Neue Erkenntnisse zum Verlauf des 9. Oktober in Leipzig
aus telegraph 8/1990, von Wolfgang Rüddenklau
Wir erinnern uns: Nach den großen Demonstrationen am 7. Oktober, dem Jubiläumstag der DDR, wurde allgemein die entscheidende und vernichtende Konfrontation für die nächste Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober erwartet. Wie gelähmt und ohne Hoffnung hörten wir vom Zusammenziehen von Militäreinheiten, von der Vorbereitung der Krankenhäuser für die Aufnahme von tausenden mit „neuartigen Verwundungen“. Ja, auch tausende von Särgen wurden vorsorglich bereitgestellt.
Dann aber geschah es, daß nichts geschah. Die Militäreinheiten in Leipzig wurden am Nachmittag ohne einen einzigen Schuß zurückgezogen. Die Leipziger Montagsdemonstration verlief friedlich. Die Volkspolizei regelte den Verkehr und das tat sie seitdem immer. Das Regime kollabierte ohne Gegenwehr, die sogenannte „friedliche Revolution“ hatte auf eine völlig unbegreifliche Weise gesiegt. Und seitdem streiten der Leiter des Gewandhauses, Kurt Masur, und der Kronprinz Honeckers, Egon Krenz, darum, wem das Verdienst an der Niederlage der eigenen Partei zukommt.
Nach einer neuen Information, die uns vorliegt, teilte der sowjetische Staatschef Gorbatschow dem Politbüro der SED am 7. Oktober mit, daß die in der DDR stationierten Einheiten der Roten Armee hinfort für den Bestand des Regimes in der DDR nicht mehr zur Verfügung stehen. Gorbatschow verwies dazu auf die Beschlüsse der Warschauer Pakt-Konferenz in Bukarest. Dort war die sogenannte Breshnew-Doktrin von der eingeschränkten Souveränität der „sozialistischen“ Länder aufgehoben und das vollständige Selbstbestimmungsrecht jedes Landes beschlossen worden.
Die Führung zog aus dem Verdikt Gorbatschows die einzig mögliche Schlußfolgerung: Die unbotmäßige Bevölkerung mußte mit den zur Verfügung stehenden eigenen DDR-Truppen, der NVA, den Kampfgruppen, den Einheiten der Stasi niedergemetzelt werden. Als Kampfplatz wurde die Leipziger Montagsdemonstation am 9. Oktober bestimmt und entsprechende Weisungen herausgegeben. Chef der Aktion sollte Egon Krenz sein.
Aber dann erschien am 9. Oktober in Berlin der sowjetische Hochkommissar für Deutschland Kotschemassow. Er teilte mit, die sowjetische Führung habe von dem Plan der blutigen Niederschlagung erfahren. Unter Berufung auf ein altes Kontrollratsgesetz entzog Kotschemassow Honecker die Führungsgewalt im Nationalen Verteidigungsrat. „Macht nix“, dachte man in Ostberlin, „Egon Krenz hat ja schon seine Befehle!“ Dann aber ging auch das schief. Die dem 3. Militärbezirk der NVA vorgesetzte russische Kommandantur in Grimma verbot der Volksarmee jegliches Einschreiten. Die NVA marschierte zwar auf, erhielt aber keinen Einsatzbefehl.
Die „ultima ratio“ des Regimes war damit verpufft, es brach in sich zusammen. Und unser Egon dachte, da er schon nicht den Mörder der Nation spielen durfte, könnte er sich immerhin als Retter der Nation aufwerfen. Es scheint, als wenn auch die Niederlage viele Väter hat.
Es bleiben eine Reihe von Unklarheiten. Abgesehen von einigen symptomatischen Bestätigungen haben wir immer noch michts über die Hintergründe eines letzten Versuchs zur militärischen Niederwerfung der Volksbewegung am 4. November erfahren. Unseren bisherigen Informationen zufolge ist die NVA damals, während der Halbmillionen- Demonstration in Ostberlin rund um Berlin aufmarschiert, wiederum unter dem Oberbefehl von Egon Krenz, und erhielt wiederum keinen Einsatzbefehl.
Völlig ungeklärt bleibt auch das geostrategische Ziel Moskaus, das ohne Gegenforderungen den USA eine Position nach der anderen überließ und, nachdem es sogar eine NATO-Mitgiedschaft von ganz Deutschland für möglich hielten, offenbar freiwillig ihre europäi- schen Interessen fallenläßt. Es gibt eigentlich keine politische Logik, nach der solche Entscheidungen als sinnvoll angesehen werden könnten.