Kongreß gegen den Liberalismus und für die Möglichkeit in Chiapas

von Wolfgang Rüddenklau
aus telegraph 7/8 1996 (#90)

Wunschgebilde waren es, die die Berichterstattung internationaler Linker und selbst Liberaler über die frühe Sowjetunion in den zwanziger Jahren kennzeichneten. Ohne allen Argwohn ließen sie sich von Funktionären durch das Land führen und notierten fleißig, daß schwarz weiß und weiß schwarz sei. Die Sowjetunion, meinte sogar Kurt Tucholski, sei schließlich eine Hoffnung. Bernhard Shaw sagte es mal negativ: Wenn die Hoffnung auf die Sowjetunion trügen würde, müsse man diese Welt voll Trauer verlassen. Demzufolge konnte nicht sein, was nicht sein durfte und die wenigen, die ein genaues Bild von den Verhältnissen zu gewinnen versuchten, wie Victor Serge, Angelica Balabanoff oder der russische Anarchist Peter Kropotkin, wurden nie­der­geschrien und totgeschwiegen. Das ist auch nach den Stalinschen Massenmorden praktisch bis zum Schluß des stalinistischen Systems so geblieben. Kritiker des sogenannten „real existierenden Sozialismus“ galten bei westlichen Linken als rechts und nach einigem verzweifelten Bemühen, sich dieser Afterlogik zu widersetzen, hielten sie entweder das Maul oder reihten sich wirklich bei den Rechten ein. Diesen Gefallen werde ich den Doktrinären nicht tun. Ich bin und bleibe osteuropäischer unabhängiger Linker und lasse mir nicht den Mund verbieten. Das habe ich mir auch für meine Mexiko-Reise vorgenommen.

Als deutscher Delegierter zum Internationalen Kongreß für die Menschlichkeit und gegen den Neoliberalismus nach Mexiko zu fahren, war meinem Geschmack nach eigentlich schon ein bißchen zu viel Abhängigkeit. Ich ließ mich daher zusätzlich noch als Alternativ-Journalist akkreditieren, ein Ansinnen, das eine neue Menge von Formalien erforderte. Beispielsweise sollte ein Formbogen des „tele­graph“ nach Mexiko gefaxt werden, auf dem bestätigt wurde, daß die Redaktion meine Anwesenheit in Mexiko wünscht. Ein Formblatt besitzen wir nicht – aber so was läßt sich ja, obwohl es eigentlich lächerlich ist, innerhalb von 30 Minuten kunstvoll im Page­maker konstruieren. Und einer von den zwei anderen Redaktionsmitgliedern fand sich grienend zur Unterschrift bereit. Schließlich habe ich in Mexiko dann doch nicht die Möglichkeiten als akkreditierter Journalist wahrgenommen. Abgesehen davon, daß das zusätzlichen Streß bedeutet hätte, schien es mir plötzlich falsch, die gebotene Möglichkeit wahrzunehmen, als Überflieger von Arbeitsgruppe zu Arbeitsgruppe zu reisen.

Daß ich auch ansonsten das Fliegen als widernatürliche und angsteinflößende Fortbewegungsart empfinde, ist wahrscheinlich meine ganz persönliche Angelegenheit. Deshalb will ich nur meine erste Begegnung mit der mexikanischen Religiosität im Inlandsflugzeug nach der Hauptstadt der Provinz Chiapas, Tuxtla Gutierrez, schildern. Nach den üblichen Informationen über Verhalten in Notfällen fuhr die strenge Stewardess, eine Donna, wie ich mir sie immer vorgestellt habe, fort, daß wir im übrigen bei einem solchen Flug in Gottes Hand sind. Und sich bekreuzigend bat sie die Jungfrau Maria uns vor einem Unglück zu bewahren. Während sich die übrigen Fahrgäste auch bekreuzigten, geriet ich ein wenig in Panik. In welchem Zustand, fragte ich mich, ist ihre Technik? Sollte sie es vielleicht allzusehr nötig haben, sich dem Schutz des Gottes anzuvertrauen? Aber die Omnipräsenz religiöser Rituale und Idole in Mexiko erfuhr ich in der Folge noch genügend. Die katholischen Heiligen und auch die Revolutionshelden haben die direkte Nachfolge der alten Atzteken- und Maya-Götter angetreten und erfüllen ganz deren direkte (und jeweils spezialisierte) magische Schutzfunktionen. Andererseits scheint innerhalb dieser polytheistischen Welt ein relativ hohes Maß von Toleranz für andere Lebensauffassungen möglich, während Regierungsvertreter bisweilen offenbar sehr bewußt evange­likale Sekten unterstützen, um Konflikte in der Bevölkerung zu schüren.

Von Tuxtla Gutierrez ging es nach San Christobal einer gemütlichen Kleinstadt im Kolonialstil, wo die meisten Teilnehmer sich schon seit einer Woche auf das Treffen vorbereiteten. Roman Kalex vom Dresdner anarchistischen Arbeitskreis Wolfspelz und ich kamen in letzter Sekunde und bekamen natürlich prompt unter die Nase gerieben, daß wir uns offenbar den notwendigen Gruppenzwängen entziehen wollten. Aber die geheimnisvolle Ankündigung, daß das Aufstandsgebiet um 24 Uhr geschlossen würde, hatte jedenfalls nur Show-Wert. Los ging es nicht, wie angekündigt, um 4 Uhr, sondern gegen 10 und dann auch nur ins Nachbardorf zu einer Busfahrergenossenschaft. Dort gab es das erste Zusammentreffen der Teilnehmer aus, wie später zu erfahren war, 42 Ländern der Welt, von nordamerikanischen Indianern über baskische Nationalisten bis zu deutschen Feministinnen, ein babylonisches Sprach- und Weltanschauungsgewirr. Nach langen Wartestunden fuhr der riesige Buskonvoi los. Überall in den Dörfern standen an den Straßen winkende Indios und wir, schon ganz im Bewußtsein internationalisti­scher Pflicht, winkten zurück.

Nach etwa einer Stunde hielten die Busse vor dem Dorf Oventik. Wir wurden von einer langen Reihe von Indios in schwarzen Masken emfan­gen. Die Männer trugen an der Hüfte lange Knüppel, die Frauen waren waffenlos und hatten meist keine Maske, sondern nur das schön gemusterte Sympathisantentuch bis unter die Augen gezogen. In einer Reihe, hieß es, müßten wir uns jetzt gegenüber den Zapatistas aufstellen, die Frauen rechts, gegenüber den Frauen, die Männer links, gegenüber den Männern. Die Zapatistas begannen unsere Taschen zu durchsuchen. Beschlagnahmt wurden Messer, alle spitzen Gegenstände wie Nagelscheren und Dosenöffner, aber auch Alkohol, der bei den Zapatistas auf Grund einer Intervention des zapatisti­schen Frauenverbandes verboten ist. Meine Tasche durchsuchte ein höchstens 18-jähriger, der sichtlich Probleme mit seiner Rolle hatte, aber richtig das Besteck fand, das ich mir schließlich doch eingesteckt hatte. Ein wenig peinlich war dann auch das Kondom, von dessen Anwesenheit in der Tasche ich gar nichts mehr wußte. Auch darüber hinaus hatte ich, der jahrelang von einer angeblich sozialistischen Ordnungsmacht kujoniert wurde, meine Interpretationsschwierigkeiten mit der revolutionären Gegenmacht, die hier meine Sachen visitierte.

Aber ich war schnell versöhnt, als wir, die deutsche Gruppe, dann in das Lager Aguascalientes 2 einzogen. Die an einem Hang gelegene Lagerstraße war links und rechts von Indios gesäumt, die uns mit ständigen Vivatrufen und Klatschen zu unseren Baracken geleiteten. Ein alter Mann ergriff meine schwere Tasche und trug sie, obwohl er fast darunter zusammenbrach. Nein, wurde mir gesagt, ich dürfe ihm nicht die Tasche abnehmen. Das verletze die Gesetze der Gastfreundschaft. Von den Baracken wurden wir unter noch lauterem Klatschen und Vivat zum Festplatz geleitet, wo ein Sprecher über Lautsprecher die deutsche Delegation willkommen hieß, unterbrochen von den Reprisen einer Dorfband, deren musikalische Qualität vielleicht mit den Worten „gut gemeint“ beschrieben werden könnte. In den weiteren Reden wurden wir dann als Deutsche gefeiert wie auch die Delegationen aus der ganzen Welt, die internationale Solidarität, die soziale Revolution, die Zapatistas und der Subcommandante Marcos. Dann zog die nächste Delegation die Lagerstraße herunter und das Ritual begann von neuem und dauerte den ganzen Nachmittag an. Unerklärlich war mir die Disziplin und Geduld, mit der die Indios, die Basis der Zapatistas aus den umliegenden Dörfern, immer wieder und immer neu die Einziehenden beklatschten und bejubelten, während die meisten der Delegierten sich nach gewisser Zeit schon etwas entnervt in die Baracken zurückzogen, um sich dort, so gut es ging, einzurichten. (In der Internet-Ausgabe des „tele­graph“ kann man eine 1,2 Mega große Wave-Datei mit einem Ausschnitt aus dieser Begrüßungsfeier hören).

Aguascalientes 2 ist, wie auch eine Reihe anderer Konferenzzentren, die die Zapatistas in der Aufstandszone errichtet haben, nach dem Dorf benannt, in dessen Nähe das Lager errichtet wurde, in dem die Demokratische Versammlung der linken Parteien und Bewegungen Mexikos stattfand. Nach dem Ende der Versammlung wurde das Lager von Militärs zerstört, aber die Zapatistas zeigen trotzige Haltung, indem nun alle neu errichteten Lager den Namen Aguascalientes tragen. Nicht wahr ist jedenfalls, daß, wie die „Berliner Zeitung“ schrieb, Aguascalientes 2 extra für unseren Kongreß errichtet wurde. Vor uns fand dort zumindestens ein Indigenes-Kongreß statt. Aber das Lager ist eine mit einfachsten Mitteln errichtete handwerkliche und ingenieurtechnische Meisterleistung. Entlang einer am Hang gelegenen Lagerstraße sind eine Reihe von Holzbaracken errichtet. Die Wohn­baracken, teilweise bis auf den letzten Zentimeter mit dreistöckigen Betten aus Brettern und Pfählen gefüllt (alles mit Hand gehobelt), fassen jeweils vielleicht 100 bis 150 Personen. Daneben gibt es die unterschiedlichsten Funktionsgebäude, das größte ein mit einem Doppeldach versehener riesiger Versammlungssaal, der auch während der sintflutartigen Regengüsse der gerade stattfindenden Regenzeit, immer trocken blieb (das Audi­torio Emiliano Zapata). Überhaupt war das Problem der Wasserableitung in Aguasca­lientes 2 in einmalig genialer Weise gelöst – wie wir dann zu unserem Leidwesen an einer weniger perfekten Lösung in La Realidad erfahren sollten, wo wir buchstäblich im Schlamm versanken. Die Küche war unter einer Reihe von flachen offenen Dächern eingerichtet. Auf offenem Feuer wurden dort von Indiofrauen einer Communidad in großen Bottichen Mahlzeiten zubereitet, die für die Verhältnisse eines Hungergebietes äußerst luxuriös waren, meist auch wirklich ausgezeichnet schmeck­ten, wenn nicht gerade uns zuliebe irgendwelches schreckliches europäisches Fertigmüsli serviert wurde. Offenbar infolge von Nachfragen von Kongreßmitgliedern wurde im Laufe der Zeit wenigstens die Essensausteilung von immer mehr Männern und Jungen besorgt, alle mit einem Atemschutz und teilweise mit Plastikhandschuhen ausgerüstet, peinlich aber notwendig, um zu verhindern, daß die aggressiven tropischen Krankheitserreger auf die nicht immunisierten Kongreßteilnehmer übergreifen. Übrigens muß ich zugeben, daß ich mich meistens nicht in die kilometerlange Warteschlange einreihte, die zu Essenszeiten vor der Küche entstand, obwohl ich auf den hohen kommunikativen Wert solcher Veranstaltungen hingewiesen wurde. Ich konnte nur hilflos antworten, daß ich aus jahrzehntelangen Erfahrungen in einer Mangelgesellschaft den kommunikativen Wert einer „sozialistischen Wartegemeinschaft“ genügend lange erfahren habe und jetzt doch lieber das Mittagessen am Stand nebenan kaufe.

Für die Verhältnisse der mexikanischen Provinz äußerst luxuriös war auch der sanitäre Bereich. Es gab fließendes Wasser, Duschen und sogar Waschbretter. Die Toiletten waren ansich wie europäische Sitztoiletten nutzbar. Weil die Indios relativ kurze Beine haben und daher alle Sitze sehr viel niedriger sind als unsere, war unter den Kongreßteilnehmern leider keine Einigung möglich, ob man auf den Toiletten sitzt oder hockt – mit Folgerungen, die ich gern der Phantasie der Leser überlasse. Unter der Gewalt der Regengüsse und dem Andrang von über 3000 Leuten verwandelte sich überdies die Zone um den Sanitärbereich bald in einen tiefen Schlammpfuhl, sodaß man dorthin nur mit Zögern und dringenden inneren Notwendigkeiten gehorchend ging.

Nicht so tief, aber doch ausreichend war nach jedem nächtlichen Regenguß auch das gesamte Gelände außer der Lagerstraße von einem Schlammfilm bedeckt, über den man schmatzernd und gleitend zum jeweilig gewünschten Ziel bewegen mußte. Im Unterschied zu unserem späteren Aufenthalt in La Realidad war es wenigstens in den Baracken und Versamm­lungs­räumen so weit trocken, daß man für eine Weile die leidigen Stiefel ausziehen konnte. Besonders größes Pech hatte dagegen die Arbeitsgruppe, die dann in das Aguascalientes nach La Garu­cha ziehen mußte, wo es kalt war und tatsächlich ununterbrochen regnete, sodaß man dem Schlamm und der Nässe ehestens in den Betten entrinnen konnte. Aber auch in Oventik verwandelte sich an manchen Tagen ein Blatt Papier, das man zu Notizen verwenden wollte, nur allzuschnell in eine Art feuchten Lappen. Erstaunlicherweise gab es trotzdem nicht allzuviel Erkältungskrankheiten unter den Kongreßteilnehmern. Auch meine Nasennebenhöhlen, die sonst auf jeden Wetterumschwung reagieren, schwiegen sich in der feuchten aber klaren tropischen Luft hartnäckig aus.

In allen Aguascalientes gibt es elektrischen Strom, in Oventik aus der Stromleitung, in La Realidad aus dem Generator. Wirklich verblüfft war ich, als ich in der Baracke des Organisationsbüros drei Dos-Rechner sah, dazu drei Lap­tops (siehe Rückseite). Mitten im Schlamm der mexikanischen Provinz Chiapas schrieb man dort mit Word 2.0 seine Texte und druckte sie auf einem Nadeldrucker aus. Nur Disketten waren wegen der höhen Luftfeuchtigkeit nicht benutzbar.

Überhaupt schienen mir die Aguascalientes neben ihrer Funktion als Konferenzzentren auch Vorzeigeobjekte der EZLN zu sein, um den Indios zu demonstrieren, welche Art von Gesellschaft bei gemeinsamer Arbeit und gemeinsamen Leben künftig möglich sein könnte. Während der ganzen Zeit, in der wir in Oventik tagten, kamen immer neue Ströme von Indios aus den umliegenden Dörfern, ließen sich abends auf den Rängen um den Festplatz nieder und hörten schweigend den drögen Rythmen der Dorfband und den pathetischen Worten der Redner zu. Auch abgesehen von der Sprachbarriere (denn selbst spanisch sprechen die wenigsten) war zu zu den Indios eigentlich kein Kontakt möglich. Ihre Äußerungen beschränkten sich auf diszipliniertes Klatschen, Vivat-Rufe und ansonsten schweigende Anwesenheit. Ebenso geschlossen wie sie gekommen waren, marschierten sie wieder ab, oft mitten im Regen und vor sich einen viele Kilometer langen Fußmarsch. Nur die Kinder reagierten etwas weniger ritualisiert. Besonders mein Bart – unter den bartlosen Indios ein exotisches Exponat – hatte es ihnen angetan und wurde belacht und gestreichelt. Anfragen von Kongreßteilnehmern, warum sich die Indios nicht an den Arbeitsgruppen beteiligten, wurden von EZLN-Leuten so beantwortet: Abgesehen von der Sprachbarriere hätten die Indios eine völlig andere Mentalität. Sie würden nicht, wie die Europäer, mit allem, was sie gerade denken herausplatzen. Rede und Diskussion wäre bei ihnen Ergebnis langen Nachdenkens. An den Arbeitsgruppen würden sich Delegierte beteiligen, die täglich in den Dörfern Bericht erstatteten. Was tagsüber auf dem Kongreß diskutiert werde, werde in den nächsten Tagen in den Dörfern weiter diskutiert. In der Tat nahmen an der Untergruppe, in der ich war, auch zwei EZLN-Commandantes teil, die sich meist schweigend verhielten und erst zum Schluß für wichtige und aufschlußreiche Informationen dankten. Sie, sagte beispielsweise einer, wären einfache Leute und wüßten wenig über die Welt. Sie wären dankbar, daß sie hier soviel erfahren könnten. Einmal intervenierte ein EZLN-Mann etwa mit den gleichen Worten zugunsten der Gruppe gegen den völlig unfähigen Gesprächsleiter, über den noch weiter unten zu reden wäre.

Im übrigen aber war der Kontakt auch zu den EZLN-Leuten praktisch Null. Alle Zäune des Lagers wurden von schweigenden jungen Männern bewacht, mit schwarzen Masken oder Sympathisantentuch vermummt und einen Holzknüppel an der Seite. Wie aus anmarschierenden und abmarschierenden Trupps und hin- und herlaufenden Boten zu ersehen war, herrschte lebhafte militärische Aktivität. Die EZLN, hieß es es, schütze die Lager vor den Regierungstruppen. Ich nahm stillschweigend an, daß ebenso die umliegenden Maisfelder vor den Tram­peleien von über 3000 Menschen geschützt wurden, die die Felder wahrscheinlich allzugern den Unzuträglichkeiten der örtlichen sanitären Anlagen vorgezogen hätten. Während das Lager in Oventik nur einmal von einem Aufklärungsfugzeug überflogen wurde, war die Lage in La Garucha, wie mir Roman Kalex erzählte, ziemlich ernst. Täglich fuhren dort Regierungstruppen mit drohend vorgehaltenem Gewehr am Lager vorbei und auch ständig anwesende Flugzeuge schufen eine permanente Bedrohungsstimmung. Für Roman war es erleichternd, als der Commandante des Aguascalientes in La Garucha, Hernan, gestand, daß auch er vor den Flugzeugen Angst habe. In Oventik dagegen war die Gefahr eine rein theoretische und es war schon ein wenig schwierig, nachts an den schweigend nach draußen gewandten EZLN-Leuten vorbeizugehen. Ich gewöhnte mir dann immerhin ein „Holla!“ an, auf das sie nicht reagierten (oder nicht reagieren durften), aber wenigstens mich von der Qual erlöste, sie als eine Art lebender Dienstleistungsautomaten zu betrachten.

Aber wir sind nach dieser Beschreibung des Lagers immer noch am Ende des ersten Tages und wenn ich diesen Bericht noch in diesem Leben zu Ende bringen will, werde ich zumindestens etwas über die gemeinsame Eröffnung des Kongresses sagen müssen, bevor ich über Inhalte und Arbeitsgruppen reden kann. Eindrucksvoll war eine Inszenierung, die damit begann, daß die Anwesenden wiederholt zu Schweigen aufgefordert wurden und Licht nach Licht erlosch. Schließlich war es auf dem Festplatz stockfinster und mehr als 6000 Menschen, Indios und Kongreßteilnehmer aus aller Welt schwiegen gemeinsam. Nach 10 Minuten dieser nach dem lärmerfüllten Nachmittag wohltuenden Stille näherte sich von oben über die Lagerstraße eine Kapelle, von einer großen Masse von Indios. Die Bühne, auf jetzt die ersten Lichter angingen füllte sich mit Indios, aber auch einer Reihe von Männern mit vorgehaltenem Gewehr. Das, hieß es, sind die Leute, auf die es wirklich ankommt, die einfachen Menschen, die Basis der EZLN, die Leute, die dieses Lager gebaut haben. Ich muß allerdings gestehen, daß sich zuvor angesichts der Bewaffneten für mich der unheimliche Eindruck der Szene für einen Moment verstärkte und ich dachte: „Sie haben uns doch um Gottes Willen nicht eingeladen, um sich jetzt für die Verbrechen unserer Vorfahren an uns zu rächen?“ Ohnhehin kann ich als alter Anitmilitarist nun mal Waffen nicht ausstehen und erst in den folgenden Tagen begriff ich aus der ganzen Art, wie diese Waffen zu demonstrativen Zwecken benutzt wurden, daß es hier nur um Symbolik geht. Ohnehin ist mit dieser geringen Anzahl veralteter Flinten keine militärische Aktion zu machen. Ein Com­man­dante trug eine sichtlich nicht mehr funktionsfähige Maschinenpistole, die zum Ausgleich eindrucksvoll verchromt war. Roman erzählte mir, daß er in La Garucha einen Film über die Frühjahroffensive des mexikanischen Militärs gegen die Aufständischen im vorigen Jahr gesehen habe. Die EZLN-Leute waren während der ganzen Zeit am Davonlaufen. Sie drehten sich nur um, nicht um zu schießen, sondern um dem Feind zersetzende Parolen zuzurufen. Wenn das ein Propagandafilm war, so hat er jedenfalls ein für Lateinamerika ziemlich unübliches Thema.

Dann verlas, soweit ich mich erinnere, die Comman­dante Anna-Maria die Begrüßungsansprache der EZLN-Führung. Leider liegt mir weder der Text vor, noch war ich zu der Zeit in der Nähe eines Übersetzers. Mein Handikap während des ganzen Kongresses war eben, daß ich kein Spanisch kann und alle Veranstaltungen geradezu demonstrativ spanisch durchgeführt wurden. Oft blieb beim Furioso der Redenden nicht einmal eine Übersetzungspause.

Vier Tage in Arbeitsgruppen

Am nächsten Tag reisten die Arbeitsgruppen in die unterschiedlichen Orte, die ihnen zugewiesen waren, zum Teil hunderte Kilometer voneinder entfernt und in den unterschiedlichsten Klimazonen. Wir von der Arbeitsgruppe Zivilgesellschaft sollten ursprünglich an einen ebenso kalten wie feuchten Ort reisen, durften dann aber glücklicherweise in Aguscalientes 2 bleiben. Die Arbeitsgruppe 1, die sich mit Politik beschäftigen sollte, wurde auf dem Weg nach Realidad von der Ausländerpolizei angehalten und ihre Pässe wurden mit einem Stempel versehen, demzufolge Ausländer sich in Mexiko politisch nicht betätigen durften. Daß, wie wir in den nächsten Tagen aus den Zeitungen erfuhren, an dieser Gruppe Prominente wie Danielle Mitterrand, Witwe des französischen Ex-Präsidenten, der französische Soziologe Alain Touraine und der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano beteiligt war und auch Subcommandante Marcos die Gruppe mit Pressestatements begeleitete, warf für uns einfache Teilnehmer, besonders aber für die französischen Linken den Verdacht auf, wir sollten über unsere Zahl nur der Verstärker für die mit VIPs bestückte Gruppe 1 sein.

Bei uns wenigstens, in Aguascalientes 2, lief die Gruppenorganisation merkwürdig genug. Der Verbund linker Parteien und Gruppen aus Mexiko-City, der das Präsidium leitete, hatte von Diskussionsleitung nur ungefähre Vorstellungen, dafür von der Aufteilung der Gruppen umso konkretere. Besonderen Zorn der Teilnehmer rief hervor, daß nach einer chaotischen Diskussion schließlich Frauen und andere Minderheiten schließlich in einer gemeinsamen Untergruppe landeten. Die Untergruppe, für die ich mich schließlich entschied, war so groß, daß sie eigentlich in weitere Unterthemen hätte geteilt werden müssen. Allein weil der Diskussionsleiter mit nashornartiger Physignomie darauf bestand, ab und zu noch von seinem Instruktor aus dem Hintergrund unterbrochen, setzte die Mehrheit schließlich durch, daß das Thema in vier parallelen Gruppen behandelt wurde. Leider bekamen wir in der Unter-Unter-Gruppe, zu der ich dann stieß, genau dieses Nashorn vor die Nase gesetzt. Er setzte erst einmal durch, daß jeder der Redner für vorbereitete, bestimmt halbstündige Redetexte, nur 5 Minuten zur Verfügung hatte, für Diskussion praktisch keine Zeit blieb und auch Übersetzungspausen nicht gemacht wurden. Das führte dazu, daß Beitrag nach Beitrag in rasender Geschwindigkeit vorgetragen wurde und die Übersetzer einfach nicht nachkamen. Erst am zweiten Tag gelang es den Teilnehmern dem schwerblütigen Mann klarzumachen, daß er völlig unfähig sei und am Besten das Maul halten solle. Er war immerhin klug genug, das zu begreifen und sich mit der feierlichen Rolle des Präsidiums hinter einem Tischchen zu begnügen, aber es war zu spät. Auch die Gutwilligsten hatten die Grenze ihrer Kapazität erreicht und blieben am dritten Tag weg, um das nachzuholen, was bisher nicht möglich war: Kommunikation und Vernetzung. Die tatsächlichen oder angeblichen Ergebnisse der Arbeitsgruppe wurden von einem kleinen Club unter der Führung des Nashorns zusammengefaßt.

Auch im Vorfeld, bei der Akkreditierung, hatte es schon eine Reihe von Problemen mit den Mexiko-City-Parteien gegeben, zum Beispiel mit der denkwürdig formalen Art der Akkreditierung, schlimmer noch mit den 100 Dollar, die pro Person gezahlt werden mußten. Zunächst hatte es gehießen, daß Mangel an Geld kein Grund sein dürfe, um nicht am Kongreß teilzunehmen. Aber das Vorberitungskomitee bestand dann in einer Weise auf die formale Erfüllung der Forderung, daß beispielsweise aus Lateinamerika viele, für die dieser Betrag ein Monatsgehalt oder mehr repräsentiert nicht teilnehmen konnten (ganz zu schweigen von den Osteuropäern, von denen kein einziger anwesend sein konnte). Ein beredtes Beispiel war für mich auch Susanne aus Bremen, die, finanziell wahrhaftig nicht weich gebettet, für ihre beiden Kinder je 100 Dollar zahlen sollte. Als schließlich nach langen Verhandlungen nur einmal hundert Dollar nötig waren, bekamen beide Kinder nur einen Essensbon und eine Busfahrkarte. „Uns wurde gesagt“, teilte mir Susanne mit, „ein Kind müßte selbst verpflegt werden und während der Fahrt auf den Schoß genommen werden. Ich komme damit nur zurecht, weil ich die Mexiko-City-Organisatoren von den Zapatistas trenne. Es ist ein Widerspruch, wenn es dann heißt, daß eine Welt für alle geschaffen werden müsse und auch die Kinder hereingenommen werden sollen.“ Dabei wäre es für die meisten Westeuropäer, für die die Fahrkosten sehr viel schwerer zu erschwingen waren, als der Kongreßbeitrag, kein Problem gewesen, beispielsweise 50 Dollar mehr zu bezahlen, die Ärmeren die Teilnahme ermöglicht hätten

Trotz der angeführten Einschränkungen waren die Arbeitsgruppen natürlich nicht uninteressant. Aus der Vielzahl der Themen, die in meiner Untergruppe behandelt wurde, will ich nur die Folgenden. thematisch gegliedert, aufführen:

Die auffallendsten Parallelen in den verschiedensten Ländern gab es beim Erziehungssystem. Eine mexikanische Studentin sprach beispielsweise über die Mittelkürzungen und Erhöhung von Studiengebühren an den mexikanischen Universitäten, eine in einer NGO organisierte Lehrerin über die gleiche Entwicklung bei öffentlichen Schulen. Das Examen, das die Zulassung zur Universität ermöglicht, wird durch eine private Organisation mit entrechenden Eintrittspreisen und hohen Durchfallraten besorgt. Demgegenüber werden Privatschulen und Eliteuniversitäten gefördert. Der Generalsekretär einer mexikanischen Einzelgewerkschaft sprach angesichts der Verschlechterung des öffentlichen Schulsystems von der Notwendigkeit von unabhängigen Schulen. Ein Franzose stellte ein Projekt von Betreuung von Vorortkindern durch Intellektuelle vor. Eine Griechin sprach über die Selbstorganisation einer Schule in Chiapas. Eine andere Schule in Mexiko sei dagegen gerade zerschlagen worden. Eine Spanierin, Lehrerin an einer selbstverwalteten Schule in Nursia, stellte ihre Schule vor. Sie ist selbstfinanziert. Die Kinder machen teilweise den Unterricht, sodaß die Lehrer von ihnen lernen können. Gerade die sozialdemokratische Regierung in Spanien, meinte die Lehrerin, versuchte viele unabhängige Schulen kaputt zu machen

Eine Französin sprach zu den Massenstreiks in Frankreich: Im wesentlichen hätten sie nichts gebracht, aber erstmals habe es Versammlungen verschiedener Berufe gegeben. Ein Holländer meinte, der französische Generastreik sei ein wichtiger Moment für Europa gewesen, leider aber ohne Folgen geblieben. Allerdings entstand während des Streiks eine neue radikale Organisation. Ein Franzose wandte ein, Leute, die streiken können, seien als Arbeitsplatzbesitzer privilegiert. Der mexikanischer Gewerkschaftler meinte, der französische Generalstreik sei wichtig auch für Mexiko gewesen. Die Verhältnisse im industrialisierten Norden Mexikos beschrieb er mit Lohnkürzungen, Arbeitslosigkeit, Rationalisierung, Privatisierung und der Abdrängung im größerer Teile der Bevölkerung in den informellen Bereich der Wirtschaft. Die Organisation unabhängige Gewerkschaften sei sehr schwierig. Frauen hätten überhaupt kaum Zeit. Die offizieller Gewerkschaften übten auf Vertreter unabhängiger Gewerkschaften wirksamen Druck aus. Er schug eine gesellschaftliche Beratung über wirtschaftliche Alternativen vor. Eine solche habe selbst in den offiziellen Gewerkschaften schon begonnen.

Von verschiedenen Lateinamerikanern wurde die besondere Verelendung breiter Massen in Lateinamerika beschrieben. Dazu komme noch als weiteres Element der Entsolidarisierung und Atomisierung Rassismus und Dro­gen­handel. Commandante Celia von der EZLN sprach zur Situation der Indiofrauen: Sie würden dreifach unterdrückt, als Frau, als Indigena und als Klasse. Als Indiofrau sei es in Mexiko unmöglich, an der Gesellschaft teilzunehmen. Vom Staat her gebe es praktisch keine Rechte. Aber, meinte sie, die Frauen seien doch aufgestanden. Die Frauen in EZLN treffen sich in besonderen Foren und haben ihre eigene Organisation, die XI-nick (Ameise).

Ein spanischer Dorfbe­setzer sprach über den Austritt aus der Industriegesell­schaft und die Subsistenz­wirtschaft. Auch ein brasilianischer Linker verwies ge­­gen­­über einer zerstrittenen und teilweise bestochenen Linken auf die Landbesetzungen von Bauern und die Versuche zum Aufbau einer Alternativökonomie durch die Basisgemeinden. Commandante Xavier von der EZLN berichtete, daß auch in Chiapas die besten Böden den Großgrundbesitzern gehörten. Die Bauern seien abhängig oder Tagelöhner. Deshalb seien sie in die Berge gezogen, und versuchten hier von der Subsi­stenzwirtschaft zu leben. Ein französischer Pyrenäenbauer stellte die dortigen Versuche der Bauern zur Selbstorgani­sation und alternativer Wirtschaft vor. Das sei besonders schwierig, weil ein Großteil der Böden den Großagrariern gehöre, die darauf mit industriellen Methoden konkurrenzlos billig produzierten und die Städte belieferten. Die kleine Landwirtschaft sei nur noch über staatliche Subventionen konkurrenzfähig. In diesem Zusammenhang verwies er auf eine interessante internationale Bauernorganisation, die versucht, die Probleme der Bauern in der 1. und 3. Welt solidarisch zu diskutieren (Organ, auch in deutsch: „Bauernstimme/Für eine bäuerliche Landwirtschaft“).

Weil die Zusammenarbeit so schwierig war, hatte sich zweiten Tag aus unserer Arbeitsgruppe ein neuer Kreis ausgegliedert, der zum Thema „gemeinschaftlich leben“ diskutierte. Beteiligt waren die spanischen Dorfbesetzer, die französischen Pyrenäenbau­ern, deutsche Hausbesetzer und Bewohner von Wagenburgen. Christian aus Bremen schilderte mir die Gruppe als „Reden auf einer sehr viel angenehmeren Ebene. Schade war, daß bis auf zwei Leute aus den USA nur Europäer teilnahmen, sodaß es letztenendlich nur die Probleme der Metropolenb waren, über die wir dort redeten.“ Das sah allerdings Mark von der Action Zapatistas aus Austin, Texas anders. Es sei auch um Gruppen in Lateinamerika gegangen, die sich um die Ernährung von Armen kümmerten oder Information verbreiteten. Andi aus Berlin erzählte mir, daß zumindestens eine konkrete Vermittlung möglich war. Ein Commandante der Zapati­stas berichtete über die Indiogemeinschaften, die, der halben Leibeigenschaft der in den Latifundien entflohen, auf den kargen Gebirgsböden Mais und schwarze Bohnen anzupflanzen versuchten. Mit ähnlichen Problemen in Nikaragua hatte sich bereits ein Uniprojekt beschäftigt und sinnvolle Pflanzmethoden und Fruchtfolgen entwickelt.

Daß die Frauen mit ihrer Zuweisung an eine Gruppe, die neben ihren Themen Homosexualiät, Gesundheit, Drogen, Aids, Kinder und sonstige Minderheitenprobleme behandelte, unzufrieden war, wurde bereits erwähnt. Aber immerhin scheint es in dieser Gruppe am ehesten gelungen zu sein, die formalen Ansprüche der Mexiko-City-Leute schnell beiseite zur rücken. Es entspann sich eine interessante Diskussion, die für Christine aus Berlin eine neue Erfahrung war, weil es in einer gemischten Gruppe plötzlich keine Probleme mit Männerdominanz gab. Besonders wichtig war für sie die Begegnung mit zapatistischen Frauen: „Es war eine wichtige Erfahrung mit dieser Realität konfrontiert zu werden, zu sehen, daß das größte Problem dieser Menschen die Armut und der alltägliche Überlebens­kampf ist. Frauengesetz ein wichtiger Schritt. Die zapati­stischen Frauen erzählten, sie hätten vorher gelebt wie die Tiere, sie wären nicht einmal gesundheitlich versorgt worden. Jetzt treten sie in die Öffentlichkeit und stellen Forderungen. Das ist ein Riesenschritt, der aber natürlich entfernt ist von irgendwelchen utopischen Ideen. Es waren für mich keine eigentlich neuen Informationen, aber das direkt zu hören und zu begreifen, war ein wichtiger Punkt.“ Andererseits, meint Christine, sei bei der Fülle der Themen kein Raum und keine Zeit gewesen, das Thema Feminismus inhaltlich zu füllen. Am 2. Tag bildete sich aus diesem Grunde eine feministische Arbeitsgruppe, um Beiträge für eine Abendveranstaltung und für das Schlußplenum zusammenzustellen. Leider, meinte eine andere Feministin, sei diese Abendveranstaltung auch in die Hose gegangen, weil nur ellenlange Redebeiträge verlesen wurden. Und der Redebeitrag der Frauen zur Abschlußveranstaltung in Agu­scaliente 2 wurde eigenmächtig gekürzt, sodaß viele wich­tige Punkte fehlten. Christine fühlte sich trotzdem als Feministin ernst genommen. „Seit Jahren ist die feministischen Bewegung, in den traditionellen linken Bewegungen immer belächelt. Diesmal hatte ich das das Gefühl, daß wir in dieser neuen Bewegung wirklich einen Platz zu haben, daß es historisch eine ganz neue Chance gegenüber diesen alten ML-Doktrinen gibt, die nur neue Herrschaftsverhältnisse schaffen wollen. Eindrucksvoll fand sie, daß der Commandante in Aguasca­lientes 2 zum Abschluß noch einmal Schwulen und Lesben für ihr Kommen dankte. Und das, obwohl bekannt ist, daß auch in Chiapas Schwule und Lesben nicht offen leben können. Christine betont: „Mich würde es freuen, wenn diese politische Strömung hier soviel Gewicht im weltweiten Kampf gewinnen würde, daß die alten ML-Theorien keine Chance mehr haben. Es ist wichtig zu wissen, daß es eine Bewegung gibt, mit der ich mich positiv identifizieren kann. Das ist etwas total wichtiges. Trotzdem ist es wichtig zu bedenken, daß es hier die Widersprüche auch gibt, die ganzen Fragen nicht gelöst sind, daß dies auch eine patriarchale Gesellschaft durch und durch ist. Es hilft niemand, die Widersprüche wegzubügeln.“

Für mich persönlich war es ein wichtiges Erlebnis, erstmals mit Leuten aus diesen sogenannten Frauen-Lesben-Zusammenhängen produktive Gespräche führen zu können, die nicht auf unlösbare Konfrontationen hinausliefen. Ich werde mich wohl auf ihre Ideen doch etwas näher einlassen müssen als bisher, nicht zuletzt, weil sie ohne Zweifel der wichtigste und verläßlichste Bündnispartner gegen die autoritären linken Doktrinäre sind. Auch die fehlten natürlich beim Interkontinentalen Kongreß nicht und hatten diese wonnige ungebrochene Art die Internationale zu singen, die ich persönlich nur noch mit Gruseln wahrnehmen kann.

Es war also, wie vielleicht schon aus dem Vorangegangenen deutlich geworden sein wird, nicht nur die formalistische und dumme Diskussionsführung der Mexiko-Cty-Gruppen, die die Situation in unsere Arbeitsgruppen so schwierig machte. Aus aller Welt waren Delegierte mit Beiträgen angereist, die in ihren Gruppen zum Teil über Monate vorbereitet waren und jetzt die Kongreßteilnehmer mit immer neuen Informationen, Gesichtspunkten und Standpunkten überschütteten. Alle wollten und sollten zu Worte kommen, aber das war einfach zuviel für das Aufnahmevermögen der Teilnehmer. „Ich fühle mich wie bei Vorlesungen in der Uni und wie beim Anstellen in der Mensa“, drückte Christine das Empfinden vieler Leute aus. Am 3. Tag gab es gähnend leere Arbeitsgruppen, dafür aber überall auf dem Gelände schwatzende und diskutierende Teilnehmer aus aller Herren Länder. Es war plötzlich möglich deutsch zu sprechen, natürlich englisch und sogar mit meinem Schul­russisch habe ich mich mit einer Mexikanerin geradebrecht.

Mehr Glück mit den Umständen und auch ihrem Verhältnis zu den Zapatistas hatte die Arbeitsgruppe Kultur, die in Morelia stattfand. Die Indios teilten dort zu Anfang mit, daß zum Zeichen des Vertrauens gegenüber den Kongreßteilnehmern niemand Masken tragen werde. Man war nicht im Lager eingesperrt. Im Gegenteil: diejenigen, die nicht in den getrennten Männer- und Frauenhäusern schlafen wollten, sondern zusammen mit ihren Partnern, bekamen Privatquartiere im Ort. Auch sonst ergab sich aus den ständig stattfindenden Konzerten, Tanzveranstaltungen, Theateraufführungen sehr viel mehr Möglichkeit von emotionalem Austausch, Verständ­nismöglichkeit und schließlich auch Kommunikation. Das führte dann offenbar zu einer Reihe von konkreten Projekten, zum Beispiel dem Plan zum Aufbau einer freien Schule in Chiapas, die von Teilnehmern nicht nur aus Lateinamerika personell gefüllt werden soll.

In La Garucha, wo es um Autonomie und Solidarität von Völkern ging, zeigte sich bei zum Teil geeigneteren Diskussionsleitern wieder die Schwierigkeit, so viele Beiträge aus unterschiedlichen Ländern zu verarbeiten. Obwohl nur 100 Leute in La Garucha waren, blieb kaum Zeit zu Diskussionen. Erst am 3. Tag wurde es, meint Roman Kalex, lebendiger. Es gab eine Reihe von praktischen Vorschlägen, durchführbare und undurchführbare, angefangen von einem internationalen Tag gegen den Neoliberalismus bis zu einem Coca-Cola-Bykott. Schwierig zeigte sich die Verständigung zwischen Internationalisten und nationalen Befreiungsbewegungen über den Nationenbegriff. Schließlich einigte man sich auf eine Trennung zwischen rassistisch bestimmtem Nationalismus auf der einen und einem Nationenbegriff im Sinne der Autonomie der Regionen auf der anderen Seite. Wichtig war besonders für die Lateinamerikaner der Begriff der Würde. Die Herstellung der Autonomie sei die Vorraussetzung für gleichberechtigtes Miteinander und Solidarität. Ein konkretes Ergebnis der Arbeitsgruppe war die Forderung, für das nächste Treffen einen Ort zu wählen, auch für arme Völker des Trikonts einen Zugang ermöglicht, bzw. entsprechende Spenden- und Umverteilings­maßnahmen für das nächste Jahr in Angriff zu nehmen. Die bisherigen Mexiko- oder Zapa­ta-Solidaritätsgruppen, war ein weiterer Vorschlag, sollten sich in Aktionsgruppen gegen den Neoliberalismus und für Mensch­lichkeit umprofilieren. Wichtig sei der Kampf jeweils vor Ort und weltweit gemeinsam.

Über die ersten beiden Arbeitsgruppen, Wirtschaft und Politik, kann ich wenig sagen, weil ich niemand getroffen habe, der dort beteiligt war. Und bis heute war von den Ablußpapieren nichts zu erhalten.

La Realidad – das Sonnenbad

Der fünfte Tag schließlich war der Reisetag und nach den üblichen rührenden Vivat-Rufen und Klatschen aus den Reihen der abschiednehmen­den Indios (und wieder wurde meine Tasche getragen, vielleicht sah ich ja mitleidserregend aus)… Nach längerem Warten also ging es schließlich statt um 6 Uhr etwa um 8 Uhr los in Richtung La Reali­dad. Hinter Las Margaritas verließ die lange Buskolonne die Teerstraße und schlug die aus festgewalztem Kies bestehende Militärstraße ein, die offenbar eigens zu dem Zweck permanent in besten Zustand gehalten wird, um der Regierung die Kontrolle über die Urwaldgebiete zu ermöglichen. Nach Verhandlungen der EZLN und einer Menschen­rechtsorganisation aus San Cristobal bekamen wir am Kontrollpunkt der Migrationspolizei unsere Pässe ungestempelt zurück und über Serpentinen durch tausende Meter tiefe Täle ging es immer tiefer in den lakandonischen Urwald. Gegen 23 Uhr hielten die Busse im kleinen Dörfchen Tepeyac. Hier, hieß es, kämen die großen Busse nicht weiter. Wir würden mit kleinen Bussen in das benachbarte Trinidad gebracht, wo das Lager La Realidad stände. In die feuchte Schwüle war ein wenig Kühle gekommen und die Sterne waren für einen Moment zu sehen. Direkt über uns stand ein riesiger zucker­hutartiger Berg. Das Dorf war totenstill, auffallend nach den bisherigen Orten, wo uns immer winkende Indios begrüßt hatten und bei Pausen in der Dunkelheit zumindestens Kinder gekommen waren, um uns Pasteten und Kaffee zu verkaufen. 200 Meter entfernt war ein riesiges, gespenstisch grell erleuchtetes Krankenhaus, das die Aufschrift der mexikanischen Wohlfahrtsorgani­sation „Solidaridad“ trug. Bisher hatten wir zwar in fast jedem Dorf und jeder Stadt die „Solidaridad“-Einrichtungen gesehen, aber nur irgendwelche Hütten, die als Krankenhäuser oder Schulen dienen sollten und zudem, wie man hörte, meist ohne Personal oder Gehalt oder sonstwie unvollständig geliefert wurden. Ganz offensichtlich, meinten wir, handelt es sich hier um ein besonderes Renommierobjekt und benutzten immerhin gern die erste europäische Toilette seit langer Zeit und schliefen auf Stühlen und Bänken der geräumigen Vorhalle.

Das Rätsel löste sich für uns erst in La Realidad. In Tepeyac, hieß es, hätte früher das Lager La Realidad gestanden. Dann sei das Dorf vom Militär eingenommen worden und die Bewohner seien weggezogen. Das riesige Krankenhaus diene hauptsächlich als Puff für die Soldaten. Im Dorf wohnten nur noch einige dort angestellte Huren. Die Indios boykottieren das mit Medikamenten und Operationseinrich­tungen wohlversehene Krankenhaus und wenden sich stattdessen an ein völlig überfülltes katholisches in der Nähe, in dessen Krankensälen die Bilder der zapatistischen Commandantes hängen

Nach einer Nacht, in der wir weitgehend schutzlos den singenden Moskito-Mücken ausgesetzt waren, trafen wir am frühen Morgen in Trinidad ein, ein, gemessen an den wenigen elenden Hütten, die wir von Oventik gesehen hatten, wesentlich wohlhabenderes Dorf in einem flachen Talkessel zwischen hohen Bergen, ringsum von grünen Maisfeldern umgeben. Das Lager La Realidad empfing uns gleich am Anfang mit einem Schlam­pfuhl und außer einer kleinen Gruppe, die zu unserer Begrüßung erschienen war, nahm niemand von unserer Ankunft Notiz. Das war eher eine Erleichterung, denn einige von uns hatten bereits geunkt, daß nun erst richtig der zeremonielle Teil des Kongresses beginne und wir nach Realidad gekarrt würden, um den Reden der großen Führer und französischer und südamerikanischer VIPs* zu lauschen. Allerdings ein zu frühes Aufatmen.

La Realidad war wie Aguascalientes mit Brettern und Stacheldraht eingezäunt. Statt der Baracken gab es rings um den Festplatz ein- bis zweistöckige überdachte Gerüste, die einerseits als Zuschauerränge dienten, andererseits für das Aufhängen der in Lateinamerika üblichen Schlafmatten. Da wir Deutschen aus der Arbeitsgruppe 4 als fast letzte Gruppe eintrafen, hatten wir ziemliche Mühe noch ein freies Plätzchen zu finden. Alle Wege waren nach dem Regen der letzten Nacht mit wadenhohem Schlamm bedeckt, der im Laufe des Tages unter der brennenden Sonne zunächst nur immer zähflüssiger wurde. Der Schlamm klebte an den Stiefeln, auf dem Boden unter unseren Schlafmatten und auch auf den Bänken. Er bedeckte bald unsere Kleidung und drang in die Taschen und Rucksäcke ein. Wie in Aguascalientes gab es immerhin Toiletten und Duschen, aus denen hier von der brütenden Sonne aufgeheiztes Wasser drang. Ein anderes Problem hatte es hier in La Realidad mit der Küche gegeben. Wie man uns berichtete, konnte die Gruppe erst nach längerer Zeit durchsetzen, daß die Indios das gleiche Essen bekamen wie die Kongreßteilnehmer.

Dann, etwa gegen 14 Uhr begann das Sonnenbad. Von der überdachten Tribüne hinter dem großen, mit Stühlen bedeckten Platz, wurde zum Plenum aufgerufen. In der brennenden Hitze fiel jede Bewegung schwer. Nicht einmal Schlafen war möglich. Ich wälzte mich aus meiner Hängematte, quälte mich in die Stiefel und setze mich in die vordere Reihe der überdachten Zuschauerränge. EZLN-Leute gingen überall herum und forderten diejenigen, die in den Hängematten geblieben waren, auf nach vorne zu gehen. Auch offensichtlich Kranke wurden so lange genervt, bis sie sich nach vorne quälten. Die Commandantes der EZLN würden erscheinen und aus Sicherheitsgründen sei es notwendig, daß alle vorn sitzen. Mit „vorn“ war der große Platz in der stechenden Sonne gemeint und auch ich wurde bald aufgefordert, aus dem Schatten zu kommen und mich dorthin zu setzen. Mit Gesten machte ich klar, daß ich dann Sonnenbrand bekomme und krank werde und das deshalb nicht tun werde. Von der Tribüne wurde jetzt noch einmal und noch einmal erklärt, daß unbedingt alle sich alle jetzt vorne hinsetzen müsse. Erstens gebiete das die Höflichkeit und zweitens gäbe es wichtige Sicherheitsgründe. Wir wären schließlich nicht hier, um Urlaub zu machen. In den ersten Reihen des Platzes ertönte ein Schafschor von stets Beflissenen: „Wir sind keine Urlauber, wir sind keine Urlauber!“ Schließlich ging man sogar unter der schattigen Tribüne soweit, die gewohnte Einsprachigkeit des Kongresses aufzuheben und in englisch, französisch und schließlich sogar deutsch dazu aufzufordern, nach vorne zu kommen. Als mich der dritte oder vierte EZLN-Mann nervte, ging ich zum Tor, um aus dem Lager zu gehen. Nein, gab man mir zu verstehen, während die Commandantes im Lager seien, dürfe ich aus Sicherheitsgründen nicht hinaus. Immerhin gelang es mir dann, über eine englisch sprechende Mexikanerin zu erklären, daß ich leicht Sonnenbrand bekomme und bei solcher direkter Einstrahlung ernsthaft krank würde. Nach einigem Hin und her wurde ich unter das Vordach an der linke Seite der Tribüne geschickt. Kurz darauf erschien ein EZLN-Mann und forderte mich auf, mich nach vorn zu setzen. Zu diesem Zeitpunkt hatte es sich aber immerhin ins Präsidium durchgesprochen, daß es einige wenige überempfindliche Europäer geben soll, die stundenlange direkte Ausstrahlung von Tropensonne nicht aushalten können. Solche Leute, hieß es endlich, sollten sich in die vorderste Reihe der Zuschauerränge, aber bittesehr nicht auf die Bänke, sondern auf Stühle setzen. Ich war ebenso erleichtert wie sauer.

Inzwischen hatten diejenigen, die sich allzuleicht unterdrücken ließen, bereits an die zwei Stunden ungeschützt in der Nachmittagssonne verharrt. Nun endlich ging das Tor des Lagers auf und unter brausendem Beifall zogen die Commandantes der EZLN ein. Sie ritten auf Pferden und trugen ihre Waffen erhoben. Subcommandande Marcos hatte statt des Gewehrs einen Spieß, an dem eine rot-schwarze Fahne flatterte. Es sah aus wie bei den Carl-May-Festspielen. „Its complete stupid!“ sagte ich zu einem Griechen, mit dem ich mich schon vorher über den gesundheitlichen und inszenatorischen Wert eines tropischen Sonnenbades ausgetauscht hatte. „Its only Hollywood!“, bestätigte er, meinte aber, man dürfe dies nicht den Indios zuschreiben. Solches Macchogehabe sei in der Tat typisch mexikanische Mentalität.

Es gab dann einige Reden der Commandantes, von deren Inhalt ich mir nichts gemerkt habe. Es ging wohl um das Hochleben der Delegierten aus aller Welt, der sozialen Revolution, der Zapatistas, des Subcommandande Marcos und gegen den Neoliberalismus. Als die Vorstellung der Ergebnisse der Arbeitsgruppen begann, kamen die ersten der unermüdlichen Sonnenanbeter zu uns in den Schatten gewankt. Natürlich gab es keine Bestätigung des Gerüchts, daß eine Reihe von Leuten in der Folge des Sonnenbades ins Krankenhaus eingeliefert werden mußten. Ich gebe diese Greuelpropaganda hier mal wieder, weil sie im Bereich des äußerst Wahrscheinlichen liegt. Viele vermuteten, daß es bei dem ganzen Theater darum ging, für die nationale und internationale Presse ein möglichst vollzähliges Bild des Kongresses zu liefern. Es gab allerdings auch das andere Gerücht, die Commandandes seien am Vortag im Urwald von Hubschraubern angegriffen wurden und hätten nur mit Mühe entkommen können. So wenigstens ließ sich eine kurze einleitende Erklärung von Subcommandante Marcos interpretieren. Bleibt dann die Frage, warum wir nicht wiederum beim Eingang ins Lagern nach den Messern durchsucht wurden, die wir beim Verlassen von Aguascalientes 2 zurückbekommen konnten und warum bei weiteren Auftritten der Commandandes am nächsten Tag keine Rede mehr von Sicherheitsmaßnahmen war.

Sehr zynisch wurde meine Stimmung schon, als ich Commandante Marcos dann später auf seinem Pferd durch die Zuschauerreihen reiten sah. Das „Bad in der Menge“, wie es gern populäre Monarchen und Politiker nehmen, führte bei den aus aller Welt angereisten Linken zu kaum anderen Ergebnissen. Marcos schüttelte sehnsüchtig gereckte Hände und sprach von oben herab einige persönliche und ermuntertende Worte zu jedem, antwortete wohl gelegentlich auch höchst gnädig auf einfache Fragen.

Vielleicht bin ich ungerecht. Es gibt natürliche Autoritäten und es gibt so etwas wie Charisma, aber was ich schon in den vorhergehenden Tagen an Heldenverehrung für Marcos und gelegentlich Com­man­dante Anna-Maria gesehen hatte (und noch sehen sollte) überschritt doch die Grenze des Zuträglichen. Das Lieblingsbild der Armen Mexikos scheint in der Tat Marcos zu sein, mal als Stofffigur, mal als heroische Skizze, mal als unerträglich süßes Ölbild zu Pferde. Ein Redakteur der berühmten mexikanischen Anar­cho-Zeitschrift „La Guillotina“ bestätigte mich und zeigte mir in seiner Zeitschrift den Abdruck eines noch heftigeren Bildes: Subcommandante Marcos als die Nationalheilige Mexikos, die Jungfrau von Gouadeloupe. Alle großen Symbolfiguren Mexikos seien, sagte er, revolutionäre, selbst die mexikanische Nationalflagge sei eine revolutionäre Flagge. Die Herrschenden versuchten diese Symbole zu mißbrauchen und zu annektieren. An uns sei es, sie zu ihrer wahren Würde kommen zu lassen. „In Mexiko haben wir“, meinte er, „eine Marxismus der Jungfrau von Gouadeloupe.“ Roman Kalex meinte, Marcos sei ein Punk und der Spieß mit der rot-schwarzen Fahne sei ein augenfälliges Zeichen dafür, daß er die Sache ironisch betrachte. Marcos trete immer wieder mal in neuen Trachten auf, neulich sei er sogar mal mit weißem Schleier auf die Bühne gekommen. Ich hielt das für möglich, ebensosehr aber, daß Marcos und seine Freunde unter dem Einfluß dieser fast göttlichen Verehrung irgendwann einmal durchdrehen.

Auf der anderen Seite – und das kann durchaus zusammengehören – ist es der EZLN auch nach wiederholten Anläufen nicht gelungen. gemäß ihrer Doktrin einen unabhängigen zivilen Arm aufzubauen. Der neueste Versuch ist die FZLN, für die überall in Dörfern und Städten geworben wird, mit welchem Erfolg unter den Bedingungen von Hunger, Krediten für die Angepaßten, weißem Terror und permanenten militärischen Übergriffen der Regierungstruppen, ist zur Zeit noch unklar.

Den letzten Anlauf zu einem systematischeren Engagement machte ich am letzten Tag in La Realidad, als wir uns gegen 9 Uhr zum Thema „Vernetzung alternativer Medien“ trafen. Nachdem wir durch eine Pressekonferenz von Marcos und der Witwe Mitterand und dann durch allerlei Privatdurchsagen durch den Lautsprecher zunächst unser eigenes Wort nicht hören konnten, lief das auch am Anfang, im sogenannten theoretischen Teil ganz gut, außer, daß vielleicht bei einigen Teilnehmern etwas irrige Vorstellungen über Grenzen und Möglichkeiten des Internets herrsch­ten, über das, den bürgerlichen Medien zufolge, zum Kongreß eingeladen wurde. Naja, es gab ja wirklich so ein Brett in spanisch, „http://planet.com.mx/~chiapas/“, aber die Delegierten kamen doch nicht wegen der Einladung irgendeines Internet-Brettes. Das Internet ermöglicht nur ganz ausgezeichnet und schnell, zwischen existierenden Gruppen und Bewegungen weltweit, Verbindungen zu schaffen und Informationen auszutauschen. Es hat aber nicht die Verbreitung von Papiermedien, weil es wegen der notwendigen Grundausgaben besonders in der 3. Welt ziemlich teuer ist und eignet sich erst recht nicht als Propa­gan­daagentur, falls man eine solche für wünschenswert hält. Genau das Letztere schienen aber einige Teilnehmer anzustreben, indem sie etwa ein „Brett der Hoffnung der Mensch­heit“ oder ähnlichen Schwulst vorschlugen. Im sogenannten praktischen Teil zeigte es sich allerdings dann schnell, daß es den Einberu­fern der Veranstaltung wohl hauptsächlich um etwas ganz anderes, die Synchronisierung eines Zapatista-Films in möglichst vielen Weltsprachen einerseits und um die Aufforderung zu Spenden für Sender im Aufstandsgebiet von Chia­pas ging. Das sind verständliche und wichtige Forderungen, aber dann hätte man die Arbeitsgruppe vielleicht doch unter ein anderes Thema stellen sollen. Vielleicht kommt es aber doch zu einer Vernetzung: immerhin haben die Mexikaner eine Adressenliste.

Irgendwann ist es wohl noch zur Verabschiedung von Abschlußresolutionen gekommen, über die ich aus eigener Erfahrung nichts berichten kann, weil ich sauer war. Auch die Texte habe ich trotz längerer Suche im Internet noch nicht gefunden. Für die allernächste Zeit ist die Veröffentlichung des Kongreßsreaders in Spanisch versprochen und wir werden dann darüber berichten, bzw. die Bestelladresse veröffentlichen. Den Berichten zufolge, die ich über eine Mailingliste der Action Zapata aus Texas bekommen habe, drückten die Teilnehmer ihre Entschlossenheit aus, ein weltweites Netzwerk gegen die liberale Politik zu errichten. In der Schlußresolution des Meetings wurde ebenfalls beschlossen 1997 in einem europäischen Land, das noch zu bestimmen ist, eine Nachfolgekonferenz abzuhalten, um die Fortsetzung des Widerstandes weiter zu entwickeln. In der Deklaration von La Realidad, wie das Schlußdokument genannt wird ist auch die Position von 300 Akademikern und sozialen Aktivisten enthalten, die in einer Arbeitsgruppe zur Ökonomie tagten Sie forderten die Regierungen der Welt auf, die Auslandsschulden neu zu verhandeln und die Ressourcen zur Bekämpfung der Armut zu nutzen, die derzeit in Militärhaushalten verschwendet werden.

Subcommandante Mar­cos sagte, das Ziel des Netzwerks sei es, den weltweiten Widerstand gegen den Neoliberalismus zu vereinen und einen Mechanismus für alternative Kommunikation zu schaffen. Das interkontinentale Netzwerk werde keine Organisationsstruktur, kein Lei­tungs­zentrum, Zentralkom­mando oder eine Hierarchie haben. meinte er und regte an, daß die Formierung bei einer internationalen Konsulation im Dezember erfolgen solle. Marcos rief die Teilnehmer auch auf, während der ersten zwei Wochen des Dezembers an dieser internationalen Konsultation teilzunehmen, in der Leute in der ganzen Welt gefragt werden, ob sie die zweite Deklaration von La Realidad unterstützen

Offenbar in der abschließenden Pressekonferenz mach­te Marcos auf die zunehmenden militärischen Aktivitäten im Süden Mexikos aufmerksam und drückte die Befürchtungen der EZLN-Führung aus, es ginge um ihre Enthauptung. Marcos bezweifelte, daß politische Aktionen allein die Forderungen der indianischen Bevölkerung durchsetzen könnten. Der kürzlich gegründete politische Arm der EZLN, die FZLN habe inzwischen in 31 von 32 Staaten von Mexiko komitees gegründet. Erst wenn die FZLN zu einer wirklichen Kraft in der Zivilgesellschaft geworden wäre, wäre es möglich, den militärischen Flügel der Zapa­tisten aufzulösen.

Nach einer Nachtfahrt im Bus und einer gründlichen Entschlammung in einem Hotelzimmer in San Christobal war ich dann wieder dabei bei der Abschlußdemonstration. Weil viele schon abgereist waren und andere zum Schutz der Aguascalientes geblieben waren, nahmen an der Demonstration auf dem großen Platz in San Christobal leider nur 300 Teilnehmer des Treffens teil. Dafür ging es um so rasanter unter lauten Sprechchören drei mal um dem Platz, jedesmal mit besonderer Kundgebung vor dem örtlichen Regierungsgebäude. Zum sichtlichen Mißvergnügen der Beamten wurden zum Abschluß noch einmal die Länder ausfgezählt, aus denen die Kongreßteilnehmer stammten und auch wir aus „Allemania“ wurden mit brausendem Beifall bedacht.

Schlußfolgerungen

Was hat der Kongreß nun gebracht? In den Medien wurden prominente Teilnehmer zitiert. Laut „Berliner Zeitung“ hat der brasilianische Arbeiterführer Luis Inacio „Lula“ da Silva die Zapatisten und ihre Sympathisanten aus aller Welt abschätzig als eine Gruppe von „Utopisten“ und „Romantikern“ bezeichnet. Der Schweizer „Ta­ges­anzeiger“ vom 5. August zitiert die Witwe Mitterrand: „Sie können über mich lachen und mich eine Träumerin nennen. Aber wenn es keine Träumer gäbe, würde sich die Welt nie vorwärtsbewegen.“

Die Teilnehmer, die ich gesprochen habe, auch die pessimistischen, meinten übereinstimmend, daß sie hoffen, daß die internationale Beteiligung des Kongresses und das damit verbundene internationale Medienecho den Zapatistas eine neue Position von Stärke gegenüber der Regierung bringt. Aber natürlich war das Medienecho gerade in Deutschland gar nicht so stark, wie erhofft war und die wenigen erschienen Berichte geben keinen oder einen unvollständigen bis falschen Eindruck vom Kongreß. Der „Spiegel“ beispielsweise hat in Tenor und Aussage einfach nur Titel und Tenor der Mexiko-City-Times geklaut – „Zapatistas Convene Week-Long Woodstock of the Left“ und das Ganze zu einer Art Lifestyle-Kurs der Linken erklärt.. Das konnte ich mir allerdings schon denken, als ein ziemlich schmieriger Mitarbeiter des „Spiegel“ am Eröffnungstag in Aguascalientes 2 von uns adäquate Aussagen zu erhalten versuchte. Außerdem birgt natürlich jede öffentliche Demonstration auch die Gefahr, daß die Regierenden momentanen blinden Haßgefühlen nachgeben. Das scheint auch nach den gegenwärtigen Meldungen die erste Reaktion zu sein. Der Flugplatz der chiapatekischen Hauptstadt Tuxtla de Guitierez, auf dem Roman und ich am 26. Juli ankamen, ist, wie es heißt, für Monate für den Zivilverkehr gesperrt und dort landet jetzt Militärmaschine auf Militärmaschine. Ob das Bleiben vieler Kongreßteilnehmer in La Realidad und anderen Orten wirklich eine Gewähr gegen eine erneute Militäraktion gegen die Zapatistas und auch das Zerstören der öffentlich gewordenen Aguasclientes bieten kann, ist ungewiß.

Christine Meinung hinsichtlich eines Platzes für den Feminismus in der zapati­stischen Doktrin und einer starken Kraft gegen die autoritären ML-Doktrins hatte ich schon weiter oben zitiert. Allerdings befürchtete sie, daß den Zapatistas unter ständigen militärischen Konfrontationen bald keine Zeit mehr bliebe, ihre Ideen weiterzuentwickeln und zu praktizieren. Ansonsten war sie aber, wie schon gesagt, von dem, was sie vom Kongreß gesehen hatte, nicht sonderlich begeistert: Bei der Jubelparade, die ihr inhaltlos erschien, konnte sie nicht mithalten. Sie ging nicht mit dem Gefühl weg, daß auf dem Kongreß etwas geleistet wurde. Beim Berliner Kongreß habe eine Aufbruchsstimmung geherrscht, die hier fehlte. Auch Christian aus Bremen fühlten sich beim Konsumieren einer zu verarbeitenden Überfülle von Information überfordert. Im Grunde habe es auch nichts Neues gegeben, sondern die Aneinander­rei­hung von Thesen und Forderungen, die es schon längst gibt. Kongresse und Treffen, meinte er, leben hauptsächlich von Gesprächen und Bekanntschaften und die habe er dann gesucht. Ansonsten sei die Stimmung gut und motivierend gewesen und er habe viele wichtige Kontakte geknüpft. Leider habe es trotz deren guter Ausstrahlung zu den Indigenas große sprach­liche und kulturelle Barrieren gegeben.

Susanne aus Bremen kritisierte die steife, hierarchische Form in den Arbeitsgruppen. „Einer, der „presidente“ genannt wurde, saß voran und dann gab es noch einen Protokollführer. Das liegt aber natürlich auch an den Leuten selbst. Es gab vielleicht zu viele Erwartungen. Aber der Maßstab des Berliner Kongresses konnte nicht eingehalten werden. Dort konnten über vierzig verschiedene Themen unter ein Dach gefaßt werden. In Berlin kam man gerade weg von der Beliebigkeit. Das haben die Zapatisten geschafft, indem sie von hier aus, aus den lakandonischen Wäldern das Thema gesetzt haben. Der Begriff Neoliberalismus meint nicht nur Wirtschaft, sondern auch Gesellschaft, Sozialstruktur, zwischenmenschliche Verhältnisse. In dieser Weite der Begrifflichkeit lassen sich viele Phänomene zusammenfassen. Wichtig war es auch, das Positive zu sehen, gleichzeitig mit der Analyse auch eine Perspektive zu entwickeln, um von diesem schrecklichen Zynismus wegzukommen, den wir in den Jahren erfolgloser Kämpfe bekommen haben. Bei der Konferenz in Mexiko gab es allerdings immerhin einiges an Ansätzen für Organisierung und globale Vernetzung. Klar ist, daß das Herrschaftssystem transnational funktioniert. Wir müssen uns auch transnational organisieren.“

Mark von der Action Zapatistas aus Austin, Texas drückte sich positiver aus. Er hätte gern mehr konkrete Organisation gesehen, aber das kann später kommen. Er hat Kontakte gemacht und Ideen ausgetauscht. „Unsere Gruppe arbeitet viel mit dem Internet. Wir haben gedacht, daß das die perfekte Lösung des Organisationsproblems zwischen vielen Gruppen ist. Wir haben Adressen getauscht und sehen, wie es weitergeht.“ Auf meine nachdrücklich Frage, warum seiner Ansicht nach nicht mehr zustande keommen wäre, meinte er: „Es war den Veranstaltern wichtiger, etwas konkret auf dem Papier zu haben. Außerdem ist es, wenn so viele Leute aus unterschiedlichsten Bewegungen der Welt erscheinen, kompliziert, einen Rahmen zu finden, denn jeder will seine Meinung sagen. Wichtig ist, daß der Kongress für die Zapatistas Anerkennung gebracht hat.“ Das meinte auch Robert, ein alter Farmer aus Henderson in Nebraska: „Der wichtigste Punkt ist, daß eine kleine Gruppe von Indiginas, die kaum zwei Jahre existiert, Leute aus aller Welt zusammengebracht hat, um über das Problem des Neoliberalismus zu reden.“

Es seien viele „old-ideology poeple“ aus Europa da gewesen, Sozialdemokraten und Marxisten-Lenisten, fand Waradish aus Griechenland, aber auch in Mexiko scheint es noch genügend Leute zu geben, die sich weigern, aus vergangenen Erfahrungen zu lernen und neue lebendige Ideen aufzunehmen. Anfang August fand irgendwo in der östlichen Sierra Madre im mexikanischen Bundesstaat Guerrero eine Pressekonferenz der im Juni entstandenen neuen Guerillagruppe, „Volkstümlichen Revolutionären Armee“ (PRE) statt. „Poesie kann nicht die Welt verändern“, sagte EPR-Kommandant Jose Arturo. „Sie löst nichts und kann nicht die Richtung weisen, die die Bewegung gehen muß.“ Der Weg sei nicht, eine moralische Kraft zu schaffen, sondern ihr eine konkrete Form zu geben, um den sozialen und politischen Fortschritt zu erreichen. „Unser Kampf geht um die Macht und wir verhandeln nicht mit einer Mörder-Regierung.“ Das Ziel der EPR, die statt schwarzer kaffebraune Masken von raffiniertem Schnitt trägt, sei es, die Regierung zu besiegen, ein demokratisch-revolutionäres Regime zu erreichten und die neoliberale Politik zu beenden. Finanziert wird sie, wie einst schon die russischen Putschparteien Bolschewiki und Sozialrevolutionäre, durch sogenannte „Expropriationen“, Bankeinbrüche und „kidnap­ping of big business­men, who have in their power the big speculative capital.“ Welche Rolle der Bevölkerung, die zur gleichen Zeit in Guer­rero unter den Übergriffen der Militärs zu leiden hat, bei diesem Puper­täts­mythos zugedacht ist, verriet die neue Vorhut der Revolution vorerst nicht. Man kann das aber ganz gut bei Freud und seinen Schülern nachlesen und auch aus der Geschichte ist bekannt, daß die Sache so oder so mit Erschießungskommandos endet.

Gerade heute morgen vor dem Layout las ich in der neuesten Mexiko-Update, daß Bischof Samuel de Ruiz Mar­cos wegen seiner Rolle als Medienstar tadelte und Marcos selbstkritisch zugestand, daß da einiges schief gelaufen sei. Und schon fange ich wieder an, den Subcomman­dante zu lieben.

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