Innenminister Diestel (DSU) kann mit dem von ihm beschlagnahmten Material große Teile der DDR-Bevölkerung erpressen
aus telegraph 8/1990, von Wolfgang Rüddenklau
Spätestens seit der Bestätigung des Stasi-Verdachtes gegen den Vorsitzenden des Demokratischen Aufbruchs, Wolfgang Schnur, ist kaum noch eine Unterscheidung zwischen gerecht und ungerecht möglich. Hatte man zuvor angenommen, daß eine bestimmte Art von Vorleben, nämlich langjährige Mitarbeit in der Opposition, den Stasiverdacht ausschließt, ist auch das hinfort ein Grund aber kein Hindernis. Wie bestellt, tauchte, vom „Spiegel“ lanciert, der Verdacht gegen den Parteivorsitzenden Ibrahim Böhme auf. Eine schlampige Durchsicht der sogenannten Primärkarteien schien anfangs jeden Verdacht zu zerstreuen, dann wurden weitere Hinweise auf eine Akte in der Bezirksverwaltung Neubrandenburg auf, die sich aber bis zum heutigen Tag nicht fand. Ibrahim Böhme hat sich nun in den Kopf gesetzt, seine Unschuld zu beweisen. Nach Lage der Dinge ist das ein wenig aussichtsreiches Unterfangen, denn die Stasi erfaßte alles und alle. In der Berliner Magdalenenstraße allein befinden sich 5-6 Millionen Karteikarten.
Nicht nur die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM), auch ein bespitzelter Bürger bekam einen Decknamen. Der wirkliche Name in Verbindung mit diesem Decknamen ist nur in der Primärkartei unter anderem auf der gelben Karte F 16 zu finden. Unter dem verschlüsselten Namen findet man dann erst die Personalakte. Aus der geht aber nur hervor, ob der Betreffende Bürger sich per schriftliche Verpflichtung oder Geldquittung als IM kennzeichnet. Es gab aber ebenso Anwerbung vom IM per mündliche Verpflichtung. Am ehesten läßt sich ein IM aus den „Arbeitsakten“ nämlich Berichten über konkrete Vorgänge erschließen. Dort ist der betreffende IM unter Decknamen aufgeführt, es finden sich aber auch Treff-Berichte mit dem Führungsoffizier. Aus diesen Protokollen ist nun herauszufinden, ob es sich um wirkliche Spitzelberichte oder lediglich um Vernehmungen oder Gespräche handelte. Denn leider gibt es noch einen weiteren Stolperstein: Wie jede Behörde bekamen auch die Bezirksverwaltungen der Stasi zu Anfang des Jahres Planvorgaben, unter anderem über die Anwerbung von IM. Es scheint gar nicht so selten passiert zu sein, daß Stasi-Mitarbeiter Leute, mit denen sie Gespräche führten, in den Akten zum IM ernannten, um diesen Plan zu erfüllen. Mindestens aus einer Kreisdienststelle ist sogar bekannt, daß ein IM erfunden wurde. Seitdem mußten immer zwei Mitarbeiter für eine Anwerbung unterschreiben.
Ein ganz anderer Fall ist die Karteibemerkung „VIM“. Das bedeutet Vorlaufakte und wurde für jemand angelegt, der zur Werbung als IM in Aussicht genommen wurde. Zu diesem Zweck wurden „Komprimate“ gesammelt – kompromittierende Materialien, also aller möglicher Schmutz. Falls die Anwendung zur Anwerbung nicht möglich war, konnte dieses Material auch anderweitig benutzt werden. Beispielsweise wußte die Stasi bereits nach kurzer Zeit, daß der thüringische Landesjugendpfarrer J. Friedrich neben seiner Ehefrau eine Freundin hatte, verwandte das aber in in diesem Fall zur Denunziation beim Landesbischof.
Vielleicht genügen die vorstehenden Angaben, um anzudeuten, welche Woge an ungeklärtem Schmutz in diesen Archiven lauert und welche Schwierigkeiten es bereiten wird, diese vollständige Verzahnung von Sicherheitsdienst und Gesellschaft aufzuarbeiten.
Aber der neue Innenminister, Herr Diestel von der Schwesterpartei der bayerischen CSU, will uns diese Arbeit jetzt ersparen. Ob wir zustimmen oder nicht, er will die Staatssicherheit alleine auflösen und hat die Stasi-Akten in seine eigene Verwaltung genommen. Schließlich, äußerte er, sei er ein vom Volke legitimierter Minister und ließe sich auch von den Protesten einiger Zehntausend nicht beeindrucken („BZ“ vom 19.4.). Wir gehen daher mit Sicherheit davon aus, daß die Akten dem Innenministerium und später dem neuen Geheimdienst als schätzenswertes Material zur Verfügung stehen. Nur am Rande zu bemerken bleibt, daß gerade das Innenministerium nachweislich 3700 ehemalige Stasi-Mitarbeiter übernommen hat, alles höhere Offiziere. Die Dunkelziffer liegt noch höher, um 20.000. Der Erpressung der aktenkundig gewordenen DDR-Bürger ist Tür und Tor geöffnet. Wie sagte doch seinerzeit der Stasi-Offizier Hermann aus der Abteilung 20 in der Bezirksverwaltung Gera? „Im Landeskirchenrat Thüringen haben wir die Mehrheit.“
Deshalb, nicht aus historischem Interesse, werden wir in Zukunft mit der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit fortfahren müssen. Alte Spitzel werden mit hoher Sicherheit auch neue Spitzel werden. Da hilft nur schonungslose Öffentlichkeit. Neue Spitzel werden durch Erpressung mit dem alten Material gewonnen werden. Da hilft nur Aufklärung.