Mediales

Über das Sommerloch für Leseratten
von Knobi
aus telegraph 7/8 1996 (#90)

Dieser Sommer war/ist prädestiniert für´s lesen. Die großen Herbstneuerscheinungen kommen erst noch, aber da gibt es ja immer wieder Bücher, die mensch vor sich herschiebt (sozusagen der Bodensatz des Nachttischstapels), und außerdem gibt es Verlage, die sich nicht unbedingt an feste Erscheinungstermine binden. Also, so schnell geht das Lesefutter nicht aus:

Schon etwas „älter“ (1996 erschienen, 1996 gekauft, und dennoch nur die 2. Auflage erwischt) ist das Buch: Bis zum bitteren Ende… DIE TOTEN HOSEN erzählen ihre Geschichte (Vlg. Kiepenheuer & Witsch, Köln / 316 S. / 29,80 DM). Nach dem Motto: „Nicht besonders gut, aber immer so schnell wie möglich.“ Für FreundInnen des etablierten Postpunk dieser Düsseldorfer Gymnasiasten-Band ein Muß, und durchaus ein Stück (West-)Deutscher Rockgeschichte von der renitenten Art.

Renitent ist auch Bert Papenfuß geblieben. Der Dichter vom Prenzlauer Berg, heimatverbunden aber subversiv, NeoDadaist mit Gefühl für die Letzten der Beatgeneration. Beim Berliner Basisdruck Verlag erschien jetzt in der (neuen) Reihe „Sklaven-Pamphlete Nr. 1“ die Broschüre mit Gedichten von B.P. „Berliner Zapfenstreich – Schnelle Eingreifgesänge. Konterkarierend bebildert von A. R. Penck. (63 S. / 16,–DM). Inzwischen unterhält die Zeitschrift „Sklaven“ auch Räumlichkeiten im Pratergarten, Kastanienallee 7-9 in Berlin, den sogenannten „Sklavenmarkt“, wo jeden Mittwoch eine Veranstaltung stattfindet, und ansonsten von Dienstag bis Sonntag ab 17 Uhr jemand von „Sklaven“ zu erreichen ist.

Etwas ganz anderes stellt die Germanistikarbeit von Christoph Ludszuweit „B. Traven – Über das Problem der ‚inneren Kolonisierung‘ im Werk von B. Traven“ (Kramer Vlg. Berlin / 320 S. / 36,–DM) dar. In dieser Dissertation von 1992 schildert er die ‚geistige Kolonialisierung‘ Lateinamerikas. Nicht, ohne das heikle Thema auszusparen, daß Traven selbst Stellenweise einem gewissen Rassismus unterlag.

Die Überleitungen werden immer schwieriger: Eine Neuerscheinung aus dem „Verlag der Buchläden Schwarze Risse Berlin / Rote Straße Göttingen“ ist Simha Rotem; Kazik – Erinnerungen eines Ghettokämpfers (207 S. / 25,–DM). Es sind die Schilderungen des Simha Rotem, genannt „Kazik“, der als 18jähriger im Warschauer Ghetto gegen eine Übermacht von Nazis den Kampf gegen die Vernichtung der Juden aufnimmt. Ohne nachträglich zu romantisieren oder zu verklären.

Über Erinnerungen geht es auch in den letzten beiden Büchern: Zum einem, daß bereits 1994 erschienene Buch Ben L. Reitman; Boxcar Bertha – Eine Autobiographie (Ammann Vlg. Zürich / 295 S. / 36,–DM). Hier wird ein völlig anderes Amerikabild vermittelt, als wir es aus den Medien kennen. Es ist die Lebensgeschichte einer mutigen Frau, die sich für ‚freie Liebe‘, die sozialen Belange von WanderarbeiterInnen und Hobos in den 30ger Jahren einsetzte. Es ist eine Dokumentation über das Lumpenproletariat der Vereinigten Staaten.

Das andere Buch führt uns zurück nach Berlin ins 18. Jahrhundert: Heinz Knobloch; Herr Moses in Berlin – Auf den Spuren eines Menschenfreundes. (Fischer Taschenbuch Vlg. Frankfurt/M. / 414 S. / 19,90 DM). Das bereits 1979 in der DDR erschienene Buch über den Philosophen und Schriftsteller Moses Mendelssohn, ist auch ein Stück lebendige Berliner Geschichte, auch was die DDR und das jüdische Erbe betrifft.

Ob die Menschen fähig sind aus der Geschichte zu lernen wage ich zu bezweifeln. Wenn wir gesagt haben „Nie wieder Auschwitz! Nie wieder Krieg!“ dann scheint sich die These angesichts von Ex-Jugoslawien, Ex-UdSSR etc. zu bestätigen, dabei verfügen wir doch in den Erinnerungen der Menschheit über Tonnen von Büchern, die uns warnen, und eines besseren belehren. Lesen und Wissen ist eben nicht alles, wenn nicht auch danach gehandelt wird. In diesem Sinne….

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