Die Berlin-Weißenseer Initiatoren der Wahlbeobachtungskampagne im vorigen Jahr zu ihren damaligen und heutigen Standpunkten
aus telegraph 8/1990
telegraph: Ihr beiden kommt vom Friedenskreis Berlin-Weißensee und ihr habt zu den „Mündigen“ Bürgern gehört, die im letzten Jahr während der Wahlfälschungskampagne in Flugblättern die Bevölkerung informierten und zu Demonstrationen in Berlin aufriefen, zuletzt zu der am 7. Oktober. Ihr habt Anfang des vorigen Jahres angefangen mit der Agitation gegen Wahlfälschung und für eine andere Art von Wahl.
Evelyn: Es kam uns darauf an, die Verlogenheit des Systems zu entlarven. Eine andere Art von Wahl war am Anfang eigentlich nebensächlich. Am Anfang kam es uns darauf an, dieses allgemeine Gere de von Wahlfälschung durch einen handfesten Beweis zu ersetzen. Darauf haben wir uns vorbereitet. Wir haben erst einmal die Kommunalwahl thematisiert. Wir haben dazu eine Reihe von Veranstaltungen gemacht, um Leute dafür zu interessieren und zum Mitmachen zu veranlassen. Mit den „mündigen Bürgern“ ist der Friedenskreis Weißensee allerdings nur teilweise identisch. Die „mündigen Bürger“ sind erst nach der Wahl entstanden, nachdem der Wahlbetrug offenbar wurde.
Hagen: Die Reaktion auf diesen Wahlbetrug war ja ganz unterschiedlich.
Evelyn: Das erste Flugblatt haben wir noch mit „betroffene Wähler“ unterschieben, diesen Aufruf zur Demonstration am 7. Juni vor dem Konsistorium. Nach den Zusammenstößen mit Bullen und Stasi an diesem Tag vor der Sophienkirche, gab es die ersten Spannungen im Friedenskreis – dafür und dagegen, auf der Straße oder nicht auf der Straße. Das hat sich dann verschärft, als wir für den 7. Juli zu einer Demonstration auf dem Alexanderplatz aufrufen wollten. Es haben einige aus dem Friedenskreis weitergemacht, andere sind hinzugekommen und das wurde dann der Kreis, der sich „mündige Bürger“ nannte und die Flugblätter verfaßte.
telegraph: Ihr habt vor dem 7. Mai die Wahlbeobachtung organisiert. Es hat aber auch in anderen Stadtbezirken Berlins, in vielen Städten und sogar in Dörfern Wahlbeobachtungen gegeben. Wie hat sich das vermittelt? Wie ist es dazu gekommen, daß plötzlich alle die gleiche Idee hatten? Habt ihr Eure Flugblätter so weit verteilt oder meint Ihr, daß es einfach eine Idee war, die in der Zeit lag.
Evelyn: Ich würde sagen beides. Wir haben unsere Flugblätter ziemlich weit gestreut. In Radio Glasnost gab es eine Sendung. Dann gab es noch eine Veranstaltungsreihe. Das hat sich ziemlich weit herumgesprochen.
Hagen: Also, ich wäre da vorsichtig, diese DDR-weite Bewegung auf unsere Initiative zurückzuführen.
Evelyn: Na, das kam so zusammen. Es gab bei den verschiedenen Gruppen in der DDR ja zunächst verschiedene Ansätze. Die einen sagten, wir machen Boykott, die anderen sagten, wir gehen wählen, aber dagegen. Das kam so zusammen. Als unsere Idee der Auszählung ankam, hat sie sich in der DDR herumgesprochen.
telegraph: Ihr wart dann, neben Berlin-Friedrichshain, in Berlin- Weißensee der Wahlbezirk, der bei der Wahlbeobachtung die vollständigste Erfassung der Ergebnisse in den Wahllokalen hatte. Könnt Ihr etwas zu den Zahlen sagen? Wie habt ihr das organisiert, daß in sämtlichen Wahllokalen Wahlbeobachter waren oder war das Zufall?
Evelyn: Wir haben bereits in der zweiten Veranstaltung und auf Flugblättern aufgerufen, uns zu unterstützen. Dann haben wir einen Plan vorgestellt, wie das weiter ablaufen soll. Wir haben einen Privatwohnung, meine in der Stephanus-Stifung in Weißensee, genannt, und die Leute aufgefordert, ab 14 Uhr zu erscheinen. In der Nacht haben wir Karteikarten vorbereitet, auf der die Adressen der Wahllokale standen und auch die Zugangswege aufgezeichnet. Wir haben dann auch diese Merkblätter mit Auszügen aus dem Wahlgesetz und Ratschlägen zum Verhalten verteilt, welche Zahlen in welcher Reihenfolge notiert werden müssen, wo nachgefragt werden muß, wenn nicht alles gesagt wird. Ja, dann sind die Leute ausgeschwirrt in alle Richtungen. Als sie zurückkamen haben wir, etwa zehn Leute, die Einzelergebnisse auf Karteikarten aufgeschrieben. Zu dem allen muß man sich die ständigen Repressalien des Leiters der Stephanus-Stiftung, Pastor Braune, denken. Gegen 21 Uhr hat er uns ganz aus meiner Wohnung heraus geschmissen und wir mußten anderswo weiterarbeiten.
Zwei Wahllokale haben uns dann am Ende gefehlt. In dem einen sind unsere Leute rausgeflogen und das zweite war die Kunsthochschule, das Wahllokal war uns nicht bekannt und nicht in unserer Auszählungen. Das haben wir dann dazubekommen. Dort waren 51% Nein-Stimmen.
Hagen: Das wurde ja dann auch als herausragendes DDR-Beispiel in den Stasi-Berichten geführt.
telegraph: Die Ergebnisse für Berlin liefen dann in der Kirche von Unten zusammen.
Evelyn: Ja, wir haben unsere Ergebnisse ausgerechnet und dann zur Kirchen von Unten gebracht, dort lief dann alles zusammen.
telegraph: Wie habt Ihr das eigentlich empfunden, als am Abend Egon Krenz mit dreister Stirne die gefälschten Wahlergebnisse verkündete und kaum einen Prozentsatz nachließ?
Evelyn: Ich habe eigentlich nichts anderes erwartet. Ich habe nicht erwartet, daß sie auf unsere Aktion so reagieren, daß sie mit den Prozentzahlen heruntergehen. Ich habe mich eigentlich nur gefreut, daß wir unser Ergebnis hatten.
telegraph: Was war denn das Motiv für die dann folgenden Demonstrationen zum Monatstag der Wahlfälschung? Habt ihr Euch davon etwas versprochen, habt Ihr erwartet, daß dann etwas geschieht?
Evelyn: Wir waren ja nicht die einzigen, die diese Ergebnisse hatten. Als wir die erste kurze Dokumentation über die Wahlbeobachtungen machten und DDR-weit Ergebnisse gesammelt haben, haben wir gesehen, daß überall diese Stimmung da war, daß dieser Wahlbetrug in aller Munde war. Wir haben die ersten Eingaben geschrieben und keine Antwort bekommen. Dann haben wir gesagt, wir müssen zu anderen Mitteln greifen. Der Aufruf zur ersten Demonstration vor dem Konsistorium war gar nicht weitergehend, erst einmal nur für den Juni gedacht. Nach dem 7. Juni haben wir uns erst überlegt, daß wir das jeden Monat machen müssen, weil die Wahlfälschung nicht in Vergessenheit geraten darf. Wir haben die Demonstration, die Straße als politisches Mittel entdeckt.
Hagen: Das kam aus einer gewissen Betroffenheit heraus, als wir diese frechen Antworten auf unsere Eingaben und Anzeigen bekamen. Dieses neue politische Mittel, und daß immer mehr und mehr Leute hinzu kamen, hat natürlich im Weißenseer Friedenskreis große Debatten hervorgerufen. Einige fanden die Vorgehensweise zu krass und meinten, daß wir die Situation unnötig eskalieren, und die Zeit noch nicht gekommen sei, auf die Straße zu gehen.
telegraph: Dann habt Ihr am 7. Oktober mit Eurem Aufruf zu einer Demonstration „Fünf Monate nach der Wahl“ eine Eskalation provoziert, die das Regime zusammenbrechen ließ. Keine Frage, daß da eine ganze Menge anderer Fragen eine Rolle spielten, aber Eurer Aufruf war der Auslöser. Ich frage jetzt mal, ob Ihr das beabsichtigt habt?
Hagen: Also das, das hat mich erstaunt. Mir wäre fast das Herz übergelaufen, als ich inmitten dieser vielen Leute stand.
Evelyn: Ich denke aber, da war nicht nur der Wahlbetrug die Ursache, da kamen viele Faktoren zusammen, die Massendemonstrationen in Leipzig, die Ausreisewelle. Also ich weiß nicht, ob es in Berlin nicht auch ohne unseren Aufruf eine Demonstration gegeben hätte. Es war einfach ein günstiger Punkt. Es stand fest: 7. Oktober, 17 Uhr an der Weltzeituhr. Aber es hätte sich sonst sicher auch ein anderer Punkt gefunden. Da kamen einfach ganz viele Sachen zusammen.
Hagen: Aber ich denke schon, daß unsere Tradition ausschlaggebend war.
Evelyn: Spätestens nach dem 7. Juni konnte wollten wir, daß das eine Tradition würde.
telegraph: Habt Ihr damals schon darüber nachgedacht, welches andere Wahlsystem, welches Mitbestimmungssystem ihr statt des bisherigen wolltet? Habt Ihr über Alternative nachgedacht?
Evelyn: Allgemein haben wir gedacht, daß ein Wahlsystem verschiedene Alternativen zur Auswahl geben müßte. Wir haben uns auch vorgenommen, darüber konkret zu reden, wie wir uns eine andere Gesellschaft vorstellen würden. Aber es ist dabei geblieben. Es hat kein Konzept gegeben, was aber einfach auch damit zusammenhing, daß keine Zeit blieb. Irgendwie war nach dem September, Oktober der Punkt, wo wir begannen uns, damit zu befassen. Aber wir wurden dann einfach von der Zeit überrollt.
Hagen: Es ist uns gut gelungen, die beiden Grundfesten dieser Wahl auszumachen: Zum einen, daß man nur den Fortbestand einer Politik bejahen oder verneinen konnte, zum zweiten, daß die Wahl als Mittel der politischen Demonstration galt. Beides haben wir abgelehnt. Aber über neue Wahlsysteme haben wir uns nicht unterhalten können.
Evelyn: Es gab ja auch die Idee der Gruppe, die die Dokumentation „Wahlfall“ gemacht hat, ein DDR-weites Seminar zu machen. Die alte Wahl sollte ausgewertet werden und dann wollten wir zusammen über Alternativen nachdenken. Aber dazu ist es dann nicht gekommen. Ich hatte die Mitteilungen dazu schon in den Verteiler der Umwelt-Bibliothek gesteckt. Dann haben wir gemerkt, daß wir die Vorbereitung nicht schaffen. Dann wollten wir es im Dezember machen und dazu ist es nicht mehr gekommen.
telegraph: Habt Ihr Euch eine Meinung gebildet, inwieweit das bürgelich-parlamentarische Parteien-Wahlsystem, das wir jetzt haben, das Mitbestimmungssystem ist, das Ihr Euch vorgestellt habt?
Evelyn: Für mich selbst ist es eigentlich auch nicht die Alternative, aber ich kann nicht sagen, was ich mir stattdessen vorstelle.
Hagen: Wir haben irgendwann mal angefangen, über Gesellschaftskonzepte zu reden. Und das ist eine Vorraussetzung, wenn man über ein Wahlsystem sprechen will. Klar war für mich, daß man mit diesen alten Blockparteien sowieso nichts mehr anfangen kann. Interessanter wurde die Diskussion, als irgendwann einmal die Idee von Ibrahim Böhme durchkam, einfach eine neue SPD zu gründen. Da wurde für mich klar, man kann ja einfach neue Parteien gründen und neu beginnen.
telegraph: Nun sind die meisten der neuen Parteien leider keine neuen Parteien. Das eigentlich Neue, die Bürgerbewegungen, war aussichtlos, weil da die alten Parteien waren, die alte Blockpartei CDU und die Wahlbestechung durch die alten BRD-Parteien.
Hagen: Also ich kriege jetzt erst mit, wie sich diese Parteien untereinander verhalten und wie sie gesellschaftliche Fragen angehen. Wie jetzt die PDS ganz in alter Art unterdrückt wird und wie die Parteien wirtschaftliche und soziale Fragen angehen. Evelyn: Das schlimme ist eigentlich, daß für niemanden, auch für keine der Bürgerbewegungen die Zeit da war, neue Konzepte zu entwickeln, daß jetzt alles aus der BRD übernommen wird. Es ist ja nichts Neues, neu vielleicht für die DDR, aber nichts, was aus diesem Volk entstanden ist.
telegraph: Es wäre eben wichtig gewesen, zu überlegen, wie sich Selbstbestimmung in diesem Land verwirklichen läßt.
Evelyn: Ja, das meine ich. Die Zeit und die Ereignisse haben uns da einfach überrollt.
(Das Gespräch führte r.l.)