Genosse Computer

aus telegraph 9/1989
vom 29. November 1989

Aus „Union“, Dresden vom 23.11.89:

Am vergangenen Sonntag wurde er endlich überführt, der Täter. Eigentlich hätte ja jeder gelernte DDR-Bürger selber drauf kommen können. Aber inzwischen sind wir mündig, und unser bisheriges Denkvermögen bildet sich unter dem Zwang der Umstände kolossal zurück. So sind uns solche Schlußfolgerungen schon nicht mehr möglich.

Da hat nun Egon Krenz nachgeholfen und den Wahlbetrüger höchstpersönlich vorgestellt: den Genossen Computer. Wie er mit Vornamen heißt, fragen Sie, und ob er noch im Politbüro sitzt oder schon hinter Gittern? Hinter vorgehaltener Hand kann ich mitteilen, daß er zur Zeit Visa stempelt. Das kommt auch seinem Ursprung näher, schließlich wurde er vom Klassenfeind gezeugt.

Jetzt, da der Sozialismus erneuert werden soll, wollen wir die ganze Wahrheit wissen, also auch den Vornamen des Genossen. Jetzt, da ein Genosse Dr. Mittag ein Verbrecher genannt wird, weil er Zahlen manipulierte, wird das Volk weiter veralbert mit einem bedauerlichen technischen Versagen. Egon Krenz, das arme Würstchen, war auf Gedeih und Verderb ausgeliefert einem Computer, der Diktatur und Parteilichkeit einer Maschine. Wo bleibt da der gesunde Menschenverstand, das Gewissen eines Kommunisten? Und warum jetzt dieses Desinteresse an der Frage, wo der Fehler gelegen haben könnte, wer hier falsch programmiert oder falsch eingegeben hat? „Die entsprechenden Unterlagen, Stimmzettel usw. wurden vernichtet“. Auch die Wahlprotokolle? Das wäre ja ungeheuerlich! Vertrauen wir deshalb auf die Kraft des Volkes: Die volle Wahrheit in ihrem Lauf, hält weder Ochs noch Egon auf.

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