicht erreicht: Mit 66 % Ja-Stimmen gab es nur eine Zweidrittelmehrheit flür den Streik.

Die Funktionärskonferenz des Gesamtverbandes zog aus der Urabstimmung eine doppelte Konsequenz: Sie betrachtete das Verhandlungsergebnis und den Streik als abgelehnt. Was den zweiten Punkt anging, so war diese Entscheidung schwer zu begründen. Der Gesamtverband hatte sich ja bereits über seine Sat­zung hinweggesetzt, als er auch die Unorganisierten zur Urabstimmung rief; außerdem war für eine Arbeitsniederlegung eine Dreiviertelmehrheit keineswegs zwingend vorgeschrieben. Aber der Gesamtverband hielt einen politischen Streik (und darum handelte es sich auch aus der Sicht der RGO) für unverantwortlich. Sein entscheidender Fehler war demnach, daß er einer zu zwei Dritteln unorgani­sierten und daher radikalen Parolen zugänglichen Belegschaft eine Entscheidung überließ, deren wahrscheinliche Folge er nicht rrüttragen wollte. Als der Gesamt­verband sich gegen die überwältigende Mehrheit der Belegschaft stellte, versäum­te er die letzte Chance, dem Streik den Charakter eines Lohnkampfes zu geben. Überdies hatte es die Gewerkschaftsleitung unterlassen, die Führungen von ADGB und SPD über die Lage bei der BVG rechtzeitig zu informieren – was angesichts der politischen Bedeutung eines Verkehrsstreiks in Berlin unbedingt notwendig gewesen wäre.

Zur gleichen Zeit wie die Obleute des Gesamtverbandes tagten am Abend des 2. November auch wieder die Delegierten der Einheitsausschüsse. Sie beschlossen einstimmig, am kommenden Morgen in den Streik zu treten. In die zentrale Streikleitung wurden neben den führenden Funktionären von KPD und RGO so­wie einigen oppositionellen Gewerkschaften auch vier Mitglieder der NSBO und zwei Frauen von BVG-Arbeitern gewählt.

Daß die KPD Nationalsozialisten in die von ihr gelenkte Streikleitung einbe­zog, entsprach im Herbst 1932 durchaus der Parteilinie. Bereits am 24. Mai 1932 hatte Thälmann vor dem ZK gesagt, „bei der Auslösung von Streiks in den Be­trieben“ sei „die Hineinnahme von Nazis in die Streikkomitees . absolut not­wendig und auch erlaubt“. Auf dem 12. Plenum des EKKI im September nannte es der Vorsitzende der KPD einen „großen Fehler“, die Losung „Heraus mit den Nationalsoziafisten aus den Betrieben“ schematisch gegen alle nationalsozialisti­schen Arbeiter anzuwenden. Vielmehr müsse eine solche Kampagne Hand in Hand mit der ideologischen Offensive der Kommunisten gehen.

Gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz bedeutete das nichts anderes als die Übertragung der Taktik der „Einheitsfront von unten“ von ihrem bisherigen Anwendungsbereich, der SPD, auf einen neuen, die NSDAP. Thälmann bezeich­nete es zwar in seiner Rede vor dem ZK als „schweren Mangel“, daß die KPD mitunter sozialdemokratische und freigewerkschaftliche Arbeiter mit Nazi-An­hängern gleichgestellt habe, und vor dem Plenum des EKKI räumte er ein, in der Vergangenheit seien manche Genossen der falschen Auffassung gewesen, „daß es besser und leichter sei, rnit nationalsozialistischen als mit sozialdemokratischen Arbeitern zu diskutieren“. Aber die Parole vom „Hauptschlag gegen die Sozialde­mokratie“ legitimierte nicht nur die praktische „Gleichstellung“ von Sozialdemo­kratie und Nationalsozialismus, sondern lieferte sogar eine Rechtfertigung dafür, mit der NSBO gegen die „reformistische Gewerkschaftsbürokratie“ zu paktieren. Daß die KPD eine solche Zusammenarbeit als besonders wirkungsvolle Form des antifaschistischen Kampfes darstellte, verstand sich, dialektisch gesehen, von selbst.

Den Nationalsozialisten fiel das Zusammenspiel rnit den Kommunisten nicht nur aus ideologischen Gründen schwer, sie mußten auch damit rechnen, daß sich bürgerliche Wähler am 6. November wegen der Beteiligung am BVG-Streik von ihnen abwandten. Dennoch blieb ihnen, wie Goebbels am 2. November in sein Tagebuch schrieb, gar nichts anderes übrig als mitzumachen. „Wenn wir uns die­sem Streik, der um die primitivsten Lebensrechte der Straßenbahnarbeiter geht, entzogen hätten, dann wäre damit unsere feste Position im arbeitenden Volk ins Wanken gekommen. Hier haben wir vor der Wahl noch einmal die große Gele­genheit, der Öffentlichkeit zu zeigen, daß unser antireaktionärer Kurs wirklich von innen heraus gemeint und gewollt ist, daß es sich bei der NSDAP in der Tat um eine neue Art des politischen Handelns und um eine bewußte Abkehr von den bürgerlichen Methoden handelt.“ Der Preis, den die NSDAP für diesen Nachweis zu zahlen hatte, schien dem Berliner Gauleiter nicht zu hoch. „Viele bürgerliche Kreise werden durch unsere Teilnahme am Streik abgeschreckt. Das ist aber nicht das Entscheidende. Diese Kreise kann man später sehr leicht wiedergewin­nen; hat man aber den Arbeiter einmal verloren, dann ist er auf immer verloren.“

„Keine Streikmehrheit bei der BVG“ überschrieb der „Vorwärts“ am Morgen des 3. November seinen Bericht über die Urabstimmung. Am Abend erschien das Parteiorgan der SPD mit der Schlagzeile „Berlin ohne Verkehrsmittel“. Die Leser konnten der Reportage entnehmen, was sie mittlerweile ohnehin wußten: Der Aufruf zum Streik war von der großen Mehrheit der Verkehrsarbeiter befolgt worden. Bei der U-Bahn hatte das arbeitswillige Personal nicht ausgereicht, um den Betrieb aufzunehmen, berichtete der „Vorwärts“. „Bei der Straßenbahn ergibt sich folgendes Bild: Der Betrieb wurde teilweise aufgenommen, und zwar fahr­planmäßig von der Linie 3, die jedoch am Alexanderplatz aufgehalten wurde. Mit Unterstützung des sympathisierenden Publikums bedrohten die Streikenden die Straßenbahnschaffner, schlugen teilweise die Fenster ein und zwangen die Führer, in den Betriebsbahnhof zurückzufahren … Die Linien 54 und 154 haben von Spandau aus den Betrieb aufgenommen. An der Gedächtniskirche wurden sie je­doch aufgehalten und das Publikum gezwungen, die Wagen zu verlassen. In einem Falle entwendete man dem Weichensteller die Stange, in einem anderen durch Schnitt die Leine der Stromabnehmerstange, so daß die Wagen nicht wei­terfahren konnten. In vielen Fällen wurden die Wagen mit Steinen beworfen und die Fensterscheiben zertrümmert. Auch hatte man die Weichen teilweise mit Sand und Steinen gesperrt.“

In der gleichen Ausgabe meldete die Zeitung, die am Konflikt mit der BVG beteiligten Gewerkschaften hätten ihren Obleuten noch tags zuvor die Weisung erteilt, „sich irgendwelchen Gewaltandrohungen der Streikkomitees der Kommu­nisten und Nazis nicht zu widersetzen, sondern Gewehr bei Fuß zu stehen. Dem­entsprechend hat sich auch das Personal verhalten, als heute früh die Arbeit auf­genommen werden sollte.“ Des weiteren war zu lesen, die Gewerkschaften hätten angesichts des Ergebnisses der Urabstimmung den Vorsitzenden des Aufsichts­rates der BVG zu neuen Besprechungen aufgefordert, in denen eine Verständi­gung zur baldigen Beilegung des Konflikts gesucht werden solle. An die Arbeiter der BVG richtete der „Vorwärts“ den Appell, sie müßten einsehen, „daß die beru­fenen Vertreter ihrer Interessen in den Gewerkschaften zu suchen sind und nicht dort, wo man am Feuer eines Lohnstreiks kommunistische oder nationalsozialisti­sehe Parteisuppen kochen möchte“.

Im Reichskabinett erklärte am Vormittag des 3. November der neuernannte Reichsminister Bracht, der Streik sei eine „Kraftprobe der KPD“. Wirtschaftliche Gründe seien kaum gegeben, da bei der BVG 45 Stunden in der Woche gearbeitet werde und die Stundenlöhne um 23 Pfennige über denen der Reichsbahn lägen. Die Nationalsozialisten hätten sich an den Beschädigungen der ersten ausfahren­den Wagen beteiligt, arbeiteten aber sonst nicht mit der KPD zusammen. Auch sei die militärische Stoßkraft der Nationalsozialisten geringer als die der geheimen Rotfront-Organisation, zu der auch eine Akadernikergruppe von 20 000 Mann gehöre. Die kommissarische preußische Regierung gehe nachdrücklich gegen den Streik vor und werde die „Rote Fahne“ bis zum 12. November verbieten. Geprüft werde noch, ob es sich bei dem Streik nicht um das Verbrechen des Hochverrats handle. Offensichtlich arbeiteten die Kommunisten auf den Generalstreik hin.

Am Nachmittag trat nach kurzen ergebnislosen Vorverhandlungen mit den Tarifparteien die Schlichtungskamtner zusammen. Sie fällte einen Schiedsspruch, der im wesentlichen das früher erzielte Verhandlungsergebnis, darunter die unbe­fristete Lohnsenkung um 2 Pfennig je Stunde, bestätigte. Die BVG nahm den Schiedsspruch an, die Gewerkschaften lehnten ihn ab. Am Abend erklärte darauf­hin der staatliche Schlichter, Amtsgerichtsrat Dr. Heuer, den Schiedsspruch für verbindlich. Unmittelbar danach forderte die BVG ihr streikendes Personal durch Säulenanschlag und Plakate auf, die Arbeit bis Freitag den 4. November, 14 Uhr, wieder aufzunehmen. Für den Fall der Weigerung drohte die Direktion mit frist­loser Entlassung.

Einige Stunden später begannen sich die Ereignisse zu überstürzen. Die Polizei führte in der Nacht zum 4. November zahlreiche, nach Meinung des „Vorwärts“ meist wahllose Verhaftungen durch. Am frühen Freitagmorgen kam es in der Nähe des Straßenbahnhofs Belziger Straße in Schöneberg zu schweren Zusam­menstößen zwischen Streikenden und Polizeibeamten; von der Polizei wurde an zwei Stellen scharf geschossen, wobei ein nationalsozialistischer Zollbeamter ge­tötet wurde. Kommunisten und Nationalsozialisten stürrnten laut Bericht des sozialdemokratischen Parteiorgans gemeinsam ein Transportauto des „Vor­wärts“ und verstreuten die Zeitungen auf der Straße.

Um 10 Uhr kamen die Obleute des Gesamtverbands zusammen. Sie mißbillig­ten das Verhalten der Polizei, sprachen ihren Unterhändlern das Vertrauen aus und forderten ihre Mitglieder auf, die Arbeit wieder aufzunehmen. Der Versuch, dies zu tun, war allerdings ein völliger Fehlschlag. Nationalsozialisten und Kom­munisten lösten in fast allen Stadtteilen schwere Unruhen aus. In der Hauptstraße in Schöneberg errichtete die SA Barrikaden; ein halbbesetzter Omnibus wurde mit Steinen bombardiert; die Polizei gab zuerst Schreckschüsse, dann auch ein Dutzend gezielter Schüsse in die Menge ab. Drei Menschen wurden am Nachmit­tag durch Polizeikugeln getötet, acht schwer verletzt. Goebbels notierte: „In Ber­lin herrscht Revolutionsstimmung … Unser’Ruf bei der Arbeiterschaft hat sich in ganz wenigen Tagen glänzend gehoben.“ Der „Vorwärts“ beobachtete einige Fäl­le von „Verbrüderung von Nazis und Kozis“ und kommentierte: „Gestern noch ,Braune Mordpest‘ hüben und Rotes Untermenschentum‘ drüben! Heute in treu­ester Bundesgenossenschaft vereint! Welchem klassenbewußten Arbeiter sollte da nicht die Schamröte ins Gesicht steigen!“

Am Abend hielt Papen eine Wahlrede über alle deutschen Sender. Er nannte den „gottesleugnerischen Bolschewismus“ den Jod unserer Jahrtausende alten Kultur“, griff aber auch die Nationalsozialisten scharf an. Seine Regierung habe gehofft, daß Hitler „die der bolschewistischen Lehre verfallene Arbeiterschaft der nationalen Sammlung zuführen“ werde und ihm freie Hand gelassen. Aber sein Einbruch in die rote Front sei leider gering geblieben, und nun versuchten die Nationalsozialisten das Wirtschaftsprogramm der Reichsregierung zum Scheitern zu bringen. „Die Sabotage, die aus reinem Parteiegoismus gegen das Programm geführt wird, die wilden Streiks, die auch von den Nationalsozialisten Arm in Arm mit den Kommunisten vom Zaun gebrochen werden, um den Wirtschafts­frieden zu stören, sind ein Verbrechen gegen die Gesamtheit der Nation, die hier ihre letzten Kraftreserven eingesetzt hat.“ Ganz im Sinne des „starken Staates“ versicherte der Reichskanzler seinen Zuhörern, „daß gegen solche Friedensstörer wie hier in Berlin mit größter Strenge vorgegangen werden wird“.“0

Am Abend des 7. November, einen Tag nach der Reichstagswahl, berichtete der „Vorwärts“, der Verkehr in Berlin komme wieder in Gang. Über 6 000 Arbei­ter und Angestellte hätten sich am Morgen zur Wiederaufnahme der Arbeit ge­meldet, und die Zahl der Arbeitswilligen wachse ständig. Bei der Straßenbahn sei­en an diesem Montag 45 %, bei den Autobussen 40 % des normalen Verkehrs erreicht; nur der U-Bahnbetrieb sei noch immer sehr schwach. Außerdem meldete das Blatt, zwischen Sonntagabend und Montagmorgen seien 105 Personen, meist Hakenkreuzler und Kommunisten, wegen politischer Ausschreitungen festgenommen und der Politischen Polizei des Polizeipräsidiums zugeführt“ wor­den.

Zur gleichen Zeit, als die Abendausgabe des „Vorwärts“ verkauft wurde, be­schloß die Zentrale Streikleitung den Abbruch des Kampfes. In einer öffentlichen Erklärung hieß es, in „kämpfender Einheitsfront“ hätten sich „Gewerkschaftskol­legen, sozialdemokratische, parteilose und nationalsozialistische Arbeiter die Bru­derhand gereicht zum gemeinsamen Kampf. Zum erstenmal trat die Belegschaft eines der größten Betriebe trotz der offenen Streikbruchmaßnahmen der sozialde­mokratischen Gewerkschaftsbürokratie einmütig in den Streik gegen den verbind­lich erklärten Schiedsspruch und gegen die Polizeimaßnahmen“.

Zwischen den Nationalsozialisten und ihren Führern machten die Verfasser des Aufrufs einen deutlichen Unterschied: Während „Mitglieder der nationalso­zialistischen Betriebszellenorganisation Schulter an Schulter in gemeinsamer Front mit uns kämpften“, habe die Gauleitung der NSDAP alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die NSDAP-Mitglieder vom Massenstreikschutz zurückzuzie­hen. „Unter Ausschaltung der Streikleitung sollten sie verhandeln, um die Kampf­front zu zersplittern. Aus wahlagitatorischen Gründen erklärte sich die NSDAP für die Streikenden, aber gleichzeitig verhinderte sie auf Befehl ihrer großkapitali­stischen Kommandeure jede aktive Unterstützung der Streikenden durch ihre Organisation.“

Viel schärfere Worte fand die Zentrale Streikleitung für die „Reforrnisten“. „Worum der Staatsapparat und die BVG-Direktion sich fünf Tage vergeblich be­mühten, das gelang am fünften Streiktage den fahrenden sozialdemokratischen Gewerkschaftsfunktionären. Als erste führten sie zusammen mit den Polizeioffi­zieren den Teilverkehr durch und schlugen damit eine Bresche in die Einheitsfront der‘ Arbeiter. So erwiesen sich diese führenden sozialdernokratischen Gewerk­schaftsfunktionäre als die beste Stütze der Papen-Regierung in der BVG.“ Die Erbitterung über das „schändliche Treiben der sozialdemokratischen Gewerk­SC4aftsbürokraüe“ dürfe aber nicht zum freiwilligen Austritt aus den reformisti­schen Gewerkschaften führen. „Gerade jetzt erst recht müssen wir kämpfen um jede wählbare Funktion in der Gewerkschaft und durch einen systematischen Kampf den reformistischen Einfluß im Betrieb und unter den Gewerkschaftsmit­gliedern überwinden. Deshalb hinein in die RGO!“

Die NSBO erklärte den Streik am 8. November, als der Verkehr in Berlin bereits wieder völlig normal lief, für beendet. In einem Aufruf warf sie den Kommunisten vor, sie hätten „gemeinsam mit den Freien Gewerkschaften die Arbeiterfront verraten“. Am Abend schrieb Goebbels in sein Tagebuch: „Dieser Streikabbruch ist nicht ohne tiefe Tragik. Wenn der Arbeiter wüßte, wie stark er in seiner Einigkeit wäre, dann würde niemand mehr ihm sein Lebensrecht verweigern können. Das Arbeitertum unterliegt immer durch seine eigene Schwäche.“

Für die KPD hatte sich die Aktion, auf den ersten Blick jedenfalls, ausgezahlt: Es war ihr eine Mobilisierung gelungen, die bei der Reichstagswahl vom 6. November in Berlin in überdurchschnittlichen Stimmengewinnen zu Buche schlug. Die willkommene Kehrseite waren die Verluste der Sozialdemokraten und der Nationalsozialisten. Über den Wahltag hinaus den Ausstand fortzusetzen, erschien politisch nicht notwendig und organisatorisch unmöglich: Einen „wilden Streik“ konnte man gegen die Gewerkschaften allenfalls einige Tage durchhalten, aber nicht zum Erfolg führen.

Die Arbeitsniederlegung bei der BVG war der spektakuläre Höhepunkt jener Welle von Streiks im Herbst 1932, die auf eine wieder ansteigende Bereitschaft zum sozialen Protest in der Arbeiterschaft schließen ließ. Angesichts erster Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung wollten viele Arbeiter eine weitere Verschlechterung ihrer Einkommensverhältnisse nicht mehr kampflos hinnehmen. Die Sozialdemokraten erkannten diesen Umschwung zu spät, um ihn politisch für sich nutzen zu können. Die Kommunisten waren skrupellos genug, um die unor­ganisierten Arbeiter gegen die Gewerkschaften und die Nationalsozialisten gegen die Sozialdemokraten auszuspielen. Ohne die Rückversicherung bei der NSBO hätte der BVG-Streik nicht der kommunistische Propagandaerfolg werden kön­nen, der er war.

Der KPD war dieser Erfolg soviel wert, daß sie dafür ein längerfristiges Risiko in Kauf nahm: ein stärkeres Eindringen der Nationalsozialisten in die Arbeiter­schaft. Ebendies war Goebbels, von Hitler gebilligtes Kalkül. Am 6. November ging es nur insoweit auf, als die NSDAP in den Arbeitervierteln Berlins sehr viel geringere Stimmenverluste hinnehmen mußte als in den bürgerlichen Stadtteilen. Aber in den Augen vieler Arbeiter stand die Partei Hiders seit den ersten Novern­bertagen besser da als vorher. Daß dem so war, verdankten die Nationalsoziali­sten der Rolle, die sie rnit Hilfe der Kommunisten beim Berliner Verkehrsstreik hatten spielen können. So gesehen, war dieses Ereignis folgenreich – und zu­gleich ein Paradebeispiel für das destruktive Zusammenwirken der beiden totalitä­ren Parteien von links und rechts.`

Reichstagswahl vom 6. November und die Folgen

Der Wahlkampf selbst konnte zudem von den Nationalsozialisten nicht wie bisher in voller Stärke geführt werden: die Finanzlage der Partei war durch die vorangegangenen Wahlschlachten und auch durch das Schwanken der Industrie, die mit Hitlers Haltung am 13. August nicht einverstanden war, angespannt; auch war die Hochstimmung der Juliwahlen vertauscht. So trat der von der NS-Führung erwartete Rückschlag tatsächlich ein, allerdings in einem Ausmaß, das ihre schlimmsten Befürchtungen übertraf. über zwei Millionen Wähler hatten sich von der NSDAP abgewandt. Die Zahl ihrer Reichstagsmandate ging auf 196 zurück. Sie blieb allerdings auch jetzt noch die stärkste Partei im Reichstag. Da die Kommunisten es von 89 auf 100 Sitze brachten, blieb die negative Sperrmehrheit der totalitären Parteien erhalten (50,7 Prozent). Einen gewissen, wenn auch relativ bescheidenen Gewinn hatten die Deutschnationalen zu verzeichnen, die sich in der Wahl zu der Regierung Papen bekannt hatten. Ihre Stärke war auf 52 Reichstagsmandate angewachsen, doch änderte dies die hoffnungslose parlamentarische Isolierung der Regierung nicht. Während das Zentrum nur geringe Einbußen hatte, verlor die SPD 12 Reichstagsmandate und besaß jetzt noch 121. Eine Regierung der Mitte etwa im Sinne der früheren Großen Koalition war auf Grund der Zahlenverhältnisse nach wie vor ebensowenig möglich wie eine – parlamentarisch fundierte – Regierung der „Harzburger Front` (NSDAP und DNVP), ganz abgesehen davon, daß diese im Augenblick zerfallen war.

Die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ faßte den Ausgang der Wahl zusammen, indem sie feststellte, „daß der Nationalsozialismus, ohne im geringsten in die sogenannte marxistische Front einbrechen zu können, die proletarischen Elemente behalten, nur bürgerliche Mitläufer an die nationalen Rechtsparteien oder die Nichtwähler verloren hat“. Sehr scharf blieb weiterhin die Opposition des Zentrums, vor allem auch der SPD, gegen die Regierung Papen, die nach ihrer Auffassung“ auf dem besten Wege war, auch die Autorität des Reichspräsidenten endgültig zu diskreditieren“.

Auf Druck Schleichers, der sich seit dem 13. August innerlich von „seinem“ Kanzler gelöst hatte, reichte Papen am 17. November die Auflösung seines parlamentarisch gänzlich isolierten Kabinetts ein, um Hindenburg freie Hand zu Verhandlungen mit den Parteiführern zu geben. Hauptpunkt der Kontroverse zwischen Schleicher und Papen war die Überzeugung des Reichswehrministers, daß die Armee zur gewaltsamen Durchsetzung eines Verbots der extremistischen Parteien und ihrer Verbände, das im Rahmen von Papens Staatsreformplänen vorgesehen war, nicht in der Lage sei. Hinter dem Rücken des Kanzlers ließ Schleicher diese seine Auffassung einige Kabinettskolle­gen wissen.

In die nun anlaufenden Besprechungen schalteten sich auch einige bedeutsam Großin­dustrielle und Männer der Finanz ein, die dem Reichspräsidenten ein Memorandum übersandten, dessen einziger Zweck es war, die Notwendigkeit einer Berufung Hitlers zum Kanzler darzulegen. Die Verhandlungen Hindenburgs mit den Partelführern brachten wenig Neues, abgesehen davon, daß Prälat Kaas, der Vorsitzende des Zentrums, eine „Regierung der nationalen Konzentration“, notfalls auch mit Hitler als Kanzler, befürwortete. In den mehrtägigen mündlichen und schriftlichen Verhandlungen zwischen Hindenburg und Hitler stellte der Reichspräsident Bedingungen, die Hitlers Bewegungsfreiheit als Kanzler weitgehend eingeschränkt hätten. Hitler lehte unter diesen bedingungen ab. Damit war auch der zweite Versuch, Hitlers im Rahmen eines kontrollierenden Kabinetts zur Mitregierung zu veranlassen, gescheitert.

Das Ende des Papen-Kabinetts

Um eine Entscheidung über die Fortführung des Präsidialkabinettskurses herbeizufüh­ren, empfing Hindenburg am 1. Dezember seine beiden wichtigsten Berater: Papen und Schleicher. Sie trugen ihm zwei grundsätzlich unterschiedliche Konzeptionen vor, die wie Alternativvorschläge wirkten. Papen erklärte, daß die Welmarer Verfassung für einen solchen Zustand (gemeint war die völlige Zersplitterung und Verkrampfung der parlamentarischen Situation und die im Reich herrschenden bürgerkriegsähnlichen Zustände) keineVorsorge getroffen habe,daß er daher vorschlage, die Staatsreformpläne seiner Regierung gegen alle Widerstände notfalls mit Gewalt durchzusetzen, den Reichstag auszuschalten und alle Parteien und halbpolltischen Organisationen durch die Reichswehr und die Polizei zu unterdrücken. Durch eine Volksabstimmung oder eine neu einzuberufende Nationalversammlung solle dieser Staatsstreich, der Bruch der Weimarer Verfassung, nachträglich gebilligt werden. Schleicher entwickelte demgegenüber einen neuen „Zähmungsplan“. Er wollte Gregor Strasser, Hitlers Stellvertreter, mit einigen seiner Anhänger an einem Kabinett Schleicher beteiligen, die NSDAP spalten, eine Anzahl nationalsozialistischer Abgeordneter („einige 60“) gewinnen und durch eine „Gewerkschaftsachse“, Ausnutzung der gewerkschaftlichen Bindungen von Ab­geordneten aller Fraktionen bis zur SPD, die Tolerierung der Regierung erreichen.

Hindenburg entschied sich für Papen, der in wenigen Monaten seiner Regierung das volle Vertrauen des Reichspräsidenten gewonnen hatte. In der Kabinettssitzung am folgenden Tage (2. Dezember) mußte Jedoch Papen feststellen, daß die Mehrzahl seiner Kabinettskollegen unter dem Eindruck der Schleicherschen Argumentation, die sie schon kannten, den Staatsstreichplan ablehnten. Schleicher verwies in der Kabinettssit­zung auf die Studie des Oberstleutnants Ott aus dem Reichswehrministerium, über deren Ergebnisse Ott selbst anschließend dem Kabinett vortrug. Die Studie ging von der Frage aus, ob die Webrmacht einem zukünftigen Ausnahmezustand gewachsen sein würde, der gegen den Terror von rechts und links durchzuführen wäre. In einem dreitägigen Kriegsspiel mit Vertretern aller Staatseinrichtungen, die für einen Ausnah­mezustand von Wichtigkeit waren, war festgestellt worden, daß die militärischen Möglichkeiten „überall gleich unzulänglich“ waren. Im ganzen gesehen sei es unmöglich, „irgendwelche Ordnungskräfte auszusparen und an den Schwerpunkten der Krise zusammenzuziehen“, man habe daher Schleicher melden müssen, „daß die Ordnungs­kräfte des Reiches und der Länder in keiner Weise ausreichten, um die verfassungsmäßige Ordnung gegen Nationalsozialisten und Kommunisten aufrechtzuerhalten und die Grenzen zu schützen. Es sei daher die Pflicht des Reichswehrministers, die Zuflucht der Reichsregierung zum militärischen Ausnahmezustand zu verhindern.“

Die viel erörterte Frage, wieweit die Studie objektiv die Situation widerspiegelte oder „bestellte Arbeit“ des Reichswehrministers war, läßt sich auf Grund aller verfügbaren Unterlagen heute wie folgt beantworten: Ott (als Schleicher treu ergebener Mitarbeiter) betrachtete seine Aufgabe darin, das Ergebnis zu bestätigen, das Schleicher seiner Meinung nach von ihm erwartete, ohne daß er einen „Auftrag“ dazu erhalten hätte. Ott kannte Schleichers Standpunkt, daß Papen unter keinen Umständen Gelegenheit erhalten dürfe, seine auf einen Staatsstreich hinauslaufenden Pläne zu verwirklichen. Im Anschluß an die bereits in der Krise von 1923 von der Reichswehrführung vertretene Auffassung, daß die Truppe nicht stark genug sei, um gegen rechts und links gleichzeitig vorzugehen, lag allen an dem Kriegsspiel beteiligten Offizieren diese Antwort ohnehin nahe. Wenn man daher auch der These zustimmen kann, daß die Reichswehr 1932 durchaus in der Lage gewesen wäre, es militärisch mit den zahlenmäßig stärkeren Kräften der SA aufzunehmen – ein bewaffneter Aufstand der Kommunisten drohte, objektiv gesehen, nicht – so mußte man andererseits doch zugestehen, daß die Folgen eines Bürgerkrieges in der schweren Wirtschaftskrise unabsehbar waren.

Nachdem sich die Mehrheit des Kabinetts gegen ihn ausgesprochen hatte, blieb Papen nichts anderes übrig, als nun doch Hindenburg seinen endgültigen Rücktritt zu erklären.

Nur äußerst ungern trennte sich der Präsident von seinem „Liblingskanzler“. „Dann müssen wir in Gottes Namen Herrn v. Schleicher sein Glück versuchen lassen“, war seine resignierende Feststellung. Während er Papen ein Bild mit der Widmung „Ich hatte einen Kameraden“ sandte, war er im innern der festen Überzeugung, daß Schleicher der vor ihm Liegenden Aufgabe nicht gewachsen sei. Wie tragische Ironie erscheint es, daß Schleicher, der jahrelang das volle Vertrauen des alten Reichspräsidenten besessen und den stärksten Einfluß auf ihn ausgeübt hatte, in dem Augenblick, in dem er endlich aus dem Hintergrund hervortrat und als Kanzler die volle Verantwortung übernahm, dieses Vertrauen, das niemals notwendiger als jetzt gewesen wäre, verloren hatte.

Quelle und Zitate:
Geschichte der Arbeiterbewegung, Band4
Tiergarten 1933 – 1994
telegraph Ausgabe 4 und 5 / 1996

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