Kommentar: Zur Schadenfreude besteht kein Anlaß!

von Wolfgang Rüddenklau
aus telegraph 9/1996 ( #91 )

„Wer in letzter Zeit aufmerksam die Medien verfolgt hat, wird festgestellte haben…“ So müßte man normalerweise einen vertiefenden Artikel über den Sozialabbau in der Bundesrepublik Deutschland, über Häuserräumungen oder Mietsteigerungen in Berlin oder über die Lage in Mexiko beginnen. Aber angesichts dieser Woge an Sex and Crime, die immer mehr die auch die öffentlich rechtlichen Medien beherrscht, ist es immer schwerer, überhaupt noch zuzuhören oder genauer zu lesen. Wochenlang beherrschte statt der deutschen Tarifkämpfe und der immer dreisteren Gesetze zum Sozialabbau die immer ekelhaftere Beschreibung der Taten einer dänische Kinderschänderbande die Schlagzeilen. Der damit zusammenhängende ganz politische Fall der Ermordung eines dänischen Ministers durch Parteigenossen und das Schlaglicht, das auf die dänische – und wohl letztendlich auch auf die deutsche Parteienfilzlandschaft warf, war schnell zugunsten neuer Sensationen vergessen. Und der Himmel hat unserem Finanzminister einen deutschen Kinderschänderfall beschert, sodaß er sich gestern im Fernsehen mal über weniger peinliche Themen verbreiten konnte als den Sparhaushalt. Langsam wurde ja das Gerede von der organisierten Kriminalität ein wenig eintönig. Immerhin zeigte sich aber auch im Fall der belgischen Bösewichter, daß sie nicht nur das Fernsehen, das Telefon, die Toilette und Messer und Gabel benutzen, sondern eben auch das Internet. Aha!

Die deutschen Staatsbürger indessen scheinen nichts dabei zu finden, lesen weiter in der Masse Bildzeitung oder seriosere Zeitungen, die unter dem Druck der Pressekonzentration je länger je mehr diesem Blatt immer mehr ähneln. Nicht einmal der bisher zentralste Angriff auf ihre Geldbörse, eine Stelle, an der sie immer noch ein wenig Wundschmerz empfinden, die Gebührenerhöhung der deutschen Telekom, führte zu lang anhaltenderen Initiativen. Die Gewerkschaften haben statt Konjunktur immer größeren Mitgliederschwund, obwohl sie sich das zum Teil selbst zuzuschreiben haben. Die letzten Landtagswahlen in der Bundesrepublik führten kaum zu nennenswerten Einbrüchen der CDU. Das ganz offensichtliche Kalkül, das hinter den offiziellen Wolkenschiebereien steckt, führt nicht zu Solidarität und Widerstand, sondern dazu, daß jeder sieht, wo er unterkriechen kann und alle mit wichtiger Miene vom Sparen reden. Wie sollte es da größere Erregung über weit weniger spektakuläre Dinge geben: den sukzessiven Abbau der bürgerlichen Freiheitsrechte in den westlichen Demokratien, die, so jämmerlich sie sein mögen, doch immer einen echten Fortschritt gegenüber allen möglichen Diktaturen bedeutet haben Gewiß doch, es war ein Luxus, den die Herrschenden der Magistralen ihren Untertanen spendiert haben, um die Stabilität in den Machtzentren zu erhalten. Aber dieser Luxus scheint jetzt nicht mehr nötig zu sein, weil niemand den Verlust als schlimm emfindet, nicht einmal die Linke.

Eine im Übrigen auisgezeichnete Recherche über die Internetzensur in der Internetzeitschrift „Trend“, beginnt mit den Worten: „Spätestens seit Herbert Marcuses Essay über die „repressive Toleranz“ in gewaltförmig, nationalstaatlich verfaßten Gesellschaften dürfte klar sein, daß freie Rede, ungehinderte Vermittlung von Informationen, selbstbestimmtes Leben usw. nichts als reine Ideologie zur Kaschierung staatlich durchgesetzter Intoleranz sind. Mit dem Internet schien dieses wesentliche Element von nationalstaatlicher Machtstruktur aufgehoben….“ Aber: „Die fürs Kapital via Internet neu entdeckten Verkehrswege verlangten (jetzt)daher Beregelung auf internationaler Ebene… . Das Internet wurde zur Chefsache der G7-Staaten..“

Na, dann ist ja wieder alles in Ordnung! Das marxististische Schema ist wieder hergestellt, wir brauchen uns nicht mehr aufzuregen, sondern können genüßlich beobachten, daß Kapitalismus eben Kapitalismus ist. Im Übrigen ist die Mehrheit der deutschen Linken so stupid technikfeindlich, daß sie einfach nicht wahrnehmen wollen, daß mit der Internetzensur für die Medien, die die weitsichtigeren Machthaber als die Zukünftigen sehen ganz gegen geltendes Recht und Verfassungen die Machtstrukturen eingerichtet werden, mit denen man uns künftig im Griff halten wird. Da werden nicht mal vom Verfassungsschutz, sondern von einer privaten Organisation der deutschen Onlinewirtschaft sämtliche in Deutschland ein- und ausgehende News und mittlerweile wohl auch die Homepages gescannt und zwar nach Prinzipien, die in keiner Weise offengelegt werden. Das führt nicht etwa dazu, daß der Innenminister beispielsweise Probleme mit dem sonst so eifersüchtig verteidigten staatlichen Gewaltmonopol bekommt oder sogar Bedenken über die Verletzung von Geist und Buchstaben des Grundgesetzes äußert. Nicht einmal die Datenschützer haben sich nennenswert geäußert. Im Gegenteil, die Bundesanwaltschaft fordert und bekommt Schützenhilfe von dieser selbst ernannten privaten Zensurbehörde gegen einen seit langen gehaßten Feind und der Bundeswirtschaftsminister (wer sonst?) begrüßt „die Initiative der deutschen Onlinewirtschaft, einen Internet-medienrat als Gremium freiwilliger Selbstkontrolle einzurichten.“ Es ist offenbar nicht einmal mehr nötig den Schein zu wahren, denn erstens merkt sowieso in Deutschland niemand mehr etwas und wenn, spielen die paar Hanseln auch keine Rolle mehr.

In Deutschland gibt es nämlich keine Bürgerrechtsbewegung, denn die hiesige Linke beschäftigt sich nicht mit Bürgerrechten. Bürgerrechte sind, wie schon der Name sagt, etwas bürgerliches und laut Marx reine Ideologie. Wenn überhaupt, dann ist es eher ein freudiger Anlaß, daß jetzt diese Ideologie als das enttarnt wird, was sie immer war: eine Illusion. In Wirklichkeit kommt es auf die Kapitalverhältnisse an und die müßten geändert werden, wenn sich dafür irgendeine ernst zu nehmende Bewegung fände.

Die gibt es leider nicht, weil der sektiererische Geist der westdeutschen Linken schon seit Jahrzehnten dazu geführt hat, daß sich jeweilige Weggefährten, die Friedensbewegung, die Anti-Atomkraftbewegung, die Ökologen, erst recht Bürgerrechtler und sogar die Feminstinnen als bestenfalls „unklare“ bürgerlich Hilfskräfte abqualifiziert sahen, mit denen ein ernst zu nehmendes Bündnis nicht möglich sei. (Und die Ökologen sind sogar nach dem derzeitigen Urteil ernstzunehmender linker Gallionsfiguren eigentlich schon immer eine präfaschistische Bewegung gewesen.)

Das ist jedenfalls in Deutschland eine alte Geschichte. Die alten Ziele der deutschen Demokratie, erklärten die Marxisten in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, seien obsolet. In Wahrheit käme es darauf an, den ehernen Gesetzen der Geschichte zum Durchbruch zu verhelfen und statt einer Programmpartei eine Partei der fortgeschrittensten Klasse zu schaffen, die dann kraft ihres Bewußtsein schon für den gesellschaftlichen Fortschritt sorgen werde. Das haben viele geglaubt und heimlich haben sie, nicht nur Jacoby und Guido Weiß, sondern auch Bebel und Mehring, gehofft, daß diese Art von Fortschritt mit den Zielen der radikalen Demokratie identisch sei. Wenn die Geschichte überhaupt irgend etwas gezeigt hat, dann unter Millionen von Opfern und scheußlichen Gewalregimen höchstens, daß diese Kernpunkte der marxistischen Weltanschauung obsolet sind: der Determinismus und der Glaube an die fortschrittliche Rolle der Arbeiterklasse. Bei aller Betonung mancher Punkte, in denen der Marxismus einer zutreffende Analyse geliefert hat, muß man doch sagen, daß wir unseren Überlegungen nur wieder dort anfangen können, wo sich die radikalen bürgerlichen Demokraten in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts selbst aufgaben.

Wir können uns nicht mehr auf einen Determinismus verlassen, sondern sind für unsere Geschichte selbst verantwortlich. Die Linke war einstmals eine ethische Bewegung, die für ein freies und gerechtes Verhältnis zwischen den Menschen eintrat. Wenn sie wieder eine Bewegung werden will und wenn sie will, daß menschliche Gesellschaft gegen die Ratten und Drachen, die gegenwärtig das Sagen haben , eine Chance hat, wird sie sich erneut um Freiheit, Gleichheit und Solidarität kümmern müssen.

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