Mitteilung des Berliner Kontakttelefons zur totalen Kriegsdienst- bzw. Zwangsdienstverweigerung
aus telegraph 8/1990
Am 8. Februar wurde eine Ministerratsverordnung über einen zukünftigen Zivildienst erlassen, die bislang in den Medien nicht in vollem Umfang veröffentlicht wurde.
Es ist zu befürchten, daß bei bevorstehenden Musterungen und Einberufungsüberprüfungen die Betroffenen nicht oder ungenügend über die Möglichkeiten der totalen Kriegsdienstverweigerung informiert werden. Z.B.: Bei Verweigerung auch des Zivildienstes ist keine Haftstrafe zulässig. Ordnungsstrafbestimmungen sehen Verweis und Ordnungsstrafe 10-500 Mark vor.
Zugleich erschien eine neue Verordnung über die Musterung. Bereits verschickte Musterungsbescheide mit altem Standardtext sind demnach hinfällig, da nun eine polizeiliche Zuführung zum Wehrkreiskommando bei Musterungsverweigerung nicht mehr zulässig ist. Gleiches gilt bei militärischer Erfassung.
Wer Verstöße des Militärapparates gegen diese neue Bestimmungen feststellt, bzw. Beratung sucht, wende sich bitte jeden 2. und 4. Donnerstag im Monat 15-17 Uhr an uns: Unabhängiges Kontakttelefon Berlin 2292912 Ansonsten im Haus der Demokratie, Friedrichstraße 165, Berlin 1080. 10-14 Uhr täglich, Donnerstag 15-17
Bislang meldeten sich bei uns ca. 50 Totalverweigerer. Die Reaktionen auf dem Wehrkreiskommando waren unterschiedlicher Art. In Weißensee und Prenzlauer Berg wurden Inhaftierungsdrohungen ausgesprochen. Im WWK Prenzlauer Berg wurde damit gedroht, daß die Akten nach der Vereinigung der Bundeswehr übergeben würden: In der BRD ist eine Totalverweigerung nicht möglich und zieht Haftstrafen nach sich. Deshalb bestand der Leiter des WKK auf einer schriftlichen Verweigerungserklärung, von der der Betroffene nicht einmal einen Durchschlag erhielt.
Das WKK Lichtenberg drohte mit einer „vierstelligen Ordnungsstrafe zu jedem Einberufungstermin“. (Was juristisch einer Doppel- und Mehrfachbestrafung gleich käme).
Die Praxis der repressiven Toleranz in der BRD ist vielleicht zu wenig bekannt – nach dem berüchtigten Wörner-Erlaß sollen Totalverweigerer nicht unter einem Jahr Knast verurteilt werden, nur brauchen sich die unabhängigen Gerichte nicht unbedingt daran halten. Der Widerstand gegen die Kriminalisierung von Totalverweigern wächst auch in der BRD. Außerdem ist im Grundgesetz nur eine Kriegsdienstverweigerungsmöglichkeit „mit der Waffe“ festgeschrieben – ein weiteres Argument gegen den DDR-Anschluß nach Artikel 23.
Die Gesetzeslage in der DDR z.Zt. ist wahrlich diffus, abgesehen davon, daß wir auch weiterhin nach engagierten Rechtsanwälten suchen (Empfehlungen/Angebote nehmen wir zur Weitervermittlung gern entgegen), so setzten wir in der Vergangenheit doch weiterhin auf den kollektiven zivilen Ungehorsam und die solidarische Öffentlichkeit. Z.B. wäre denkbar, eine kollektive Verweigerungserklärung zu erarbeiten, die in Richtung Armeebeschaffung und Verweigerung aller Zwangsdienste zielt.
Eine Verweigerervollversammlung wollten wir für den 26. April oder 3. Mai anberaumen – vielleicht kann uns auch jemand einen Raum zur Verfügung stellen.
Mit tiefer Sorge erfüllt uns die Geiselnahme der Roten Armee an Deserteuren in Litauen. Wir fordern ihre sofortige Freilassung und rufen zu phantasievollen Protestaktionen auf.
Gleichermaßen verurteilen wir die Amtshilfe des Westberliner Senats, der die Totalverweigerer bzw. Zivildienstabbrecher Holger Halfmann und Gerhard Scherer in bundesdeutsche Gefängnisse auslieferte – ein Musterbeispiel an Zusammenarbeit zwischen SPD und CDU.
PS. der Redaktion: Angeregt als neuer Schwerpunkt für das Kontakttelefon wurde eine Entwicklung in Richtung Ermittlungsausschuß und darüber hinaus auch eine Kontaktfunktion in der Meldung von neonazistischen Überfällen.