Überraschungen von Lutz Rathenow?

aus telegraph 9/1996 ( #91 )

Was war die erfolgreichste Weihnachtsgeschichte 1995? „Heiligabend“, aus dem Erzählungsband „Sisyphos“, Berlin-Verlag 1995. Wer verfaßte das Buch mit dem grüblerischen Titel? Lutz Rathenow, als DvD (Dissi vom Dienst) etwas erlahmt, macht wieder kräftig in Literatur. Die „Esslinger Zeitung“, „Freie Presse“ (Suhl), „Thüringer Landeszeitung“ (Weimar) und kleinere Blätter druckten eifrig den wenig originellen Text vom Manne, der sich Weihnachten umbringen will. Die Geschichte stand schon in Rathenows erstem Prosaband. Nur der Schluß ist neu. Zu DDR-Zeiten erledigte er seinen Suizid erfolgreich. Jetzt schafft er nicht mal das mehr, weil ihn das ausströmende Gas verwirrt. Zugegeben: der Schluß ist lesbar, die Geschichte trotzdem überflüssig. Sie gehört zu dem Drittel mißglückter Geschichten, die Lutz Rathenow so zeigen, wie er des öfteren schon verspottet worden ist: trotz der Kürze aufgeblasen oder zu banal. Der alte und der junge Mann, die sich begegnen und am liebsten vergasen wollen, gehören in den Reigen von Stories, die für das Schullesebuch geschrieben worden sind. Herr Lehrer, der Dichter wollte uns sagen…. Die Langeweile erreicht ihren Höhepunkt bei „Die Flaschenpost“, ein angekitschtes Märchen. Von einem der die Küste abwanderte, bis er in die Berge zog. Oder so ähnlich. Der „Hörzu“ gefiel es -sie druckte den Text zur Gänze mit einem stimmungsvollen Meerbild ab. So schlimm ist das übrige Buch doch nicht. Das zweite Drittel präsentiert ganz solide Texte. Solide – das ist Anerkennung und Kritik gleichermaßen. Die Skizzen über die Kindheit, die von einem Kritiker so gelobten beiden Frauengeschichten – das ist lesbar und zeigt einen Rathenow mit durchschnittlichem DDR-Standard. Irgendwo zwischen Klaus Schlesinger und Jurek Becker angesiedelt. Themen und Sichtweisen ähneln sich, auf überhöhte Posen wird verzichtet, auf irritierende Kühnheiten allerdings auch. Verblüfft merkt der Rezensent, Rathenow war ja viel mehr DDR, als Stasi und Westkritik das wahrhaben wollten. Diese Geschichten werden es gewesen sein, die eine Gewerkschaftsstiftung dazu brachten, „Sisyphos“ durch einen Ankauf zu fördern.

Es gäbe inspirierendere Bücher zu besprechen, wäre da nicht das letzte Drittel. Es stellt sich die Frage: Wer schreibt das für Rathenow? Denn den präzisen Monolog TÖTEN LERNEN traut man oder frau dem Ex-Jenaer Widerständler kaum zu. Außerdem tötet da einer einen, weil der keine (!) Stasi-Berichte über ihn schrieb. „TITANIC“ kam Brussigs Romanerfolg „Helden wie wir“ vor einiger Zeit wie eine Mischung aus Rathenow und Norbert Blüm vor. Verfaßten die beiden das Werk, um sich einmal kräftig abzureagieren? Und Herr Brussig komplettierte in der Zwischenzeit Rahenows Kurzprosa? So kommt es in dieser zu Texten, bei denen wirklich an Charms oder Ror Wolf gedacht werden darf. Eine Frau fällt und erschrickt, als ihr sofort jemand Hilfe anbietet. Und erst der Dialog der beiden vor der Telefonzelle („Der Ruf“). In einem anderen Text wollen zwei von einem dritten einfach wissen, warum er lächle. Die Situation eskaliert: „Der erste hat einen Stock, der ein Schlagstock zu sein scheint. Kurze Eisenketten hängen daran und klirren weihnachtlich.“Nur der Schluß: eine Spur zu konstruiert, vielleicht schrieb da Rathenow wieder selbst „Er wachte die ganze Nacht durch, daß er sie mit seinem Schnarchen nicht erschrecke“ – ja, solche Eingangssätze finden sich in den Geschichten dieses Buches. Beim besten oder übelsten Willen: ein abschließendes Urteil ist nicht möglich.

Lutz Rathenow: Sisyphos, Erzählungen, Berlin-Verlag, 2. Auflage 1996, 32,- DM.

Lutz Rathenow: Floh Dickbauch, Bilderbuch, Illustrationen Peter Bauer, LeiV-Verlag Leipzig, 1996, 24,80 DM.

Lutz Rathenow/Woltgang Korall: Wende gut – alles gut? Kindler Verlag, 49,80 DM

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