Polnische Geschichte von 1980 bis 1990 im Zeichen der Solidarnosc von Bernd Gehrke
(Aus telegraph #100)
1999 wurde zum Jahr der bisher größten sozialen Auseinandersetzungen in Polen seit der Abdankung der Jaruzelski-Diktatur und der Eroberung der bürgerlichen Demokratie 1989/1990 sowie der folgenden Restauration kapitalistischer Verhältnisse im Banne des Neoliberalismus. Abwehrkämpfe von Bauern, Metall- und Bergarbeitern oder Krankenschwestern gegen die Auswirkungen der Anpassungspolitik der gegenwärtigen Post-Solidarnosc-Regierung hinsichtlich der IWF-Auflagen sowie der künftigen EU-Integration haben Polen erschüttert. Diese Auseinandersetzungen wurden mit einer Militanz geführt, wie sie in Europa zumeist aus Frankreich bekannt ist. Im Sommer 1999 fand einer der härtesten Konflikte statt: Die seit der Arbeiterrevolte gegen die Diktatur der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) im Jahre 1976 als kämpferische Bastion einer autonomen Arbeiterbewegung bekannten ArbeiterInnen der Waffenfabriken in Radom, die unter den Bannern der Solidarnosc in Warschau gegen die Regierungspolitik protestierten, wurden von eben jener Regierung, die aus ihrer Bewegung hervorgegangen ist, mit Gummikugeln auseinandergeschossen. Angesichts dieser tiefen sozialen und politischen Gegensätze innerhalb der polnischen Gesellschaft und der ehemaligen Solidarnosc-Bewegung mußte der Publizist Lech Dymarski im gewerkschaftlichen „Tygodnik Solidarnosc” konstatieren: „Solidarnosc hat verloren”. Den Grund dafür sah er darin, dass diese Bewegung sich dem Neoliberalismus unterworfen hat. Ausdruck der tiefen Zerrissenheit des ehemaligen Solidarnosc-Lagers waren drei verschiedene Gedenkfeierlichkeiten anlässlich des diesjährigen Jahrestages der Gründung der Gewerkschaft in Gdansk. Solche Gegensätze innerhalb des alten Solidarnosc-Lagers sind allerdings nicht neu. Die heutige Gewerkschaft Solidarnosc ist, wenn man ihre politischen Mutationen betrachtet, bereits die dritte Gewerkschaft mit diesem Namen. Wer glaubt, dieses Ende der Bewegung habe bereits in ihrer Wiege gelegen, weil Katholizismus oder marktwirtschaftliche Reformen von Anfang an auf ihren geistigen Bannern standen, irrt grundlegend. So hat Lech Dymarski in seinem heutigen bitteren Fazit auch daran erinnert, dass im Gründungsprogramm nicht nur nichts vom Kapitalismus als Ziel zu lesen war, sondern im Gegenteil eine „blühende Arbeiterselbstverwaltung“ und eine „freie Bürgergesellschaft“ angestrebt wurden.
Gerade angesichts der heutigen Zuspitzung der Auseinandersetzungen in Polen und seiner Gewerkschaftsbewegung ist es ein ausgesprochen glücklicher Umstand, dass in diesem Jahr ein Buch erschienen ist, in dem die politische Geschichte Polens und seiner Gewerkschaftsbewegung von 1980 bis 1990 detailliert nachgezeichnet wird. Hartmut Kühn, Ostdeutscher mit engen Kontakten zur Solidarnosc seit ihrer Gründung, hat eine umfassende Darstellung vom „Jahrzehnt der Solidarnosc” publiziert, in der akribisch alles heute verfügbare Material aus der Zeit der Entstehung, des Untergrundes, der Zeit des Sieges der Solidarnosc sowie die in den neunziger Jahren veröffentlichten Arbeiten eingeflossen sind. Durch diese Materialien sowie eine Fülle von Gesprächen mit den Beteiligten konnte der Autor in bisher einmalig detaillierter Weise interne Diskussionen, Konflikte und Entwicklungen innerhalb der Solidarnosc, innerhalb der PVAP sowie die Entwicklung der Konflikte zwischen ihnen zusammentragen. Mit diesem Buch liegt erstmals in deutscher Sprache eine ausführliche Gesamtdarstellung der Solidarnosc von der Zeit ihrer Entstehung über die Zeit des Untergrundes bis hin zu ihrem Sieg vor. Das Buch beginnt mit der Vorgeschichte des Auguststreiks von 1980 und endet mit der Wahl des Gewerkschaftsvorsitzenden Lech Walesa zum Staatspräsidenten im Jahre 1990. Da über Entstehung, Entwicklung und Niederlage der Solidarnosc in den Jahren 1980/1981 eine Reihe ausführlicher Darstellungen in deutscher Sprache vorliegen, enthält das Buch für deutsche Leserinnen und Leser insbesondere wegen der geschlossenen Darstellung der Untergrund-Solidarnosc sowie der Auseinandersetzungen um die Wiederzulassung und den politischen Zerfall der siegreichen Solidarnosc viel Neues. Aufgrund der ungeheuren Detailtreue bei der Nachzeichnung der internen Auseinandersetzungen der Solidarnosc sowie der PVAP enthält das Buch jedoch auch für diejenigen zahlreiche Neuigkeiten, die die älteren Arbeiten zur Geschichte der Solidarnosc bis zur Verkündung des Kriegsrechtes 1981 kennen. Leserinnen und Leser, die von polnischer Geschichte wenig wissen und von der Solidarnosc nur, dass sie dem Papst nahe steht, werden überrascht sein, dass ihnen in diesem Buch eine authentische Arbeiterbewegung fassbar wird, die durch ihr Engagement und ihre Militanz in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur mehr Regierungen gestürzt hat, als (fast) jede andere in Europa. Allein die Darstellung der Kämpfe von 1980/1981 und besonders die der Untergrundaktivitäten hinterlässt einen Schauer der Bewunderung. Man stelle sich vor, dass nach der gewaltsamen Unterdrückung der Gewerkschaft im Dezember 1981 am 1. Mai 1982 allein in Gdansk rund 60.000 Menschen für die Wiederzulassung ihrer Gewerkschaft demonstrierten.
Wie aber kommt es, dass eine solche Bewegung, an deren Anfang 1980/1981der Kampf um die Arbeiterselbstverwaltung und die gesellschaftliche Selbstverwaltung in einer „sich selbst verwaltenden Republik” stand, eine neoliberale Bourgeoisie an die Macht brachte, die ihr nach allen Regeln der Kunst (des IWF) mittels Privatisierungs- und Marktschock die soziale Initiative aus der Hand riss? So stellt der Autor die geschichtliche Frage in seiner Arbeit leider nicht. Aufgrund seiner detaillierten Beschreibung der politischen Abläufe zeichnet er allerdings einige wesentliche Entwicklungen auf, die zur Beantwortung dieser Frage gehören: das gilt vor allem für die Veränderung der Gewerkschaft durch ihre militärische Unterdrückung. Nicht nur die unvermeidliche Stärkung des Antikommunismus innerhalb der Untergrundrealität ist hierfür wesentlich. Auch die Art und Weise einer Neugründung der Gewerkschaft 1988 „von oben” spielte eine wichtige Rolle, die an den Statuten vorbei durch den Walesa-Flügel und die ihm nahen Intellektuellen im Zuge einer Kompromisses mit dem Jaruzelski-Regime erfolgte. Gerade dieser (politisch erfolgreiche) Weg führte am Ende der achtziger Jahre zu einer gewollten „zweiten Solidarnosc” ohne ihren auf den Sturz des Regimes von unten zielenden radikal-syndikalistischen Flügel. Dieser konstituierte sich fortan als Solidarnosc `80 und verweigerte die Einbindung und Unterordnung der gewerkschaftlichen Aktivitäten unter politische Zielvorgaben. Letztere bestanden zunächst in der Unterordnung der gewerkschaftlichen Aktivitäten unter die des auf den Wahlkampf orientierten „Bürgerkomitees Solidarnosc” bei den als Runder-Tisch-Kompromiss erreichten Wahlen von 1989. Mit dem politischen Sieg des Solidarnosc-Lagers in diesen Wahlen zerfiel auch die „zweite Solidarnosc”: in einen sozial-katholisch-konservativ-antikapitalistischen Flügel (inklusive nationalistisch-antisemitischer Auswüchse), der die Führung der „dritten Solidarnosc” seither stellt, einen sozialdemokratisch-neoliberalen Flügel, der vor allem aus den ehemaligen Beratern der Solidarnosc besteht und aus der Gewerkschaft wegen seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik verdrängt wurde und den linkssozialdemokratischen Flügel, der in der Gewerkschaft zwar auf unterer Ebene präsent, aber aus Führungsfunktionen verdrängt ist. Doch diese Entwicklungen gehören bereits nicht mehr zum Gegenstand des Buches. Indes bleibt bis heute die Basis der Gewerkschaft aktiv, die auch in zahlreichen Auseinandersetzungen nach 1990 sowohl mit dem Kapital als auch mit der von ihr selbst gewählten Regierung ihre Konfliktbereitschaft bewiesen hat. Die Stärke des Buches, die Fülle an Details, ist zugleich auch seine Schwäche. Insbesondere Leserinnen und Leser, denen die polnische Zeitgeschichte wenig vertraut ist, dürften manchmal Schwierigkeiten haben, in der Fülle von Namen und Ereignissen den Überblick und die Zusammenhänge zu behalten. Indes ist diese empirische Orientierung der Arbeit durch den Autor in seiner Vorbemerkung ausdrücklich betont und ein weiteres Buch mit theoretischer Reflektion der polnischen Geschichte angekündigt. Allerdings wäre dafür zu hoffen, dass sie mit analytisch tiefer reichenderen Kategorien ausgestattet ist, als die in diesem Buch häufig anzutreffenden, aber wenig erklärenden wie „Fundamentalisten“ oder „Pragmatiker“ bei der Solidarnosc oder „Betonköpfe” und „Pragmatiker” bei der PVAP. Dennoch: ein lohnendes Buch. Allein der Anhang mit seiner Historiographie und seinen Biographien ist ein Geschichtsbuch für sich. Bernd Gehrke
Hartmut Kühn: Das Jahrzehnt der Solidarnosc. Die politische Geschichte Polens 1980–1990. Mit einem historiographischen Anhang bis 1997, BasisDruck Verlag Berlin 1999
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