Mit Niederschlägen muß gerechnet werden

telegraph 2/98
von Wolfram Kempe

Die PDS hat ein Problem: sie wird gewählt. Gerade im Osten und im Grunde unabhängig davon, ob sie programmatische oder politische Böcke schießt. Die Demoskopen, die sich sonst vor einer Wahlprognose im Osten Deutschlands fürchten, sind sich merkwürdig einig darin, daß der PDS ein stabiles Wählerpotential von rund einem Fünftel aller abgegebenen Stimmen zur Verfügung steht. Derartig feste Analysen bleiben nicht folgenlos, gerade auch für die Partei nicht. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als würde gerade der Bundesvorstand der PDS dieses Wählerpotential als feste Bank ansehen, von der aus sicher in den Westen hinein zu operieren ist und der man zu diesem Zweck einiges zumuten könne.

Die Strategie der Partei hat sich dreieinhalb Monate vor der Bundestagswahl und nach der Wahl in Sachsen-Anhalt, die durch die Bildung einer SPD-Minderheitsregierung gewonnen wurde, im wesentlichen auf zwei Dinge verengt: in den Bundestag einziehen und als Partei im Westen Deutschlands Fuß fassen. Um dies zu erreichen, wurde gerade in Berlin bei der Aufstellung der Wahlkandidaten im vergangenen halben Jahr viel Porzellan zerschlagen. Im Wahlbezirk Weißensee-Hohenschönhausen-Pankow regte sich an der Basis Widerstand gegen die erneute Nominierung des ehemaligen Gewerkschaftsunktionärs Manfred Müller. Im Zentrum der Kritik standen dabei einerseits die Aussagen Müllers zum Krenz-Urteil (das er begrüßte) und zum anderen seine Haltung zu Out-of-area-Einsätzen der Bundeswehr (die er befürwortet). Ersteres wurde ihm von Altstalinisten übel genommen, letzteres vor allem von jungen Genossen. Diese Allianz wider Willen sah sich massivem Druck seitens des Landesvorstandes ausgesetzt. In einem zur Klärung der zunehmend verfahrenen Situation anberaumten Gespräch sorgte sich die Landesvorsitzende Petra Pau denn auch mehr um das Bild, das bürgerliche Medien von dem Gerangel um den Kandidaten – und damit von der PDS – zeichnen würden, als um die Bedenken der Kritiker, die der Bezirksvorsitzende Gernot Klemm in einem Offenen Brief als „intolerante Kampagne“ bezeichnete, was ihn dazu veranlaßte, sein Amt zur Disposition zu stellen. Müller wurde am Ende von der Vertreterversammlung wieder nominiert, Gegenkandidaten landeten abgeschlagen auf den Plätzen. Etliche junge Genossen verließen den Bezirksverband Weißensee oder gleich gänzlich die Partei.

Im Wahlbezirk Mitte-Prenzlauer Berg war die Ausgangssituation eine andere: 1994 hatte der Schriftsteller Stefan Heym den Wahlbezirk mit hauchdünner Mehrheit vor dem SPD-Quoten-Ostler Thierse gewonnen. Heym war jedoch schon während der Legislaturperiode aus dem Bundestag ausgeschieden und stand nicht mehr zur Verfügung. Monatelang blieb die Suche nach einem Gegenkandidaten erfolglos: Vorschläge der Kreisorganisation Prenzlauer Berg stießen im Bundesvorstand nicht auf Gegenliebe und umgekehrt. Anfang des Jahres erhöhte der Bundesvorstand den Druck auf den renitenten Stadtbezirk. In immer schnellerer Folge wechselte die Nennung von Namen und das öffentliche Dementi der Genannten. Es wurde offenbar, daß sich der Bundesvorstand in der westdeutschen Provinz nach einem Kandidaten umsah. Im Hessischen glaubte man jemanden gefunden zu haben, der sich jedoch kurz vor Ultimo anders entschied. Dann präsentierte der Bundesvorstand überraschend den Flottillenadmiral a.D. Elmar Schmähling, der sich Anfang der achtziger Jahre in der bundesdeutschen Friedensbewegung einige Meriten erworben hatte. Im Karl-Liebknecht-Haus in der Kleinen Alexanderstraße brüstete man sich mit diesem Coup; Gregor Gysi nahm im ORB für sich selbst in Anspruch, den Admiral zur Kandidatur überredet zu haben. Gysi sagte weiter, man wolle mit dieser Entscheidung „Bewegung in den Wahlkampf“ bringen. Zumindest an der Parteibasis im Prenzlauer Berg war dies dem Bundesvorsitzenden gelungen: es regte sich heftiger Widerstand gegen Schmähling. Den Eingeborenen war nämlich nicht entgangen, das Schmähling seine militärische Laufbahn als Chef des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) der Bundesrepublik beendet hatte. Ein ehemaliger Geheimdienstchef war vielen Genossen im aufmüpfigen Prenzlauer Berg denn doch eine zu große Zumutung.

Ihr Widerstand hätte jedoch nicht vermocht, den Kandidaten zu kippen. In der gemeinsamen Vertreterversammlung der Stadtbezirke Mitte und Prenzlauer Berg, die den Kandidaten bestätigen muß, verfügen die Genossen aus Mitte über sechzig Prozent der Stimmen – und in Mitte war Schmähling als Kandidat des Bundesvorstandes bereits akzeptiert. Daß der Partei dieser Kandidat verlorenging, lag ausschließlich an ihm selbst: Im Rheinland erwartete ihn ein Verfahren wegen betrügerischen Konkurses und deswegen sind ihm etliche Gerichtsvollzieher auf den Fersen. Diese Situation, die viele negative Schlagzeilen erwarten ließ, war dem Bundesvorstand dann doch zu heiß. Man legte Schmähling den Rückzug nahe, den trat er auch an, und heute ist die Landesvorsitzende Petra Pau Spitzenkandidatin in Mitte-Prenzlauer Berg.

Beide Beispiele offenbaren ein Dilemma und mehrere Defizite der PDS. Die unfreiwillige Allianz, in der sich junge Sozialisten mit Altstalinisten in Weißensee wiederfanden, zeigt die Heterogenität der Partei und belegt, daß wenn zwei für oder gegen das selbe sind, sie das noch lange nicht aus den selben Gründen tun. Eine „normale“ Partei könnte das leicht verkraften. In der PDS jedoch gibt es einen latenten Widerspruch zwischen Altstalinisten, die an der DDR hängen, wie sie war, und demokratischen Sozialisten, die entweder den Herbst 1989 als echte Chance für den Sozialismus begriffen hatten und wirklich aufbrachen, weil sie die erstarrten Verhältnisse in der DDR schon lange Zeit von sozialistischen Positionen aus kritisiert und zum Teil bekämpft hatten; oder aber die von sozialistischen Positionen her seitdem zur PDS fanden. Um der Einheit der Partei willen und weil diese Konstellation zu ihren Geburtsfehlern gehört, bemüht sich jede Seite, der anderen nicht allzusehr zuzusetzen. In einem fragilen Gleichgewicht hofft man, der Widerspruch werde sich irgendwann biologisch lösen. Dabei ist man sich innerhalb der Partei durchaus bewußt, daß dieser Schwebezustand sowohl eine Achillesferse in der Auseinandersetzung mit anderen Parteien darstellt, als auch, daß eine Chance vergeben wird, in dem man an ihm festhält. Die Chance nämlich, innerhalb einer sozialistischen Partei über die verschiedenen Wege zum Sozialismus deftig zu streiten und so der sozialistischen Utopie neue Strahlkraft zu verschaffen. Angesichts eines weltweiten Siegeszuges der neoliberalistischen Ideologie (Stichwort „Globalisierung“) wäre das nötiger denn je.

Obwohl man bei dem diesjährigen Theater den Eindruck hätte gewinnen können, die Kandidatenkür durch den Bundesvorstand erfolge nach dem Prinzip der Lostrommel, ist dieser Eindruck falsch. Die Auswahl der Kandidaten folgte einem festen Kalkül, das oben schon kurz benannt wurde: in den Bundestag einziehen, und sich in den Westen ausdehnen. Gerade im Osten Berlins versuchte man, mit der Aufstellung von Kandidaten aus dem Westen dem Umstand Rechnung zu tragen, daß sich die Wählerstruktur durch massive Zuzüge aus dem Westen und massive Abwanderung von Ostberlinern ins Umland gravierend verändert hat. Diese Überlegung ist so richtig, wie sie aktionistisch ist. Denn völlig unter den Tisch fallen dabei zwei grundsätzliche Fragen: muß man sich überhaupt in den Westen ausdehnen; und zweitens: ist es so wichtig, in den Bundestag zu kommen. Ganz nebenbei wird dabei auch die heikle Frage umgangen, was es der PDS wohl gebracht hat, in der letzten Legislatur im Bundestag gesessen zu haben. Alle drei Fragen haben nur scheinbar nichts miteinander zu tun, denn wann immer diese Fragen hochkommen, wiederholt der Bundesvorstand der PDS gebetsmühlenartig, der Einzug in den Bundestag sei wichtig, um sich in den Westen auszudehnen, denn widrigenfalls wäre die PDS dort – qua bürgerliche Medien – nicht präsent. Im Zuge der vergangenen Kandidatenkür wurde die Frage: Bundestag – ja oder nein?, sogar zur Gretchenfrage hochstilisiert: im Falle einer Wahlniederlage prophezeite der Bundesvorstand das baldige Ende der Partei überhaupt.

Viele aus dem zwanzigprozentigem Wählerpotential sehen das ganz anders: Im Bundestag wird die PDS-Gruppe durch Geschäftsordnungstricks von wirksamer parlamentarischer Arbeit ausgeschlossen und die kurzen Auftritte von PDS-Bundestagsabgeordneten vor dem Plenum sind (mit Ausnahme von Gysi und Luft) nicht gerade Beispiele brillanter Rhetorik und Eloquenz. Auch die Hoffnung, durch Anwesenheit im Bundestag würden sich die anderen Parteien schon an die PDS gewöhnen, war trügerisch: auf die erste Legislatur folgte die „Rote-Socken-Kampagne“, vier Jahre später ist es die sogenannte „Rote-Hände-Kampagne“. Der antikommunistische Beißreflex der westdeutschen Konservativen wird nicht erlahmen – wie auch, schließlich ist dieser Reflex grundlegend für den deutschen Konservatismus. Und schließlich: auch nach acht Jahren Mitgliedschaft im deutschen Bundestag liegt das Wählerpotential der PDS im Westen konstant bei 1,5 Prozent.

Dabei ist die PDS mit ganz anderen Anforderungen konfrontiert: In Sachsen-Anhalt toleriert sie eine SPD-Minderheitsregierung, in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern liegt eine solche Tolerierung im Bereich des Möglichen. Um in solchen Konstellationen mitgestalten zu können, müssen die jeweiligen Landesverbände der PDS durchdachte und durchgerechnete pragmatische Modelle auf den Tisch legen. Und sie müssen sich kruder Polemik gegen die SPD enthalten. Daß man sich der Gefahr bewußt ist, als Juniorpartner der SPD über kurz oder lang mit ihr verwechselt zu werden, belegt das jüngste Strategiepapier im PDS-Bundesvorstand. Da die „Rote-Hände-Kampagne“ der CDU offensichtlich auch in der westdeutschen liberalen Öffentlichkeit nach hinten losgegangen ist, sieht sich die Partei schon jetzt mit der Einschätzung bürgerlicher Kommentatoren konfrontiert, bei ihr handele es sich lediglich um eine „Vor-Godesberger“ SPD. Mit populistischen, eklektizistischen und deswegen inhaltlich schwammigen Programmentwürfen wie dem „Rostocker Manifest“ kann dieser Eindruck nicht aus der Welt geschafft werden. Die PDS steht vor der zugegebenermaßen schwierigen Aufgabe, plausibel zu erklären, worin sich unter den Bedingungen der wirklichen Welt demokratischer Sozialismus von Sozialdemokratismus in den Farben der SPD tatsächlich unterscheidet. Und im Interesse einer pragmatischen Landespolitik muß sie dies obendrein tun, ohne ihren potentiellen Bündnispartner, die SPD, nachhaltig zu vergrätzen.

Diese Aufgabe führt unmittelbar zu dem zweiten großen Defizit der PDS, das sich in der Art und Weise der Kandidatenfindung für die Bundestagswahl in Berlin offenbart hat: einem Defizit an innerparteilicher Demokratie. Man muß sich auf der Zunge zergehen lassen, daß sie sich „Partei des Demokratischen Sozialismus“ nennt und damit eine Anleihe bei Rosa Luxemburg macht. Nichts würde die PDS daran hindern in ihrem Inneren, das allein ihrer Regelung unterworfen ist, demokratische Prinzipien weiterzuentwickeln. Indem sie eine zentralistische Partei wie alle anderen bleibt, tut sie dies nicht. Auf die Vorgaben der Bonner SPD-Baracke an die sachsen-anhaltinische SPD reagierten viele SPD-Mitglieder aus dem Magdeburgischen mit der bösen Frage, ob denn wohl das Zentralkomitee aus Berlin nach Bonn umgezogen sei. Wenn schon von Ostidentität die Rede ist – und die PDS redet oft davon -, dann wäre hier ein Anknüpfungspunkt. Entgegen der Meinung vieler linker Splittergruppen befindet sich dieses Land nicht am Vorabend einer proletarischen Revolution: der allseits verhaßte Kleinbürger hat schon vor sechzehn Jahren die Macht übernommen und es ist ihm gelungen, in der Zwischenzeit auch die SPD auf Gartenzwergformat zu stutzen. Der vor unser aller Augen ablaufende Prozeß der Auflösung des Nationalen in supranationalen Wirtschaftseinheiten reproduziert – ebenfalls vor unseren Augen – nationalistische und chauvinistische Reflexe. In den vergangenen acht Jahren haben gerade wir Ostdeutsche erlebt, wie ein ehedem verlachter Topos, nämlich der von der „Nation DDR“, um uns herum – und teilweise mit unserer Hilfe – materielle Gewalt gewann. All diese – hier nur angerissenen – Aspekte mitgedacht, weigert sich die „Partei des Demokratischen Sozialismus“ die Idee der Demokratie weiter zu denken, ihr eine sozialistische Idee hinzuzufügen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist es undenkbar, imperative Mandate beispielsweise in der politische, soll heißen: parlamentarischen Praxis zu installieren. Niemand hindert die PDS jedoch daran, dies nach ihrem Gusto in ihren Binnenbeziehungen – beispielsweise zwischen Kreis- und Landesverbänden oder zwischen Landes- und dem Bundesverband – einzuführen. Indem die Partei in ihrem Inneren wirklich demokratische Verhältnisse herstellte, indem sie in ihrem Inneren eine Modell ausprobiert, von dem die Linke in diesem Jahrhundert immer nur als von einer Theorie gesprochen hat, könnte ihr eine „Westausdehnung“, ein Attraktivitätsgewinn gerade in der atomisierten Westlinken eher gelingen, als mit der Aufstellung „verdienter Kämpfer“ für ihre Wahlschlachten. Würde dies wirklich gewollt, hätte das gesamte Wahlkampftheater um die Kandidatenkür entweder nicht stattgefunden, oder wäre ins Offensive gewendet worden.

Es ist in dieser Ausgabe des „telegraph“ schon darauf hingewiesen worden, daß sich die PDS derzeit an einem Spagat versucht. Letztlich einen Spagat zwischen notwendiger pragmatischer Politik und linken Blütenträumen, von denen man allerdings sagen muß, daß sie hauptsächlich im Westen gereift sind. Die PDS ist strukturell eine westdeutsche Partei, weil sie – in der Nachfolge der SED – eine zentralistische Partei geblieben ist. Ostdeutsche linke Politikmodelle, gerade auch unter dem Eindruck der anarchischen Zeiten zwischen Oktober 1989 und März 1990 entwickelt, haben kaum Einfluß. Aber bevor wir von Hundertsten ins Tausendste kommen …

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